Brigitte Lörgen

Meine Reise

Meine Reise war eine lange, sehr lange Reise. Wenn man bedenkt, dass ich aus dem Dorf in dem ich geboren wurde bis dahin niemals rausgekommen bin. Ja gut, ich bin schon einmal oder zweimal weggelaufen, ich habe mich aber nie verirrt und habe immer wieder zu ihm nach Hause gefunden, obwohl ich wohl noch ziemlich klein und jung war. Diese Reise wollte ich gar nicht, sie war, wie sagt man so schön, fremdbestimmt. Als es passierte war ich schon nicht mehr so klein und jung und hatte schon allerlei Erfahrungen hinter mit. Nachher hörte ich, dass die Reise ungefähr 2000 km lang war. Wie es so genau ablief kann ich gar nicht sagen. Es wurde einfach über mich bestimmt. Aber ich will von vorne anfangen.
 
Geboren wurde ich in einem kleinen Dorf. Dort war das Wetter immer schön und wenn ich immer sage, dann war es auch immer schön. Die Sonne schien jeden Tag. Ab und an gab es Regen, aber das war nur kurz. War ich draußen beim spielen dann lief ich ganz schnell irgendwo in einen Schuppen oder unter ein Vordach, versteckte mich und wartete den Regen ab. Wasser war nie mein Ding, obwohl dieses Dorf am Meer lag. Überlege ich es mir jetzt, ging es mir damals nicht so gut. Aber ich kannte es ja nicht anders. Was man nicht kennt vermisst man auch nicht. So jung wie ich war dachte ich immer es müsste alles so sein. Denn auch von meinen Spielkameraden hörte ich nichts anderes, denen erging es so wie mir oder sogar noch schlechter. Manchmal zogen wir los an den Strand, um dort die Gegend unsicher zu machen. Einige von denen waren ganz ekelhafte Typen, die mir das Leben schwer machten, weil ich so klein und zart war und ich mich anfangs nicht so gut wehren konnte. Nachher entwickelte ich eine Taktik, um mir die Unangenehmen vom Hals zu halten. Mit denen, die auch so zart wie ich waren, habe ich mich verbrüdert und wenn wir dann als Gang aufgetreten sind, haben wir die größeren und stärkeren immer geärgert. Da ich sehr schnell war haben die mich selten gefangen. Nur einmal ging das in die Hose, d.h. einer hat mich am Ohr erwischt, festgehalten und dann kräftig reingebissen. Ich habe geschrien wie am Spieß, doch der wollte nicht von mir ablassen. Irgendwie habe ich es aber doch geschafft. Nun ja, ich bin schon eine Kämpferin und hart im Nehmen. Das sagt auch mein heutiger Hausarzt. Aber das mit dem Doktor ist eine andere Geschichte, die erzähle ich vielleicht später.
Das ich so dünn war lag daran, dass er mir kaum zu essen gab. Deshalb bin ich immer wieder ausgebüxt, um mir irgendwo irgendwas zu erbetteln. Ich habe mich dann vor ein Hotel oder vor Leute, die Urlaub am Strand machten, hingehockt und sie stumm angesehen. Wenn ich Glück hatte waren sie nett zu mir und haben mir etwas gegeben. Es war mir auch egal was es war. Wenn einem vor Hunger so der Magen knurrt isst man alles. Oft war mir schlecht, aber mir blieb ja nichts anderes übrig als alles anzunehmen, wenn es zu Hause nichts gab. Sie haben auch ab und an mit mir gesprochen, ich habe aber nie ein Wort gesagt, nur meine Augen ganz groß und auf hungrig gestellt, aber ich hatte eben kein Glück. Sie haben mich beschimpft und nach mir geschlagen. Dann bin ich ganz schnell weggelaufen, so schnell mich meine dünnen Beine tragen konnten. Ab nach Hause, in der Hoffnung er wartet vielleicht schon auf mich.
Zu ihm hatte ich eine besondere Beziehung, obwohl er manchmal gut zu mir war gab es Tage, da war er überhaupt nicht nett zu mir. Aber wie gesagt, ich kannte es nicht anders und es tröstete mich ein wenig, dass es meinen Freunden ähnlich erging. Was soll man immer klagen, man muss mit dem zurechtkommen, was man hat und was man hat, das weiß man. Damals konnte ich mir auch kein anderes Leben vorstellen. Ein Land - heute ist es in einer schweren Krise, aber damals konnte ich noch nicht so weit denken – in dem fast immer die Sonne scheint, wo so schöne Olivenbäumchen wachsen, in deren Schatten ich oft lag, döste oder einfach nur in den Himmel schaute. Schön war es schon. Aber ich schweife schon wieder ab. ER war ziemlich alt und ich merkte in letzter Zeit, dass er doch ziemlich gebrechlich wurde. Es gab Tage, da konnte er morgens nicht aufstehen und es wurde von Zeit zu Zeit immer schlimmer. Manchmal dauerte er mich, obwohl er so seine Eigenarten hatte. Früher ist er oft mit seinem Käppi auf dem grauen Haar mit dem Fahrrad gefahren, aber das konnte er dann nicht mehr. Ich versuchte mich immer, wenn er Schmerzen hatte und gebückt mit seinem Stock durch das Haus schlurfte, ganz klein zu machen, damit er mich nicht sah.
Meine Mama war eine ganz liebe, leider starb sie, ich war noch nicht einmal ½ Jahr alt. So genau kann ich mich an die erste Zeit nicht mehr erinnern. Also nahm mich der Alte damals zu sich ins Haus. Oft nahm er mich mit auf die Jagd und wollte, dass ich ihm helfe. Ich tat was ich konnte, aber das war ihm meist nicht genug und oft schimpfte er mit mir. Ich wäre ein unnützes Ding, so stur, hätte alles im Kopf nur nicht ihm zu helfen. Ich hätte ihm gerne geantwortet, aber ich konnte doch nicht, hätte ihm gesagt, dass ich gerne mit ihm in die Berge ging, gerne an seiner Seite bin.
Das einzige was ich konnte, war ein klägliches Winseln. Ich wollte ihm ja nicht zu Last fallen, weil er mich doch in sein Haus genommen hat, ja ich war ihm sogar dankbar, was wäre sonst aus mir geworden? In der nächsten Zeit wurde er immer griesgrämiger, weil er immer kränker wurde. Aber ich versuchte, ihm zu helfen und ließ ihn nicht allein. So vergingen die ersten Jahre und ich wurde – das muss ich schon mit Stolz sagen – ein hübsches junges Mädchen mit schwarzen Haaren und schönen, klugen brauen Augen. Der eine oder andere Bursche schaute mir schon anerkennend hinterher. Es kam wie es kommen musste, ich wurde schwanger. Und das nicht nur 1 x. Ich versuchte so gut ich konnte, für meine Kinder Nahrung zu beschaffen, aber ich war ja selbst so dürr und es wurde immer schwieriger. Manches Kind wurde mir einfach weggenommen. Ich habe gesucht und gesucht – ich habe es nie wiedergesehen. Wie naiv und gutgläubig ich war.
