Christiane Mielck-Retzdorff

Perfekt geregelt



 
Es war 20 Uhr und die junge Frau stand in ihrer Küche vor einem Schrank aus Edelstahl. In einen dafür vorgesehenen Spalt legte sie ihren Finger, womit sie sich nicht nur identifizierte sondern auch einige ihrer Körperfunktionen gemessen wurden. Dabei stand sie auf einer, im Fußboden eingelassenen Waage, die zusammen mit dem Scanner an der Tür ihr Gewicht, die Verteilung und den Umfang der Fettzellen maß. Bald würde sich eine kleine Tür des Multifunktionsgeräts öffnen und ein Tablett mit ihren Abendessen freigeben.
Helen hatte riesigen Appetit auf Schokolade, wusste aber nicht einmal, ob sich diese Köstlichkeit in dem Schrank befand. Der Einkauf erfolgte genau auf ihre gesundheitlichen Bedürfnisse abgestellt elektronisch. Was das Gerät für notwendig erachtete, wurde von einem Arbeitsroboter geliefert, denn auch die Wohnungstür öffnete sich wenn notwendig per Funksignal. Alle Nahrungsmittel und Getränke konnten jeweils bei der erforderlichen Temperatur in dem Schrank gelagert werden, der sie dann bei Bedarf herausgab oder auch nicht.
Die junge Frau hatte einen anstrengenden Tag in der Kinderbetreuung hinter sich. Zwar hätte sie nach vollendeter Schulausbildung lieber in einem Büro gearbeitet, aber ein Test bescheinigte ihr damals soziale Kompetenz, was sie für den Umgang mit Menschen prädestinierte. Wenigstens war sie nicht in ein Pflegeheim verbannt worden. Doch die ständige Fröhlichkeit, die Agilität und der Lärmpegel im Umfeld der Kinder belasteten sie. Deren Spiel im Sandkasten, mit Bauklötzen und Kuscheltieren kamen ihr außerdem vollkommen weltfremd vor. War es nicht viel wichtiger, schon die Kleinsten an den Umgang mit Computern heranzuführen?
Die Tür des Schrankes öffnete sich und heraus kam ein Tablett mit einer Scheibe Vollkornbrot, die einem sandigen Kiesbett mit braunen Körnern glich, einer kleinen Packung cholesterinarmer Margarine, einer Scheibe magerem Schinken, dem sie ansah, dass er niemals Teil eines Schweines gewesen war,  einem Apfel und einem Glas fettarmer Milch von Kühen, die in vollklimatisierten Ställen mit genmanipuliertem Futter ernährt wurden. Leider wieder keine Schokolade. Appetitlos verspeiste sie die Mahlzeit.
Nun wäre es eigentlich Zeit, auf dem Smartphone ihre Sozialkontakte zu pflegen, aber sie fühlte sich unerträglich müde. Das Bett durfte sie noch nicht aufsuchen, denn das würde zu so einer frühen Stunde sogleich eine Nachricht an ihren Arbeitgeber nach sich ziehen. Schon in der letzten Nacht hatte sie schlecht geschlafen und sich ganz darauf konzentriert, dass dieses unbemerkt blieb. Wälzte sie sich zu sehr umher, würde ihr Bett das registrieren und dieses Zeichen von Unruhe oder Schlaflosigkeit sofort melden. Also hatte sie bewegungslos auf dem Rücken gelegen und versucht an etwas Schönes zu denken. Doch sobald sie die Traumwelt betrat, türmten sich Berge köstlicher Schokolade vor ihr auf. Wollte sie danach greifen, befahl der Verstand ihr sofort, ruhig zu liegen.
Ihre, durch den Lärm in der Kindertagesstätte strapazierten Ohren, wollte keine Musik hören und auch nach dem Bildungsprogramm, das den ganzen Tag auf ihrem Laptop zur Unterhaltung lief, stand der jungen Frau nicht der Sinn. Sie ging ans Fenster und schaute auf die anderen Hochhäuser in der Stadt. Kaum Leben zeigte sich dort. Wenige, durch Satelliten gesteuerte Auto bewegten sich auf der Straße. Eine Gruppe von Fahrradfahrern zog vorbei. Helen hatte Lust mal wieder Sport zu treiben, aber die körperliche Anstrengung durch ihren Beruf hielt sie davon ab. Auch die Messungen ihres Muskelgewebes hatten keine Notwenigkeit zur körperlichen Ertüchtigung ergeben.
Eigentlich genoss sie die Stille und die Untätigkeit, doch sie spürte Unzufriedenheit in sich aufsteigen. Noch gut eine Stunde, dann musste sie schlafen gehen, um morgens um 6 Uhr wieder fit für die Arbeit den Tag zu beginnen. Doch sie fürchtete sich davor, erneut keine Ruhe zu finden. Sie durfte in ihrem Arbeitgeber, von dem sie nicht wusste, ob es ein Mensch oder eine Maschine war, nicht den Verdacht aufkeimen lassen, sie wäre ihren Aufgaben nicht gewachsen. Zu viele Menschen fanden überhaupt keine Arbeit, also sollte sie sich glücklich schätzen.
Missmutig griff Helen zu ihrem Smartphone und sichtete die Nachrichten von Männern, mit denen sie sich über ein Partnerschaftsportal in Verbindung gesetzt hatte. Die meisten von ihnen sahen gut und gesund aus, aber was sie schrieben, klang langweilig. Die ewig gleichen schmeichelhaften Worte, die letztlich nur darauf abzielten, Sex mit ihr zu haben. Das wäre zwar mal eine Abwechslung, aber ihre Sehnsucht nach Gefühlen wurde damit nicht befriedigt. Warum äußerte keiner dieser Männer mal einen revolutionären Gedanken wie den Wunsch nach einer hemmungslosen Fressorgie oder lud sie zu einem Waldspaziergang ein? Doch beides waren eher Phantasien als realistische Vorstellungen. Das eine war ungesund und das andere stand unter Schutzbestimmungen, die einem strengen Genehmigungsverfahren unterlagen.
Aus ihrer Kindheit kannte Helen noch Fotos von Menschen auf gelben Sand am Meer, von denen einige sogar ohne Rücksicht auf das sensible Gleichgewicht der Natur im Wasser schwammen. Solche Bilder waren aber aus den Medien gänzlich verschwunden. Ausschließlich für das Training und sportliche Wettkämpfe gab es in großen Städten Hallenbäder, die nur wenigen Auserwählten zugänglich waren.
Draußen wurde es dunkel, weil sich die Straßenbeleuchtung und die Reklame automatisch abstellten. Durch das Fenster blinkte von Ferne ein Stern. Ob sich wohl um diese Sonne auch ein Planet drehte, auf dem Wesen lebten, die in Flüssen badeten, über grüne Wiesen rannten und saftiges Fleisch mit Fett Rand über offenem Feuer grillten? Angeblich sollte es all dieses auch auf der Erde geben aber nur in Gegenden, in denen primitive Völker ohne den Segen der Zivilisation lebten. Kein fließendes Wasser, kein Strom, kein Laptop, keine Gesundheitsfürsorge und keinen Kontakt zur Außenwelt. Nein, so wollte Helen nicht leben. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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