Simon Knopf

Die Nicht-Geburt, oder im Tempel der nie gebärenden Mutter

Erzählung von Simon Knopf
Im Tempel der nie gebärenden Mutter

„Also, ich bin ja schon in viele fremde Dorfschenken gekommen, aber ihr glotzt mich ja wirklich extrem hartnäckig an!„ sagte der schwarz gekleidete Mann und schaute in die nun erschrockene Runde. Seine Stimme war sehr ernst und nachdrücklich, doch als sei er selbst über ihren Klang erschrocken, zuckte nun ein entschuldigendes, nervöses Lächeln um seine Mundwinkel. Die Überraschung der Stammgäste ließ nach. Man besann sich der vergessenen Themen und führte die Gespräche dort wieder weiter, wo man sie unterbrochen hatte.
Etwas später hätte man die Szene kaum mehr von der vorherigen unterscheiden können. Auch sitzt wohl in jedem Wirtshaus immer wieder mal ein Fremder in einer Ecke und starrt auf das Glas vor ihm, um ab und zu aufzuzucken und es an seinen Mund zu führen.
Ein Mensch trat von niemanden beachtet an den Tisch, an dem der Fremde saß und setzte sich vor ihm. Ihre Gesichter waren sich ganz nahe. Der Fremde, erst verwundert über das Stille Erscheinen dieses Menschen, merkte erst etwas verzögert das milde Leuchten in den Augen des Stillen. Was für ein schöner Anblick das für ihn war. Er schloß schwelgend langsam die Lider in der Hoffnung, dieses Bild länger lebendig zu erhalten. Er war es nicht gewohnt eine Wirklichkeit zu erblicken, die ihm ausdauernd wohlgesinnt war. Ihm fiel schreckhaft auf, wie leicht diese Geste hätte mißverstanden werden können und damit rechnend, daß das Gesicht vor ihm die gewöhnliche Härte der Wirklichkeit wieder angenommen hatte, öffnete er seine Augen.
Der Platz vor ihm war leer, doch in warmer nähe saß dieser Mensch nun neben ihm und schaute, wie er, auf den leeren Sitz.
Wie lange hatte der Fremde wohl die Augen geschlossen? Es war ihm selbst unmöglich dies zu bestimmen, doch mußte er sehr tief in dem pflegenden Genuß der ihm zugewandten Schönheit gesunken sein, da er den Ortswechsel der schönen Güte nicht bemerkt hatte, ebensowenig wie die Wärme, die nun aus seinen Körper überströmte.
Er hatte nur die Augen gesehen; die Augen eines Menschen, wie er sie in der Menschheit noch nie gesehen hatte. Von erstem Moment an liebte er diesen Menschen, als hätte er Allen immer seine Liebe entzogen um sie in voller Hingabe für diesen aufzusparen. Er liebte ihn wie einen Gott, doch dieser gab sich wie ein Bruder und leicht amüsiert übersah er diese Liebe; nicht weil er Angst hatte sie könne ihn verwirren, sondern nur weil er wußte, daß angenommene Liebe bisweilen eine unfruchtbare Distanz schafft.
Langsam aber bestimmt drehte der so wohltuende sein Haupt und schaute erneut mit seinem samtenen Blick, der dennoch durchdringend war wie ein Blitz, in die Augen des Entzückten, der mit nie geahnter empfangenden Liebe alles aus diesem empfingen.
„Du bist fremd hier. Die anderen kennen dich nicht, doch es gibt einen Ort – du wirst ihn erkennen und deshalb liebt man dich dort. Ich will ihn dir zeigen, da du ihn sehen willst - und du wirst ihn sehen, weil du nicht auf ihn wartest.„
Dem Fremden war als verlöre er sich in diesem Antlitz. Er sah kaum ein Gesicht, doch er schien auf den Grund der Augen zu sehen, der vielmehr ein Beginn des Nichtendenden war als ein wirklicher Grund.
