Antje Grüger

Das gelbe Stiefmütterchen

- ein kleines Märchen


Es war einmal ein kleines Stiefmütterchen, das wuchs auf inmitten eines grossen Blumenbeetes. Eines Tages, die Mittagssonne lachte vom Himmel herab, das hörte das kleine Stiefmütterchen neben sich eine Stimme:

"Sag mal, wie siehst DU denn eigentlich aus?"

Das kleine Stiefmütterchen blickte sich um, sah aber nichts ausser vielen anderen Blumen, die auch auf dem Blumenbeet wuchsen. Und wieder tönte es mit unverkennbar vorwurfsvollem Ton aus dem Blumenmeer hervor:

"Du bist ja GELB!"

Das kleine Stiefmütterchen schaute an sich herunter, ja, es war gelb - na und? Und es drehte ein wenig sein Gesicht zur Seite und erblickte dicht neben sich ein violettes Stiefmütterchen, das es unverhohlen anstarrte.

"Hast Du mich gerade angesprochen?" fragte das gelbe Stiefmütterchen.

"Ja. Weißt Du, dass Du gelb bist?"

"Ja. Warum?"

"Nun, siehst Du nicht, dass wir alle violett blühen?"

Etwas verunsichert schaute das gelbe Stiefmütterchen nochmals an sich herunter und liess dann einen inzwischen etwas scheuen Blick über das Blumenmeer gleiten.

"Ja, ich blühe gelb.... Aber das macht doch nichts, oder?"

"Aber Du siehst doch hoffentlich ein, dass es falsch ist, gelb zu blühen, violett ist die richtige Farbe!"

Bei diesen Worten nickten die anderen violetten Stiefmütterchen beifällig mit den Köpfen:

"Jawohl! Du musst violett sein! Wenn Du nicht schleunigst Deine Farbe änderst, dann bekommst Du kein Sonnenlicht mehr, denn die Sonne liebt nur violette Stiefmütterchen, und deshalb scheint sie nur für violette Stiefmütterchen."

Das gelbe Stiefmütterchen wurde ganz still und senkte den Kopf.

"Aber ich brauche doch das Sonnenlicht um zu wachsen und gedeihen..."

"Ja, eben!" kam die Antwort. "Deshalb ändere schnell Deine Farbe, damit Du das Sonnenlicht auch verdienst!"

Das gelbe Stiefmütterchen wurde ganz nachdenklich, aber je mehr es darüber nachdachte, wie es seine Farbe ändern konnte, desto verzweifelter wurde es, und bald flossen die Tränen aus seinem kleinen Gesicht. Es schaute für den Rest des Tages immer und immer wieder furchtsam zur Sonne hinauf und bekam immer grössere Angst bei dem Gedanken, dass die Sonne ihm ihr Licht, ihre Wärme, entziehen würde. Bald würde die Sonne, so wie immer, untergehen, und vielleicht schon morgen früh, wenn sie von neuem ihre Strahlen versenden würde, nur keine mehr zum ihm, dem kleinen Stiefmütterchen, weil es gelb blüht, die falsche Farbe.... Die Nacht brach herein, die Sterne fingen an, geheimnisvoll am Himmel zu blinken, der Mond schien mit silbernem Licht. Das gelbe Stiefmütterchen weinte immer noch tonlos vor sich hin, da es ja nicht wusste, wie es seine Farbe ändern sollte, keiner hatte ihm gesagt, wie das ging, und keiner hatte ihm gesagt, warum eigentlich gelb die falsche und violett die richtige Farbe sein sollte.

Stunden vergingen. Langsam brach schon die Morgendämmerung an, der Sonnenaufgang kündigte sich an. Das gelbe Stiefmütterchen fing jetzt an zu schluchzen.

"Warum weinst Du?"

Das gelbe Stiefmütterchen zuckte erschrocken zusammen und schaute sich furchtsam um.

"Warum bist Du so traurig, was ist geschehen?"

Eine kleine rote Tulpe, die ein Stück weiter entfernt von ihm wuchs, beugte sich ein wenig zu ihm hinüber. Das gelbe Stiefmütterchen schaute die kleine Tulpe an, die jetzt, im Licht der Morgendämmerung in einem noch intensiverem Rot leuchtete.

"Ich werde sterben!"

"Warum? Du siehst doch ganz gesund aus?"

"Ja, aber bald bekomme ich keine Sonne mehr. Dann werde ich zugrundegehen."

"Warum solltest Du keine Sonnenlicht mehr bekommen?"

"Weil ich gelb blühe...." flüsterte das Stiefmütterchen fast tonlos, die Tränen rannen ihm noch immer übers Gesicht.

"Ja und? Das macht doch nichts!"

"Die richtige Farbe aber ist violett, und ich bin also falsch!"

"Aber Du bist doch ein gelbes Stiefmütterchen, und Du tust keinem etwas zuleide. Und schau mich an, ich blühe rot!"

"Dann hast Du auch die falsche Farbe und wirst sterben!"

"Nein, gewiss nicht. Glaube mir, wir sind alle Blumen und die Sonne liebt uns allesamt, egal wie wir aussehen! Die Sonne scheint für uns alle, sie schenkt uns ihr Licht und wir leben von diesem Licht. Hab keine Angst, fürchte Dich nicht."

Das gelbe Stiefmütterchen schaute die kleine rote Tulpe an, die immer mehr anfing im Licht der aufgehenden Sonne zu leuchten.

"Bist Du sicher? Die violetten Stiefmütterchen sagen, ich verdiene keine Sonne, weil ich anders blühe!"

Es herrschte ein kurzes Schweigen, dann neigte die Tulpe ihren Kopf noch ein Stück näher zu dem gelben Stiefmütterchen.

"Spürst Du es nicht?" Die kleine rote Tulpe lächelte.

"Was meinst Du?"

"Die Sonne ist aufgegangen..."

Das gelbe Stiefmütterchen schaute zum Himmel auf, wo die Sonne ihre ersten Strahlen verschickte, und das Licht fiel auf das ganze Blumenbeet.

"Höre nicht auf die violetten Stiefmütterchen, wenn sie Dir wieder Angst machen, nur weil Du nicht so blühst wie sie. Spüre einfach das Licht und die Wärme, die Dir die Sonne schenkt und vertraue, dass sie immer scheinen wird, auf alle Blumen, und nicht nur auf die Blumen auf diesem Beet. Die Sonne scheint auf uns alle hernieder, sonst wären wir nicht am Leben, denn ohne Licht und Wärme hätten wir gar nicht aus dem dunklen Boden heraus wachsen können. Die Sonne schenkt uns allen ihr Licht, und keine Blume kann sagen, sie hätte es mehr verdient als eine andere."

Die Sonne stieg hoch am Himmel auf, die Vögel fingen an zu zwitschern, und die Blumen reckten ihre Köpfe gen Himmel. Das gelbe Stiefmütterchen schaute zaghaft lächelnd ins Licht und sagte: "Guten Morgen, liebe Sonne!"

Und die Sonne schaute dem gelben Stiefmütterchen liebevoll ins Gesicht und lächelte voll Güte zurück.

(c) 2002 by Antje Grüger

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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