Ewald Frankenberg

8. Mai 1995

Ein tief ausgetretener breiter Weg führt aus dem steinernen Stadttor hinaus, direkt an den
schmalen hellen Sandstrand, der sich – durchsetzt von großen Felsbrocken – um die Bucht
zieht; an der einen Seite geleckt vom grün schimmernden Meer, an der anderen Seite
eingefasst von der hohen, wehrhaften, bruchsteinernen Stadtmauer, die im Mittelalter die
Stadt erfolgreich vor Piraten und kriegerischen Seefahrernationen zu schützen wusste.

Heute sind es mehr die Touristen, welche die Stadt heimsuchen und mit ihrem Besuch
den Erhalt der Mauer gewährleisten, die längst zum Weltkulturdenkmal erhoben wurde.

Im Torbogen bleibe ich stehen, um den Ausblick auf die sich im eleganten Bogen hin ziehende
Festungsmauer mit dem Strand und dem Meer auf mich wirken zu lassen. Andere Menschen
ziehen an mir vorbei, sich freundlich grienend zu dem kleinen Jungen umdrehend, der den
Ausritt auf meinen Schultern genießt.

In den letzten Tagen lag das Meer still und bewegungslos in der Sonne, heute rollt es bei
steigender Flut heftiger gegen die Küste an, gebremst von den künstlich geschaffenen
Wellenbrechern, über die die Gischt hinweg brandet, ein prächtiges Bild, das mich fesselt
und den Jungen auf meiner Schulter immer wieder zu begeisterten Anfeuerungsrufen hinreißt.
Die Ausläufer des Meeres schwappen schon bis zu meinen Füßen, die ich benetzen lasse, um
dann erschreckt spielend einen Satz nach hinten zu tun, was den Knaben jedes Mal zu
begeisterten Ausbrüchen hinreißt.

Ein schwaches Donnergrollen trotz des heiteren Himmels ist wohl dafür verantwortlich, dass
die Stimmung in der Masse in leichte Unruhe umschlägt. Die allgemeine Richtung des
Menschenstroms hat sich gewendet, Hauptziel scheint wieder die Innenstadt zu sein. Und die
Menschen reden jetzt lauter miteinander, übertönt von einzelnen informierenden Zurufen.

Ich erfasse Wortfetzen: „...Bombenanschlag...“ höre ich da, oder auch: „...Bombeneinschlag...“

Ich steige auf die Mauer, um über die Dächer sehen zu können. An der anderen Seite der
Bucht ragt aus dem Häusermeer ein Turm heraus, aus dem stumm, still und fast unbeweglich
eine dunkle Rauchsäule austritt, gerade gen Himmel steigend. Es gibt zwei weitere Einschläge,
man hört entfernte Detonationen und sieht weitere Rauchsäulen aufsteigen.

Ich reihe mich in den einwärts strebenden Touristenstrom ein, während das Leben der
Einheimischen scheinbar unverändert weitergeht. Einige der Gäste drücken kleine Radios an
ihre Ohren, aus denen man deutschsprachige Stimmen vernimmt: „ ... wird von außerhalb
beschossen ... “ vernehme ich. Von wo, außerhalb? Von außerhalb des Landes? Das Kind auf
meinen Schultern klammert sich an meine Stirn, es ist ruhig geworden, sagt nichts.

Mit dem Strom der hier Fremden treibe ich in ein altes dickes Gemäuer. Nach vorn ist es
durch eine große Glasfront verschlossen. Es handelt sich um das Hotel, in dem auch ich die
letzte Nacht verbracht habe. Die Glasfront erlaubt uns ungehinderten Blick nach draußen.

Die Einschläge kommen näher, bei jedem Knall hageln Trümmer über den Vorplatz. Menschen
drücken sich in Hauseingänge, um nicht getroffen zu werden. Die dicken Scheiben
scheinen uns Sicherheit zu bieten, und sollte doch etwas auf uns zuschießen, würde
ich mich und den Kleinen, den ich jetzt an der Hand halte, mit einem Sprung hinter die mehr
als einen Meter dicke Mauer in Sicherheit bringen. Ich habe volles Vertrauen in deren Schutz.

Über den Dächerhorizont hinweg sehen wir eine riesige Rakete langsam zu einer gewalttätigen
Antwort abheben. Cape Canavaral live. Drinks werden gereicht, aber die Stimmung ist nicht so
locker wie gestern; obwohl, so schlimm kann es nicht sein, keiner verschwindet im Keller, es
wurde auch kein Alarm gegeben.

Die Luft ist erfüllt vom Sirren und Pfeifen einfliegender Artilleriegeschosse. Einer der Touristen
kommentiert, erkennt sie an ihren Fluggeräuschen (Wetten dass ... ?!), nennt ihre Namen:
„...Lance, ...Patriot ...“ ...keine deutschen Waffen ...?!