Und die Worte, die auf ihn einflossen, ach er konnte nicht sagen, welcher seiner Sinne dieser wunderbaren Klänge aufnahm. Ihm war als durchdrangen sie ihn ohne dabei zu vergessen, alle bekannten und unbekannten Sinne auf wohltuenste Weise zu umschmeicheln und ihn mit sich fortzutragen. Mit ihm in den unendlichen Raum zu schwingen – zu expandieren.
Nach einer Ewigkeit zog sich das so empfundene, erst unmerklich sachte, dann immer energischer zusammen um schließlich wie eine gigantische Sternschnuppe in seiner Brust zu explodieren.
Langsam wurde er sich wieder der Schenke, dem Tisch, an dem er saß und schließlich sich selbst bewußt. Immer noch nichts hatte sich hier verändert. Immer noch unterhielten sich einige lebhaft, andere stiller und wieder andere gar nicht. Auch saß er so alleine an seinem Tisch, wie kurz nachdem er gekommen war.
Der Nachklang dieser Erlebnisse war ein zutiefst freudiger, hatte doch dieses Ereignis ihm eine enorme absolute Einheit, nicht nur mit den Menschen, vielmehr mit dem ganzen Universum erfahren lassen, ein Erlebnis, das er ja nie für möglich gehalten hatte.

Nun aber merkte er, nicht ohne Schrecken, daß auch dieser Nachklang nachließ und im Begriff war ihn ganz zu verlassen. Und je mehr der verzückende Nachgeschmack dieser ungewöhnlichen Erlebnisse wich, ergriff ihn ein Zustand, der ihn äußerst beunruhigte und vor dem dem Fremden schrecklich graute. Ein analysierendes Verstehenwollen breitete sich in seinen Gedanken aus, doch es waren weniger diese gedanklichen Funktionen selber, die ihn mit so panischem Grauen erfüllte, als das bestimmte Gefühl mit diesen für das Leben sonst so hilfreichen Fähigkeiten, in diesem Fall nicht weiter zu kommen, sondern ganz im Gegenteil diesmal an einer derartigen gedanklichen Tätigkeit zugrunde zu gehen, zu verzweifeln – den Verstand zu verlieren.
Schnell sprang er auf und verließ in hektischen steifen Schritten das Lokal ohne den Mut aufzubringen noch mal in die Runde, oder wenigstens noch einmal an den Ort seines Erlebnisses, seiner wunderbaren Begegnung zu schauen. Er spürte einen noch nicht bekannten Drang noch dort zu bleiben oder sich noch wenigstens noch einmal umzudrehen. Doch was sollte er hier unter den Menschen, die ihn nicht kannten, die ihm schon als er hereinkam in unerreichbare Fremdheit zu sein schienen, ihm jetzt aber nach seinem Erleben bedrohlich anders vorkamen.
Hätte er dies nicht erlebt, dann hätte er vielleicht noch die Neugierde, die sie den seltenen Vorüberziehenden entgegenbrachten, nutzen können um sein Alleinsein in dem Klang sinnloser Worte zu ersticken. Doch nun? es war ihm unmöglich sich vorzustellen über etwas anderes zu reden als über seine Entzückung, seine wundersame Begegnung. Um ein Wievielesmehr hätte ihn ein solches Gespräch von diesem Menschen entfernt. Dann wäre es nicht mehr nur er, der diese Distanz schafft. Nein, dann wäre diese Distanz unweigerlich auch von ihnen gewollt gewesen. Die von den Menschen, nicht von ihm, ausgehende Distanz hatte er ja schon so oft als bittere Feindschaft empfunden. Und nun? Es würde seine Kräfte übersteigen eine in so hohem Maße gesteigerte Fremdheit zu ertragen.
Dennoch verließ er den Raum mit einer warmen Anziehung im Rücken. Etwa so, wie ein Gläubiger aus Pflichtgefühl seinen Tempel, wo er doch die ihm so wichtige heilige Ekstase erfährt, verläßt, um sich den Dingen des Lebens mit leichter Wehmut und freudiger Erwartung seiner Rückkehr zu stellen.