Eines Tages rief er mich, übrigens nannte er mich immer die schöne, kleine Schwarze. Ich freute mich sehr, denn ich glaubte, er macht einen Ausflug mit mir. So hüpfte ich fröhlich neben ihm her. Aber es ging nicht in die Berge sondern in Richtung Stadt. Plötzlich bekam ich Angst, scheußliche Angst. Er brachte mich zu einer Einrichtung, die sich um Verwaiste kümmerte. Was soll ich da, ich habe doch ein zu Hause?
Als wir dort ankamen waren da einige Leute deren Sprache ich überhaupt nicht verstand. Er sagte denen, er wolle mich dalassen, weil ich alles mache, nur nicht das was er sagt. Warum sagt er so etwas, ich war doch immer an seiner Seite, um ihm zu helfen. Ich will hier nicht bleiben! Ich versuchte noch, mich an ihm festzuklammern und da merkte ich plötzlich, dass es ihm nicht leicht fiel, sich von mir zu trennen.
Dann ging er, langsam, schwerfällig und auf seinen Stock gestützt. Ich wollte ihm hinterher schreien, bitte nimm mich mit, aber es kam kein Ton aus meiner Kehle.
Die fremden Personen pferchten mich in ein kleines Zimmer, es war mit vielen unterschiedlichen Fliesen gekachelt. Was soll ich hier?
Dann folgten Wochen, die mich nur noch verwirrter machten. Es gab ärztliche Untersuchungen, Spritzen und sogar eine Operation musste ich über mich ergehen lassen. Kurzum, ich habe um den Alten sehr getrauert und oft in einer Ecke des Zimmer gekauert und nachgedacht, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Zu einem Schluss kam ich nicht. Ein Tag nach dem anderen verging, die regelmäßigen Mahlzeiten waren der einzige Lichtblick und das ich nicht geschlagen wurde. Langsam nahm ich auch etwas an Gewicht zu, aber ich wog immer noch viel zu wenig für mein Alter und die Größe. Die Leute bemühten sich sehr um mich, aber irgendwie hatte ich Sehnsucht nach dem Alten und wollte nur noch weg. Nach Hause. Mit den anderen Verwaisten, die hier waren verstand ich mich überhaupt nicht gut, bis auf ein paar jüngere und kleinere, die waren in Ordnung.
Es war an einem Tag im Januar als plötzlich Hektik aufkam. Es rollten mehrere kleine Lkws auf den Hof, Leute stiegen aus und hatten Listen in den Händen. Einige von uns wurden in diese Autos gepackt. Ich war als vorletzte dran. Was wird das, wollte ich fragen. Dann ging es auch schon los, über holperige Wege, dann schneller über Straßen, bis wir in eine große Stadt kamen und an einem riesigen Platz hielten. Wir wurden alle weiter verfrachtet und ich wusste nicht was mit mir passiert. Ich hatte schon wieder große Angst. Es war höllisch laut und obwohl ich nicht sprechen kann, hören konnte ich sehr gut.
Was soll ich sagen, es war die Hölle und ich versuchte, zu entspannen und an das kleine beschauliche Dorf zu denken – und an den Alten. Irgendwann rumpelte es wieder kräftig, ich machte nur noch die Augen zu und schon ging es weiter. Ich wurde hin und her gestupst, gezogen und geschoben, dann nahm mich jemand in Empfang, der meine Sprache sprach. Uiiih dachte ich, es geht zurück ins Dorf, doch ich landete wieder in einem Auto. Dann wurde es mir kalt, eisig kalt. Ich war nahe dran aufzugeben. Nachdem ich meine Gedanken geordnet hatte, brach die Neugierde durch und ich wollte doch sehen, was jetzt kommt. Ich kam wieder in ein Heim, allerdings hatte ich Glück, eine von unserem Dorf, die Nikiti, kam mit in mein Zimmer. Nicht unbedingt meine Freundin, aber eine Vertraute von daheim. Das nächste Problem kam auch schon, die Sprache. Alle brabbelten etwas, was ich nicht verstand, aber zum Glück gab es 3 Mahlzeiten am Tag und so hatte ich erst einmal damit zu tun, mich voll zu stopfen und mich auszuruhen, denn ich war völlig fertig.
14 Tage war ich hier und erholte mich langsam. Da kamen 2 Frauen in mein Zimmer. Neugierig wie ich war schaute ich sie mir genau an, dann wagte ich es und sprang auf sie zu. Verstehen konnte ich sie nicht, aber ich hatte den Eindruck, dass sie mich mochten. Sie wollten mich zu einem Spaziergang mitnehmen. Endlich hier raus, dachte ich, aber sie brachten mich leider wieder zurück. So ging das 1 Woche lang. Irgendwie war ich enttäuscht, wollte auch was sagen und habe zum ersten Mal richtig bereut, dass ich nicht sprechen kann.
Ich weiß es noch genau, es war an einem Samstag. Im Heim lief dann immer alles anders ab als sonst. Die zwei Frauen  erschienen wieder. Wir machten einen Spaziergang mit mir, aber dann packten sie mich plötzlich, setzten mich in ein Auto und fuhren los. Autofahren kannte ich ja schon von meinen früheren Exkursionen, die immer wieder was Neues brachten, aber ob das diesmal auch gut war? Wir fuhren eine Weile und dann gingen wir in ein Haus, dort musste ich eine Treppe gehen, was ich überhaupt nicht wollte, weil ich schon wieder panische Angst hatte. Was kommt jetzt schon wieder? Ich hatte die schlimmsten Befürchtungen. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Kurzum, in diesem Haus lebe ich jetzt schon seit gut drei Jahren. Bin mittlerweile älter, reifer, nicht weniger neugierig und nicht weniger temperamentvoll, aber ich möchte behaupten noch sturer geworden. Mein lackschwarzes Haar ist von vielen grauen Härchen durchzogen, doch was soll’s, mich stört es nicht.
Mir geht es gut, habe zugenommen, bekomme regelmäßig meine Mahlzeiten gebracht, brauche mich um nichts kümmern, werde ständig betüddelt, gekämmt und gepflegt, was ich übrigens genieße.
Aber das schönste ist, wenn wir alle zusammen in den Wald gehen, dann kann ich laufen und schnüffeln und evtl. eine Hasenspur aufnehmen. Sind wir dann wieder zu Hause, bekomme ich mein Mahl und begebe mich dann zu einem Schläfchen in mein eigenes, weiches, warmes Kuschelkörbchen auf meine Luxusdecke.
 