Der Barkeeper dreht das Radio an. Die deutsche Welle bringt in Direktübertragung weltweit
die grandiose Jubelveranstaltung an der Brücke von Arnheim zum 50jährigen Gedenken an das
Ende des Zweiten Weltkrieges, an der Veranstalter und die Popgrößen der Welt Millionen verdienen.

Das Wort KRIEG schleicht durch meinen Kopf, aber es fällt nirgends.

Draußen ist es ruhiger geworden. Das Thema hier drinnen lautet jetzt: „War’s das oder sollte man
sich vielleicht doch in Sicherheit bringen, abreisen, umbuchen?“

Bei mir überwiegt das Sicherheitsdenken. Als Alibi für meine Entscheidung das Weite zu suchen,
setze ich meinen Kleinen wieder auf die Schultern. Wie komme ich hier heraus, wo steht mein
Wagen, ist er beschädigt, kaputt, geklaut, geplündert?

Der Kleine wird unruhig, rutscht von meinen Schultern ins Huckepack.

„Hast du Angst?“

„Nein!“

Habe ich Angst? Nein, nicht direkt. Einfach nicht zulassen. Der Gedanke an eventuellen
materiellen Verlust überwiegt, lenkt ab. Denn ohne Wagen, wie soll es dann weitergehen?
Aber wo steht das Auto? Ich kenne mich hier nicht aus. Da ... ein bekanntes Gesicht.

„Hej ...“

„ ... na, in der Kaserne, wo gestern die Hütchenspieler saßen, die dir den Tipp mit dem Hotel gaben ...“

Er beschreibt mir den Weg. Der Kleine wird zu schwer, rutscht immer tiefer, so dass ich ihn
hinunter lasse und an der Hand hinter mir her ziehe. Wir überqueren den Marktplatz. Alle
Stände sind wieder geöffnet, es herrscht wieder Hochbetrieb. Elegant umgeht man Trümmerbrocken.

Den Kleinen hab ich im Gedränge verloren, aber mein Wagen steht da, unbeschädigt, springt
an. Ich fahre los, verlasse die Stadt. In der ländlichen Gegend fühle ich mich erst einmal
sicher, die Ziele für den Gegner sind hier nicht so lohnenswert. Über einen Hügel hinüber
fahre ich zu der dahinter gelegenen Ortschaft hinab. Meine Bremsen sind nicht gerade
sicher, ich fordere alles, durchfahre aber trotzdem mit leicht überhöhter Geschwindigkeit
die letzte Kurve vor der Ortschaft. Drei junge Mädchen stehen über dem Straßengraben und
blicken auf ein weißes Fellbündel darin. Es scheint nichts schlimmes, nur das Tier ist tot. Bei
einem Blick in den Rückspiegel sehe ich dann, wie das befellte Etwas doch noch zuckt. Die
Mädchen scheinen hilflos und ich denke, ich kann ja mal fragen, bringe den Wagen zum
Stehen und gehe zu ihnen zurück.

Das Tier entpuppt sich als große weiße Katze, deren Hinterleib von einer Drahtfalle schon
fast halb abgetrennt wurde. Ich sehe in die klaffende Wunde und stelle fest, dass das arme
Tier immer mehr zu sich kommt. Ich steige in den Graben hinab, halte ihm meine Hand hin,
die es vertrauensvoll schnurrend leckt. Hilfeflehend schaut es mich aus roten Albinoaugen an,
schmiegt sich in meine Hand, während sich in mir die gleiche Hilflosigkeit breit macht, die auch
die Mädchen beherrscht.

Ich kann doch nicht in die Wunde greifen, die Schlinge aufziehen, es ist sowieso ein kleines
Wunder, dass das Tier noch lebt. Irgendjemand hält mir ein altes, kleines Messer mit kurzer
Klinge hin. Ich nehme es. Die Katze drückt ihren Kopf in meine freie Hand, versucht dem
Messer an ihrem Hals auszuweichen. Der Schnitt geht nicht tief, ritzt gerade das Fell. Ein
enttäuschter Blick der Katze durchdringt mich, sie schreit, weint wie ein Kind und lässt
aufgebend den Kopf sinken. Ich drücke die Spitze des Messers durch die Gurgel, spüre und
höre, wie es den Hohlraum der Luftröhre durchschneidet. Die Katze ist ruhig. Sie stirbt.

„Das war’s“, sage ich, richte mich schulterzuckend auf, schaue in dunkle, feuchte Kinderaugen.