Doch der Fremde hatte kein Leben gefüllt mit Pflichten, die ihn hätten trösten können und er wußte nicht, wo er zurückkehren könnte und so lief er gebeugt und wie gehetzt davon.


Hätte der Fremde sich auf der Schwelle nochmals herumgedreht, dann hätte er auch erkannt, daß nicht im wesentlichen der Raum und die Erinnerung an das Geschehen dort, diese, ihm bis dahin unbekannte, enorme Anziehung ausgelöst hatte, sondern vielmehr ein weiterer Mensch. Eine junge Frau, die hinter dem Tresen auf einem Barhocker saß.
Das Buch, das in ihren erstarrten Fingern lag, hatte schon lange keines ihrer sanften Blicke mehr auf sich gezogen und war auf ihrem Schoß mit den Seiten nach vorne von ihr abgewandt, gesunken und nun ebenso unbeweglich wie ihre Finger.
Sie war seitdem der Fremde in die Schenke getreten kam ganz von ihm eingenommen gewesen. Sie konnte von Anfang an etwas in diesem Gedankenverlorenen unzweideutig erkennen, das sie an sich nicht verbergen konnte. Bestimmte Wesenszüge, die wenigen Menschen eigen sind und von diesen meist als Last empfunden werden.
Diese Wesenszüge führen in eine Einsamkeit, die von drei vorherrschenden Leidenschaften geprägt ist. Diese treten zeitlich von einander getrennt, manchmal auch gemeinsam auf. Nicht selten wird die nachfolgend zuletzt erwähnte Leidenschaft auch im Leben eines solchen durch eine vage Hoffnung zu der letzten Lebensregung, die ein Außenstehender wahrnehmen kann.
Die eine Leidenschaft ist die innerlich aufgescheuchte und angespannte Suche nach einem Menschen in dem ähnliche Empfindungen vermutet werden und von dem demzufolge Verständnis erwartet wird. Ab und zu fährt ein Mensch mit solchen Gemütsregungen wie aus einem Schlaf auf, um einen ihrer Mitmenschen auf eine überraschende Art, die es einem schwer macht auszuweichen, direkte sehr persönliche, oder im Zusammenhang schwer verständliche Fragen zu stellen, die den Sinn haben erlösende Gleichgesinnte zu identifizieren. Die zweite Leidenschaft ist der Versuch sich den Menschen der Umgebung wenigstens etwas anzupassen; an ihrem Leben teilzuhaben und gemeinsame Interessen zu entwickeln. Dieses Bemühen scheitert oft an einem grotesken Selbstbildnis, über dessen Erscheinung sie selbst am meisten erschrecken. Die dritte vorherrschende Wesensregung ist die Hoffnung auf einen wie überirdischen Ort an dem sie sich endlich geborgen fühlen wollen. Ein Ort an dem nichts in Anspannung geschieht, an dem nichts aus Furcht, Flucht oder Angst passiert. Wo, ganz im Gegenteil, alle Bewegungen, alle Wahrnehmungen und alle Kundgebungen warm und geheiligt sind durch Empfindungen freudiger anmutiger Liebe.
Dieses Mädchen nun, das da regungslos auf ihrem Hocker saß, sah an diesem Abend nicht nur eine leidenschaftliche Hoffnung wahr, sondern auch noch eine vage Hoffnung zur Gewißheit werden.
Als dieser Fremde in die Schenke trat, mußte sie keine lustlosen und dennoch forschen Fragen an ihn stellen, die doch immer nur bestätigten, daß der Befragte kein Mensch ihres Schlages war. Bei diesem Menschen war sie sich gewiß in ihm einen Genossen, einen Freund und vielmehr noch als das einen erlösenden Geliebten zu finden. Alles an ihm hat ihr in einer deutlichen Sprache, viel deutlicher als die verbale Sprache es ihr je hätte sagen können, sein reines empfindsames verzagtes und ihr so ähnliches einsames Gemüt mitgeteilt. Seine Bewegungen, seine Stimme, sein Blick. Die schockierende Sicherheit den richtigen erkannt zu haben, hielt sie eine weile wie gelähmt. Keine Freude, keinen Drang, keine Reaktion stieg in ihr auf nur Sicherheit, absolute Sicherheit: diesen konnte sie lieben, mußte sie lieben!