Die erste Zeit auf meinen Spaziergängen dachte ich oft, der da auf dem Fahrrad, das muss der Alte sein. Aber er war es nicht. Auch hier gibt es Leute, die sprechen griechisch mit mir. Dann denke ich wieder an mein Dorf Nikiti (wie der Name meiner Zimmergenossin), aber das geschieht nur noch ganz selten. Das einzige Problem, dass ich hier habe ist das Wetter. Oft so kalt und vor allem nass, doch dagegen wird mir ein Mantel angezogen. Nicht so toll, aber mein seidiges schwarzes Haarkleid ist so fein und ihr wisst ja, ich hasse Wasser. Na ja, ab und an, wenn ich Lust darauf habe, gehe ich schon –aber nur mit den Füßen- in den Bach. Dann muss es aber schon ziemlich heiß sein. Zu Beginn unserer Wohngemeinschaft musste ich schwer an meinem Benehmen arbeiten und auch heute noch gehen dann und wann die Esel mit mir durch, aber ich gebe mir Mühe nicht allzu frech zu sein, denn jedes Wesen hat seine Bestimmung, seinen Weg und sein Ziel.
Das Leben ist herrlich, ich habe ein neues zu Hause. Welch ein Hundeglück!
 
(Khedira, ein griechischer Jagdhund)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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