„Was anderes konnte man nicht tun“, sage ich übertrieben kühl und wende mich ab, da hier
wohl kein mein Handeln auch nur andeutungsweise bestätigender Dank zu erwarten ist. In
meinen Ohren klingt das Geräusch der schneidenden Klinge nach, mir ist übel, aber ... nichts
anmerken lassen ... bloß weg hier! Eiligen Schrittes überquere ich die Straße, sacke vor einer
niedrigen Grundstücksmauer auf die Knie, vergrabe mein Gesicht in den Händen und heule los.
Mein Körper wird von Schluchzen geschüttelt, mein Gesicht ist klatschnass von Tränen. Durch
den Tränenschleier schaue ich auf meine Hände.

An meinen Händen klebt kein Blut.

Nur ein wenig Erde.

Ich beruhige mich, richte mich auf. Da stoppt mit blockierenden Reifen Staub aufwirbelnd
direkt neben mir ein Kleinlaster mit Plane, drängt mich an die Mauer. Ich will nach hinten weg,
aber eine Handvoll aggressionsstrahlender Männer springt von der Ladefläche und blockiert
den Weg. Also nach vorn. Ich drehe mich um, stütze mich dabei auf die Mauer, rutsche mit
der Hand in eine Spalte, klemme fest. Ich spüre leichte Panik und während hektischer
Befreiungsversuche öffnet sich die Beifahrertür. Ein kräftiger Mann springt heraus, baut
sich vor mir auf, sein Gesicht zeigt Aggression, Wut, Zorn, unterstrichen von einem breiten,
diabolischen Grinsen. Sein Mund schreit Worte, die ich nicht verstehe. Ich ringe mir ein
„Guten Tag“ in der Landessprache ab, hoffend, meine Identität verleugnen zu können, forme
in meinem Kopf schon Rechtfertigungen und Unschuldsbeteuerungen, als mir seine Hand flach
und hart ins Gesicht schlägt. Die Gewalt des Schlages reicht aus, mich aus dem Spalt zu
befreien und neben dem LKW niederzustrecken. Ich sehe seinen Fuß auf mein Gesicht zu
jagen und gleichzeitig meine Chance, rolle mich unter dem LKW durch, springe auf die Füße,
renne den mir am nächsten stehenden einfach über den Haufen, bin durch und sprinte los,
Richtung Auto. Aber es sind noch mehr LKWs auf der Straße, Militärlaster, wie ich jetzt
meine, aber mit Zivilisten besetzt, vielleicht eine Bürgerwehr. Auch mein Wagen wird schon
bewacht. Angst macht kräftig und schnell. Noch einen renne ich einfach um, zwei anderen
weiche ich hakenschlagend aus. Dort vorn sehe ich das Tor zu einem Gehöft. Vielleicht kann
ich mich da verstecken; Hauptsache, erst einmal weg von der Straße.

Hinter dem Tor öffnet sich ein riesiger Platz, voll mit Menschen, die mich – so macht es auf
mich den Eindruck – alle hasserfüllt anstarren. Es scheint sich um Städter zu handeln,
Menschen, die vor dem Angriff von außerhalb geflohen sind.

Ich bin auch von außerhalb.

Gleich hinter dem Tor stehen drei Laster, und ich gerate direkt dazwischen und zwischen
ihre Besatzungen, die mich sofort einkreisen. Jetzt haben sie mich. Was wird mir geschehen?
Werden sie mich am Leben lassen oder sitze ich in einer tödlichen Falle, wie die Katze? Der
Kreis hasserfüllter Gesichter zieht sich dichter um mich zusammen. Aus dem Hintergrund
wird ein Name gerufen, der Anführer der mich einkesselnden Meute ruft eine Antwort,
wendet sich ab und läuft nach hinten. Mit dem Führer weicht auch ein wenig die Aggressivität
aus der Gruppe. Ängstlich sichernd schiebe ich mich zentimeterweise zum Rand des Kreises,
der sich nicht mehr weiter zusammenzieht, vielleicht kann ich einen erneuten Ausbruch
schaffen ... Ich suche nach einer Möglichkeit, schaue die Menschen an. Der Blick des mir am
nächsten stehenden kreuzt sich mit meinem. Da ist keine Aggression, vielleicht gar Bedauern.
Seine Schulter zuckt leicht, seine offene Hand schiebt sich langsam wie zum Gruß nach vorne.
Ich bin unsicher, aber ich schiebe vorsichtig meine Hand in seine. Als wir uns berühren,
durchströmt mich vage Hoffnung und ein Gefühl von Sicherheit. Wir lösen uns wortlos aus
dem Kreis und er führt mich mit ineinander liegenden Händen durch die Menge über den Platz.
Keiner beachtet mich mehr. Ich bin sein Bruder.

                                                                                                                        copyright: Ewald Frankenberg

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