Auch ihre vage Hoffnung auf einen Ort oder vielleicht war es vielmehr ein Zustand, den nicht nur ihre schönsten und liebsten Momente auf eine nie endende Art umfaßt, sondern noch um das wunderbarste übersteigert, wurde an diesem Abend zu einer Gewißheit.
Sie hatte nämlich ebenfalls diese wunderbare Erscheinung gesehen, die nichts so sehr ausstrahlte wie gütigste Fürsorge und himmlische Glückseligkeit. Sie sah wie dieses Wesen, dessen Herkunft unbekannt war, das in menschlicher Gestalt erschien und doch viel mehr war als nur menschlich, zu dem Fremden ging und mit ihm redete ohne sein schönes Gesicht, das voll des Lebens war, zu bewegen.
Die zuvor gedankenverlorene schwermütige Mimik des Fremden spiegelte von dem Augenblick an höchste Verzückung wider. Er schaute wie jemand, der seine schönsten Träume wahr werden sah und doch gleichzeitig wie einer, der nicht begriff, das er soeben vielleicht zum ersten mal in seinem Leben aufgehört hat zu träumen.
Das Mädchen auf dem Hocker wußte vom ersten Moment an an dem das schöne Wesen erschien, daß dieser himmlischer Besuch ebenso ihr galt wie dem Fremden. Sie begriff, daß dieses Ereignis sie beide betraf und das niemand von den restlichen Anwesenden das Geschehen mit verfolgen konnte. Intuitiv erahnte sie die Herkunft des schönen Besuchs. Alles an dieser Erscheinung erzählte von einem beinahe vergessenen lieblichen Ort. Den selbst die kühnsten Vorstellungen nicht erreichen konnten. Dieser „Mensch„ schien seine ganze Heimat mit sich zu führen, wie andere ihren Schatten mit sich herumtragen. Ja, er schien wie die Personifikation dieser seiner Heimat.
Die Worte, die er sprach waren ebenso an sie gerichtet wie an den Fremden. Ihr war als säße sie mit diesen Beiden von ihr so geliebten Menschen an den Tisch in der Ecke und auch sie sah in diese unendlich tiefen Augen, die jeden, der in sie blickte, sich selbst und alles vergessen ließen, um in einen momentanen Ewigkeitsgenuß zu tauchen.
Sie verstand jedoch viel deutlicher als der Fremde, der traum- und gegenwartsverloren dasaß, daß seine Botschaft eine Einladung war ihm zu folgen und mit ihm in seine Welt zu treten.
Aus ganzer Seele, mit jeder Empfindungspore seufzte sie ein innerliches „Ja„: Eine bereitwilligste Zustimmung zu dieser Einladung. Kein Zweifel trübte ihre Entscheidung. Wie jemand, der sein ganzes Leben auf eine Situation wartete, in der es nur eines Schrittes bedarf, der alle sehnsuchtsvollen Wünsche mit einem Male wahr werden läßt, zögerte sie nun nicht mehr mit ihrem „Ja„. Sie fragte nicht mehr nach dem Sinn ihrer Entscheidung, es gab für sie keine andere Möglichkeit - kein entweder oder -. Mit dem Fremden, der ihr schon längst auf liebevollste Art vertraut war, wollte sie an diesen alles versprechenden Ort in diesen glückseligen Zustand übersiedeln.
