Patrick Berger

Schlechtes Gewissen – ein Leben lang?

Alles begann vielleicht in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts, vielleicht aber ein Jahrzehnt früher oder drei Jahrzehnte später, denn Grausamkeiten finden immer ihren Platz in Raum und Zeit. Raum fand diese Tat in der Wildschönau im heiligen Land Tirol.

 

Josef kam mit seiner Familie erst kürzlich in die Gemeinde mit den vier kleinen Kirchdörfern Niederau, Oberau, Auffach und Thierbach. In der Dorfstube am Eingang der Niederau machte der langsam erwachsen werdende Knabe schnell erste Bekanntschaften und verdiente sich schnell durch ein durchschnittlich gutes Kartenspiel und durchschnittlich gute Trinkfestigkeit einen Platz am Stammtisch. So verbrachte Josef die ersten Tage in seiner neuen Heimat mit seiner Arbeit als Schlosser-Geselle und mit viel Bier an den Abenden und in die Nächte hinein. Aus der größeren Stadt Innsbruck brachte er dabei viel Hass auf alles Fremde mit. Dabei erhob er seine eigene Person gern, indem er wahllos über Juden, Schwarze und sogar Frauen mit Flüchen herzog. Die Zeitungen der breiten Masse schlugen einen ähnlich fremdenfeindlichen Tenor an und von diesem Umstand bestätigt, überlegte Josef selten viel, bevor er seinen Mund wieder allzu weit öffnete.

 

Nach zwei Wochen sollten seine Worte jedoch auf die Probe gestellt werden. Einige bekannte Gesichter aus der Dorfstube tauchten in braunen Hemden auf und nach einigen Bieren und einigen Schnäpsen pochten sie darauf einem unbeliebten Bewohner des Ortes Niederau einen Besuch abzustatten. Er wohnte nur einen Steinwurf von der Stube entfernt und so war der Plan schnell gefasst und die Motivation minderte sich durch den kurzen Fußmarsch nicht. Es sollte dem Juden Philipp eine Lektion erteilt werden.

 

Die vier Gestalten klopften energisch und donnergrollend an die Tür des bescheidenen Hauses. Aus dem Inneren war nur eine verängstigte Mädchenstimme zu hören. Rosi war geistig etwas zurück geblieben und so steigerte jedes Pochen ihre Panik immer weiter, bis sie schließlich angsterfüllt die Türe öffnete, die schon beim nächsten Klopfen zu bersten drohte - wie sie zumindest dachte. Der Alkoholgestank stürmte als erstes den Eingangsraum und die Träger dieses ortsüblichen Dufts folgten bald nach. Der Eingangsraum war bescheiden mit einem kleinen Spiegel, ein paar Haken, an denen dreckige Mäntel hingen, und Arbeitsschuhen am Boden eingerichtet. Die Schnapsfahnen drängten Rosi beinahe physisch in die Stube zurück, wo sie von dem stabilen Holztisch gestoppt wurde, auf dem ihr Hintern nun verharrte.

 

Der spärlich verzierte Bauernkassen zittert und lässt das Geschirr darin klirren, als die Männer in den Raum stampfen. Sie sehen sich um, aber erblicken niemanden in der Stube außer die leicht verwirrt wirkende Rosi, die mit ihren Arschbacken um den Tisch wie eine Jagdbeute wirkt, die in die Ecke gedrängt wurde. Zwischen Schlücken aus den mitgebrachten Flaschen ergeben sich die Eindringlinge in wilden Beschimpfungen über die Bewohner dieses Hauses. Unter all die Verwünschungen mischt sich plötzlich eine dieser furchtbaren Ideen, die manchen Männern kommt, wenn vor ihnen ein hilflos scheinendes Mädchen mit üppigen Brüsten erstarrt auf der Kante eines Tisches sitzt. Der Alkohol erhöht die Chance einer solchen Idee. Diese dreiste Fremde soll mit ihrer Würde für ihr Eindringen bezahlen. Josef wird von seinen Begleitern zum Äußersten angestachelt.

 

In seiner Ehre als Wortführer herausgefordert überschreitet der junge Josef mit jedem Schritt auf Rosi zu eine Grenze. Sie wehrt sich kaum und die leicht beschämten Begleiter verziehen sich in die Küche auf der Suche nach Nachschub für ihre fließenden Gelüste. Rosi lässt sich bereitwillig ihre Brüste aus dem engen Gefängnis des Dirndl reißen. Durch diese neuentdeckte Freiheit und die harten Stöße von Josef motiviert wackelt der Busen hin und her und auf und ab. In seinem Rausch merkt er kaum die mangelnde Gegenwehr und Josef muss Rosi nur einmal eine Ohrfeige verpassen als sie ihm aus Ekel oder Lust in den Unterarm beißt.