Als sie schon an der Schwelle stand und im Betriff war hinüber zu fließen, wurde ihr mit der Helligkeit eines Blitzes bewußt, daß ihr armer Geliebter die ganze Situation, die herrliche Einladung nicht so klar erkannt hatte wie sie. Er hatte nicht ganz begriffen und so konnte er sich auch keine Entscheidung hingeben, so wie sie es getan hatte. Sie wandte sich auf der Schwelle stehend um und sah, wie er mit der Last einer riesenhaften Verzweiflung, die ihn des Denkens unfähig machte, aufsprang und zögernd jedoch schnell das Lokal verließ.
„Hey Mädchen! was ist denn los? Hey! träumst du schon wieder?„ rief einer der Stammgäste, der seit einiger Zeit immer wieder versucht hatte durch Fingerschnalzen und Bierkrugstampfen ihre Aufmerksamkeit zu erregen um eine neue Runde Bier zu bestellen. „Hey, hörst du nicht? was hast du denn?„ Das gesamte Lokal war mittlerweile verstummt. Jeder hatte seinen Rausch vergessen und alle Augen waren auf das junge Mädchen gerichtet, das hinter dem Tresen wie versteinert saß. Einer war aufgestanden und bewegte winkend seine Hand vor ihren starren Augen ohne das auch nur die geringste Reaktion in ihrem Gesicht zu lesen war. Schon standen alle um sie herum. Keiner wußte angesichts des anmutigen Mädchen, auf deren Gesicht höchste Verklärung und tiefste Empfindung zu lesen war, zu reagieren. Keiner der Stammgäste wußte was hier geschehen war. Absolute Ratlosigkeit klang in dem Rumoren, das jetzt durch die Gruppe fuhr. „Ist sie tot ?„ fragte einer wie zu sich selbst. „Faß sie doch mal an;„ sagte ein anderer in die vor Schreck fast tauben Ohren. Eine ganze Weile traute sich aber keiner sie zu berühren. Einige ahnten, daß hier etwas wunderbares vielleicht heiliges geschehen war und niemand wollte das Mädchen aus diesem Zustand, der ihrem Antlitz nach zu urteilen ein unsagbar wonnevoller sein mußte, aufschrecken. Jeder hatte das Gefühl kein Recht zu haben in das ihnen unerklärliche Geschehen einzugreifen. Eine Hauch von Göttlichkeit strahlte ihnen aus diesem Gesicht entgegen und in diesem Licht schien ihnen alles was sie tun könnten eine nicht wieder gutzumachende Sünde zu sein. Schließlich bewegte doch Jemand zaghaft und zögernd seine Hand auf die Schulter des Mädchens zu. Seine Augen waren starr auf die ihren gerichtet, in der Hoffnung eine Anweisung, einen Wunsch oder sonstwie eine Rechtfertigung für sein Tun von ihr selbst zu erfahren. Wer konnte das anderes sein als der Dorfarzt, der, wenn auch auf eine ganze andere Art, es ja gewohnt war in die inneren Prozesse eines Menschen einzugreifen. Doch auch er handelte so zögernd, als befürchtete er durch die Berührung mit ihr, in einen Strudel ihm fremder Empfindungen gerissen zu werden, die für ihn einen Kontrollverlust mit nicht durchschaubaren Konsequenzen bedeuten könnten.
Vielleicht erging es den Menschen, die zum ersten mal in ihrem Leben Feuer sahen, das ihnen durch einen Blitz beschert wurde, ähnlich. Auch sie versuchten sicherlich dieses neue Element durch Berührung zu begreifen. Auch sie ahnten wohl, daß ihnen eine solche Berührung weh tun würde und doch konnten sie nicht umhin zu versuchen das Feuer zu packen.
„Sie lebt! Sie ist noch warm!„ rief er und versuchte sie nun durch immer heftiger werdendes Schütteln, in dem sich die ganze Ratlosigkeit der Anwesenden offenbarte, wieder zu ihnen zurückzuholen. Sie zeigte jedoch nur eine Reaktion, die den Stammgästen den letzten Mut und die letzte Hoffnung nahm, noch irgendeinen Einfluß auf sie ausüben zu können. Sie ließ, je wilder das Schütteln wurde, ihre Augenlider immer tiefer sinken, bis auch der letzte feuchte Lichtstrahl aus ihren Augen sich hinter ihren Lidern verbarg. Das war ihnen nun ein schreckliches aber genauso erhabenes Zeichen, das ihnen sagte: „Es bringt nichts. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich komme nicht zu euch zurück!„ Man nahm ihr in einem hilflosen Schweigen das Buch aus den Händen und legte sie im Nebenzimmer auf eine Liege. Behutsam deckte man sie zu, überließ sie sich selbst und übergab sich einem beugenden, fruchtlosen diffusen Grübeln.


Eine Woche irrte der unglückliche Fremde durch die Gegend. Er mied die Menschen. Niemand sollte ihn durch verschrockene und gleichzeitig mitleidvolle Blicke, die ihm alle zu verstehen gaben: „Oh, der Arme hat seinen Verstand verloren,„ auf sein Befinden aufmerksam machen. Er sehnte sich nach klaren auflösenden Gedanken, doch jeder Versuch seinen Verstand zu gebrauchen, machte ihm schmerzhaft bewußt, daß eben dieser verflixte Verstand es war, der ihn noch tiefer in den Irrsinn trieb. Das was ihm geschehen war, konnte er so nicht begreifen und doch erschien diesem verkopften Menschen der Verstand als das einzige Werkzeug mit dem man überhaupt etwas begreifen konnte. So irrte der Arme in einen Teufelskreis, in dem jeder Gedanke ihn noch tiefer in den verzweifelten Wahn trieb.
Er lief übers Land und war doch eigentlich immer noch in der Schenke. Er konnte an nichts anderes denken und hoffte insgeheim durch ein immer wieder und wieder erleben der Situation dort, den Schlüssel zu finden mit dem er sich das ganze Geheimnis zu erschließen hoffte. Jedesmal, wenn er sich dabei ertappte sich durch vernünftiges Denken in die Hoffnungslosigkeit seiner Lage zu steigern, schüttelte er sich und schlug sich vor die Stirn.
Es trieb ihn die Verzweiflung eines Menschen, der sein ganzes Leben glaubte, es läge in seiner Macht, den ihm allein heiligen Wunschtraum wahr werden zu lassen, der seine ganze Kraft diesem Wahrwerden opferte und an einem Punkt der tiefsten Resignation plötzlich den ins Leben getretenen Traum vor sich sieht, in all seiner Pracht; bei diesem Anblick aber in eine so angenehme Verzückung fällt, daß er geradezu erlahmt und so unfähig wird in sein Heiligtum zu treten. Als dann die lähmende Verzückung nachließ, wurde ihm grausam bewußt, daß ihm die ganze Erfüllung seiner geheimsten Wünsche durch einen überwältigenden Moment in seinen hohlen Augen zerlief. Die schreckliche Verzweiflung war es, die sein einst ruhiges Gesicht zu einer verschrobenen Fratze werden ließ.
Oh! Er durfte nicht daran denken, daß er seine Chance, vielleicht seine einzige Chance, hat davonlaufen lassen. Und doch schienen sich alle anderen Möglichkeiten in Luft aufzulösen. Was hatte er falsch gemacht? Was hätte er tun können? Wie hätte er reagieren müssen? Was war eigentlich passiert? Nichts als Fragen ohne Antworten standen düster und sein ganzes Unheil verkündend vor ihm. Oh, er mochte nicht daran denken! Es durfte nicht wahr sein!
In einem Moment an dem er sein jahrelanges, sehnsuchtsvolles Suchen aufgegeben hatte stand sein Ziel vor ihm – und er? Er hätte nur die Hand ausstrecken brauchen. Als er sich der Situation endlich bewußt wurde, war das Ziel in die Ferne einer unklaren Erinnerung gerutscht. So klar wie ein Alptraum nach dem schreckhaften Erwachen stand dagegen das Begreifen, mehr als Alles versäumt zu haben. Es blieb nichts als die wunderbare Erinnerung seines herrlichen Zieles, die ihm unter diesen Umständen quälte und zermürbte als würde er von innen verbrennen.