 

Kurz nachdem dieses abscheuliche Treiben zumindest einen Höhepunkt findet, stürzt Philipp in den Raum. Er beginnt Josef anzuschreien und mit einem Jagdgewehr auch Taten anzudrohen. Der Vergewaltiger dreht sich totenblass herum und dann passiert alles innerhalb von Sekunden. Einer von Josefs Mitstreitern stürmt aus der Küche und rempelt Philipp zu Boden. Das Gewehr fällt Josef vor die Füße und er nimmt es auf und sein Aufschrei „Drecksjude“ übertönt fast den Knall des Schusses. Rosi flüchtet aus dem Zimmer und aus der Richtung der Dorfstube stürmen Schritte heran. Philipp wendet sich am Boden hin und her, um plötzlich reglos auf dem Bauch, wo der Schuss hin zielte, liegen zu bleiben. Josef wird plötzlich klar, wohin sein blinder Hass geführt hat und dieses aufkommende schlechte Gewissen, sollte sich sehr bald sehr körperlich manifestieren. Junge Bauernburschen stürmen von dem Knall alarmiert aus der Steinwurf-entfernten Stube heran und als sie Philipp am Boden sehen und den Neuen im Dorf mit einem Gewehr in der Hand, nehmen sie das Recht gleich selbst in ihre rauen Pranken. Dumpfe Schläge richten Schäden an Josef an, die ihn sein Leben lang begleiten werden.

 

Nach dem Krankenhaus Aufenthalt kehrt Josef mit seiner Familie direkt nach Innsbruck zurück und so bleibt ihnen lange Zeit verborgen, dass Philipp nie das war, was Josef glaubte er würde sein.

 

Viele Jahre später leidet Josef immer noch unter den Folgen dieser einen unüberlegten, betrunkenen Nacht. Er hinkt beim Gehen, kann laut seiner Aussage nichts Schweres heben und folglich rein aus physischen Gründen seinen Beruf als Schlosser nicht mehr ausführen. Er fiel seiner Familie nur mehr zur Last und rutschte immer weiter und weiter in die Rolle eines Pflegefalls hinein. Die dauernden Schmerzen zerstörten jeden Antrieb in Richtung Karriere oder gar Glück. Josef verbrachte seine Vormittage im Bett, seine Nachmittage zuhause und seine Abende in Gesellschaft von vielen Flaschen – braune Flaschen für das Bier, grüne und weiße Flaschen für den Schnaps. Die nächste große Belastung für Josefs Familie war seine Verschwiegenheit, denn er wollte niemandem die Wahrheit über diese Nacht erzählen. Es blieb im Dunkeln was passiert was, wer ihn so zugerichtet hatte oder warum solche Bombenkrater auf seinem Körper hinterlassen wurden. An einem 30. April fasste er den Mut für eine Tat, die im Normalfall mehr als egoistisch ist, aber dieser Selbstmord nahm wirklich eine finanzielle und soziale Last von Josefs Familie.

 

Am Tag des Begräbnis, an dem nur wenige Leute teil nahmen, machte eine geschlagene Gestalt ihre trüben Runden um die Friedhofsmauern in Amras. Als die verdiente Ruhe rund um die Toten eingekehrt war, traut sich Philipp weinend an das Grab.

„Ich war nie was du gedacht hast! Wir wollten doch nur deine ständigen Hassreden stoppen... meiner Schwester Rosi wird in der ganzen Wildschönau von der anderen Straßenseite nachgerufen, ob sie Zeit für einen Fick hat und sie hatte ohnehin ein Auge auf dich geworfen... sie war mit ihrem getrübten Geist ohnehind er Verzweiflung nahe... die wütenden Bauern waren einfach nicht eingeplant.... Ich bin in der Wildschönau geboren und habe dort immer fleißig die Kirche besucht, aber die Verwirrungen über diese Zeit und schlechte Gewissen hat auch mich mein Leben lang geplagt und wird mich noch lange über deinen Tod weiter verfolgen... vielleicht ist das die gerechte Strafe!“

Philipp verblieb noch eine Weile stumm an dem Grab, um sich dann in die Richtung des Friedhofsausgangs zu bewegen.

 

Als sich Philipp umdreht, erschreckt er vor einer Frau, die hinter ihm steht. Josefs Cousine Anna schaut ihn aus wütenden Augen an, die ohne den Schleier aus Tränen vielleicht tödlich wären.

„Ab welchem Punkt hättest du das stoppen können? Weißt du wie viele Leben du damit zerstört hast, wie viel Kummer du über unsere ganze Familie gebracht hast. Welch ein perverser Werk konnten seine hasserfüllten Worte begründen, das so viele Schuldgefühle im armen Josef ausgelöst hat, dass er kaum noch seinen Mund öffnen konnte, wenn er nicht Bier rein schütten wollte. Was für eine Bestie bist du eigentlich, dass du jetzt wo es zu spät ist plötzlich hier an seinem Grab stehst und dir Vergebung erwartest?“

Anna schafft es gar nicht mehr sich aus ihrem Redeschwall der Empörung und wachsenden Verzweiflung zu befreien.

Bis Philipp mit bestimmtem Ton unterbricht: „Dein lieber leidender Josef war der Meinung ein hilfloses Judenmädchen zu vergewaltigen und einen anderen Juden erschossen zu haben. Vielleicht hat ihn diese Schuld mehr geschwächt, als jede Verletzung. Meine Schuld besteht darin diese Illusion nicht von ihm genommen zu haben. Sag mir, wer hat mehr schlechtes Gewissen verdient?“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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