Oft versuchte er durch ein Anhalten oder Hinsetzen eine äußere Ruhe und einen inneren Faden zu finden. Wieder fand er sich dann schnellen Schrittes, gebeugter Haltung und mit in den Haaren verkrallten Fingern, dahinscheuchen wie ein an der Wand geknickter Schatten. Er hatte an keiner Weggabelung überlegt, welche Richtung er hätte nehmen sollen. Er lief immer nur weiter voran – suchend - aber sich nicht am Weg orientierend. Er hatte zahllose Landschaften durchschritten ohne auch nur einer gewahr worden zu sein. Seine Gedanken waren wie Gewitterlichter im Sturm. Jedes aufflackern trieb ihm Sporen in den Schreck und unlösbare Verankerungen in die Angst. Es war als würde er vor Qual und Tod fliehen und einem Paradies hinterherlaufen, das nur ein wenig aber grausam spürbar schneller war als er. Eine furchtbare Vorstellung wollte ihn einholen und er, jedesmal wenn er ihrer gewahr wurde, stürzte er sich in eine besser erscheinende chaotische Flut. Er floh vor der Trostlosigkeit seines Tuns.
Menschen waren ihm begegnet. Einige rannten davon, Kinder erschraken und manche bekreuzigten sich gar. Keinem fiel er nicht auf. Stärkere Seelen riefen ihn, wollten ihm helfen. Er warf einen irren Blick auf sie, erkannte nichts und war schon wieder vorüber.
Hätte nicht schon eine andere Welt die Finger nach ihm gestreckt, dann hätte er erkennen müssen, daß er hier schon mal war, daß er auf dem Weg zu dem einzigen Ort war, den er hätte erinnern können. Er lief die Straße auf die Schenke zu.


In diesem Moment waren im Wirtshaus die stummen Augen aller Gäste auf den Durchgang zum Hinterzimmer gerichtet. Die junge Frau, gekrönt von einem selig empfangenden Lächeln, war dort erschienen. Die Überraschung der Gäste war so groß wie ihr Vergessen. Nur noch selten hat das allgemeine Interesse dem Mädchen gegolten. Nur diejenigen, die rübergegangen waren um nach ihr zu sehen, kamen auf tiefe, stille Weise gerührt zurück um ein paar Minuten, für die Gäste abwesend, zu dem Mädchen strebend, verloren bei den anderen zu sitzen. Dennoch war ihr Entschwundensein normaler geworden als ihr jetziges Auftauchen.
Niemand wagte sie anzusprechen. Diejenigen, an denen sie vorübergegangen war, standen auf und folgten ihr zur Eingangstür, die sie öffnete. Ein warmer Herbstwind blies in die Stube. Sie stand still und schien in ruhiger Erregung zu lauschen. Den Gästen schien sie jetzt noch ferner, als sie es ihnen in ihrem wartenden Schlaf war. Kein Blick widmete sie den Gästen, sie bemerkte sie gar nicht. Niemand konnte sich über ihr Erscheinen freuen und niemand konnte sie willkommen heißen, da man nun noch viel weniger wußte, wo sie eigentlich war.
Heruntergefallene Blätter, vom Nachtwind in die Stube getragen, sammelten sich um ihre blassen Füße und kreisten um sie. Was keiner der Anwesenden vermochte, schienen die aufgeregten Blätter mit Freude zu tun; sie empfingen das Mädchen in Jubel und Glückwünschen.
Ihr Blick galt aber auch nicht den freundlichen Blättern, sondern war ins Dunkel gerichtet.
Als der Fremde dann von letzter Hoffnung getrieben auf der Suche nach Klarheit, die das Einzige war, was ihn vor dem Tod der Irren bewahren konnte, vor das Lokal stützte und sie dann da stehen sah, still vor reinster Freude strahlend, die Arme ihm entgegen gestreckt; oh, wie fiel da alles von ihm ab. Die ganze Wirrnis, die ganze Zweifel, das Suchen, das Nicht-mehr- denken-wollen-aber-müssen - alles war auf einmal weg.
Seine Bewegungen hielten inne. Er erkannte in einem Wesen, das er noch nie gesehen hatte, das ihm viel vertrautere Ebenbild seiner so lieben und heißgesuchten Erscheinung. So sehr gab sie den Glanz der ihm bevorstehenden Welt ab, daß er mit einem mal die ewige Zeitlosigkeit ganz und klar erfaßte und mit ihr seine ganze Situation.
Wunderschön stand sie da in Begleitung seines Lebens und seiner Heimat vor ihm. Zutiefst gerührt ging er auf sie zu, nahm ihre ausgestreckte Hand. Ging mit ihr, wie ein Wesen mit einem Willen, sich gegenseitig ins Gesicht schauend auf den Tisch in der Ecke zu, wo der Fremde schon mal gesessen hatte. Und wie sie dahingingen! Der Lauf eines Brautpaares zum Altar kann nur eine schwache Ahnung davon vermitteln, wie dieses Paar zu ihrer Hochzeit in ihren Tempel schritt. Wie sie sich nun gegenüber saßen, die Hände auf dem Tisch ineinander gelegt. Wie sie sich erkannten, wie sie erbebten und erschauerten, was sie sich durch ihr ganzes Wesen mitteilten, das konnte keiner der Anwesenden erahnen – und doch standen sie still, an ihrer empfindlichsten Stelle gerührt, um den Tisch verteilt. Einige hatten ohne es zu merken sich gegenseitig die Hände ergriffen. Wonnevoll verkrampften Münder unterstrichen tränende Augen. Niemand hatte mehr geglaubt, daß es doch so eine Liebe gab. Ihr Treffen ließ eine Welt von warmen Eindrücken, wie ein segenvoller Hauch aus der Ewigkeit, um sie entstehen. Als die Ergriffenheit nachließ gingen Alle mit schwimmenden Augen auf das vereinte Paar zu. Nicht um sie doch noch willkommen zu heißen, vielmehr um sich von diesen Beiden in der Welt der Liebe willkommen heißen zu lassen.
Doch jedem, der sie berührte erfroren die Freudentränen zu Eis. Erstarrung drückte ihre Augen hervor und für einen klirrenden Moment waren sie das, was diese vereinten Zwei nun für immer sein sollten - tot.

Dies soll die in romantischem Stil geschriebene Geschichte eines Mannes sein, dessen Gedankenwelt von Todes-, bzw. Mutterschoßsehnsucht geprägt ist.

Ein Mann irrt umher. Er ist Getrieben von einem Erlebnis, an dessen Wahrhaftigkeit er zweifelt. Beinahe den Verstand verlierend, versucht er dem mystischen Erlebnis den Schleier zu lüften. Davon scheint alles abzuhängen. Wird es ihm gelingen, seine ersehnte Erfüllung zu finden? Oder wird er vielmehr der totalen Vernichtung anheim fallen?
Simon Knopf, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Simon Knopf).
Der Beitrag wurde von Simon Knopf auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Simon Knopf als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Geheimnis um Schloss Krähenstein von Thurid Neumann



Das Buch ist ein Bodensee-Sommerferien-Kinder-Krimi à la 5 Freunde. Zwei Jungs und zwei Mädchen verbringen gemeinsam die Sommerferien in Konstanz am Bodensee und decken dabei das Geheimnis um ein verschwundenes Testament und den Erben von Schloss Krähenstein auf.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Mystery" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Simon Knopf

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Goa II, Dr. Bahn und die vermeintliche Akkupressurausbildung von Simon Knopf (Reiseberichte)
Mein Großvater von Viola Otto (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen