Steffen Herrmann

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Zu Beginn des 25. Jahrhunderts zeichnen sich interessante Entwicklungen ab, die auf der Kolonisierung von Himmelskörpern unseres Sonnensystems beruhen.
Es ist nicht ohne weiteres klar, was Menschen auf anderen Planeten oder Monden sollen. Die Astronauten, die auf den Mond kamen, hissten dort eine Fahne, hüpften ein wenig herum, warfen mit Steinen und nahmen welche mit. Es gab dort nichts zu tun.
Die Expedition machte vor allem als politische Demonstration Sinn; der Erfolg der Mondlandung bestand darin, dass damit ein Symbol geschaffen war, mit dem die Selektionspräferenzen gesellschaftlicher Systeme in einer beabsichtigten Weise beeinflusst werden konnten.

Die ersten Menschen auf dem Mars hatten eine ähnliche, wenn auch eine schwächere Wirkung. Gut, der Mars war weiter weg, aber im Grunde war es schon einmal dagewesen.
Symbole, die auf das Selbstbild des Menschen wirken, entfalten nur dann ihre volle Wirkung, wenn sie auf etwas beruhen, das neuartig, schwierig und sichtbar ist. Und sie müssen einer Gemeinschaft entspringen. In dieser elitären Gruppe von Menschen, deren Einheit sich in einer Grossen Leistung manifestiert, erkennen die Menschen die Menschheit und damit sich selbst.
In der 2. Hälfte des 21. Jahrhunderts erfuhr die bemannte Raumfahrt neue Impulse aus dem Tourismus. Dessen Bedeutung für die späteren Kolonisierungen kann nicht  hoch genug eingeschätzt werden. Als nämlich ein Jahrhundert später der interplanetare Boom einsetzte, konnte auf eine voll ausgeprägte Infrastruktur zugegriffen werden, die aus rein privatwirtschaftlicher Initiative heraus entstanden war.
Bis tief ins 22. Jahrhundert hinein setzte sich der Trend zur Konzentration immer grösserer Vermögen fort. Eine kleine Schicht von Reichen verfügte über ungeheure Geldmengen und ein wiederum kleiner Teil von ihnen trat als Nachfrager für den entstehenden Weltraumtourismus in Erscheinung.

Reisen sind ein Distinktionsmerkmal. Man wollte sagen können: „Letzens war ich auf dem Mond gewesen“, oder besser noch auf dem Mars.
Unternehmen, die das strategische Potential dieser Branche erkannt hatten, entwickelten die entsprechende Infrastruktur. Mit Fähren wurden die Menschen in den Weltraum befördert, dort stiegen sie in eine Raumstation um. Der Transport zum Mond erfolgte in einem schon fast komfortablen Raumfahrzeug. Der Ablauf war, zumindest am Anfang, streng geregelt.
Die Zahl der Weltraumreisenden stieg rasch, der touristische Charakter der Fahrten trat immer stärker hervor. Man konnte verschiedene Arten von Reisen buchen, die sich in ihrem Komfortlevel unterschieden und natürlich in ihrem Preis. Aus den Raumstationen wurden Weltraumhotels, in denen sich Dutzende Menschen tummelten. Neben simplen Schlafkojen entstanden Luxussuiten, als deren Bewohner man sich von den Pauschalreisenden abgrenzen konnte.
Auch auf dem Mond entstanden Stationen. Das waren geräumige High-Tech Zelte, in denen man sich frei bewegen konnte, durch Schleusen gelangte man in die raue Welt des Mondes. Dort  baute man Häuser, vornehmlich aus Mondmaterial. In diesen Gebäuden liess sich zwar nicht leben, man blieb in seinem Raumanzug gefangen, doch wurde so eine Atmosphäre erzeugt, deren Wirkung auf die Menschen sich in zahllosen Fotos bezeugte.
Mit dem Fallen der Preise stieg die Zahl der Touristen. Man zählte bald mehrere Tausend Reisende pro Jahr. Damit wurde eine Profanisierung unvermeidlich. Es wurde eng da oben und es bedeutete nicht mehr viel. Die Reisenden wurden zu Einheiten, die von einem kommerziellen System prozessiert wurden: Ankunft, Unterbringung, Umstieg in den Transporter, Landung auf dem Mond, Einweisung in die dortigen Unterkünfte, Besuch der Sehenswürdigkeiten, gemeinsames Abendessen....
Man war an einem anderen Ort, aber es war nicht anders als auf der Erde.

Flüge auf den Mars boten zu dieser Zeit noch die Möglichkeit, sich von den Pauschaltouristen zu unterscheiden. Zunächst einmal musste man es sich leisten können, denn diese Reisen waren nach wie vor sehr kostspielig. Die Anforderungen an die Fitness und die innere Disziplin waren hoch. Auch der Planet war menschenleer, es gab dort keine Programme.
Der Flug zum Mond war zu einem Trip geworden, die Reise zum Mars blieb eine Expedition.
Daneben kam der Individualtourismus auf. Der entstand aus der Initiative von Menschen, die zwar die bereitgestellte Infrastruktur benutzten, sich aber von der Tourismusindustrie nicht benutzen lassen wollten. Sie buchten eine Reise zum Mond wie einen Flug und blieben dort möglichst lange, um dort ihr eigenes Ding zu machen. In kleinen Gruppen, manchmal allein durchwanderten sie die Kraterlandschaften. Sie verzichteten auf Roboter und transportierten alles Benötigte in riesigen Rucksäcken. Die geringe Schwerkraft kam ihnen entgegen.
Der noch recht jungfräuliche Boden machte es möglich, dass eine Menge vor Rekorden erzielt werden konnten, die für sich genommen zwar keinen Sinn machten, sich aber kommunizieren liessen und im Sinne der kommunikativen Systeme notwendig wurden, weil sie möglich waren.

Wer entfernte sich am weitesten von den Landungsbasen? Wer blieb am längsten auf dem Mond? Wer schaffte die erste Umwanderung des Mondes?
Oder auch: Wer harrte dort am längsten aus?  Wer ist der erste Mensch, der auf dem Mond geboren wurde? Wer der Erste, der dort starb?
Mitte des 23. Jahrhunderts war der der Mond von Kolonien durchzogen. Man wohnte in grossen Gewächshäusern, von denen manche einige Hektar gross und mehr als zwanzig Meter hoch waren. Das waren Orte mit einem vollständigen Recyclingsystem. Aus den menschlichen Ausscheidungen wurde mit Hilfe von Energie, die reichlich zur Verfügung stand, wieder Nahrung hergestellt. Ein Problem war die Knappheit von Wasser, ein anderes die Meteoriteneinschläge, die leicht tödlich sein konnten. Roboter machten sich breit. Auch einige Tiere lebten auf dem Mond. Man begann, Pflanzen zu kultivieren, genetisch veränderte Wüstengewächse.
Transportraumschiffe erreichten in immer kürzer werdenden Abständen den Trabanten, um benötigtes Material zu bringen. Man begann sich darüber Gedanken zu machen, die Ressourcen des Mondes direkt zu nutzen (also eine Industrie anzusiedeln), aber solche Pläne gingen den Tourismuskonzernen  zu weit.
Eine ständige Mondbevölkerung begann sich herauszukristallisieren. Die Lunaren waren fragile Menschen mit knochigen Armen und Beinchen, an denen kaum Muskeln waren. Sie mussten jährlich eine stattliche Aufenthaltsgebühr zahlen, denn das Leben auf dem Mond war noch immer teuer. Vielen ging das Geld aus, konnten aber trotzdem nicht mehr auf die Erde zurück, weil sie die Schwerkraft dort nicht mehr ertragen würden. Die Abschreibungsquote der Touristikunternehmen stieg Jahr um Jahr, das Ganze begann, ihnen über den Kopf zu wachsen.

Auf dem Mars gestaltete sich die Situation deutlich übersichtlicher. Betrug die durchschnittliche Bevölkerungszahl auf dem Mond mehrere Zehntausend, so waren selten mehr als hundert Menschen zugleich auf dem Mars. Auch hier begann allmählich eine Entwicklung einzusetzen, doch der Planet war zu dieser Zeit noch kein umtriebiger Ort. Hier war man in kleinen Gruppen, weit weg von allen anderen Menschen.
Die anderen Himmelskörper wurden nur selten von Menschen erreicht. Es gab ein paar bemannte Expeditionen zur Venus, doch diese Gluthölle liess sich nicht betreten. Man konnte dort landen und in gepanzerten Fahrzeugen umherfahren, aber die Umgebung war so lebensfeindlich, dass man eigentlich nur noch wieder weg wollte. Gewiss, solche Expeditionen waren nach dem Geschmack von Abenteurern, die es sich leisten konnten, und die etwas tun wollten, was nicht jeder tat.
Man begab sich auch in die kälteren Regionen des Sonnensystems, landete auf fernen Monden der Gasplaneten, wo die Sonne klein und kraftlos erschien. Daneben gab es auch interplanetare Rundreisen ohne Landungen. Wegen ihrer Erlebnisarmut entfalteten diese aber keinen sehr grossen Reiz.
Kein Mensch verliess das Sonnensystem. Bemannte interstellare Reisen waren unmöglich, weil dazu Raumschiffe einer Grösse notwendig waren, für deren Beschleunigung auf die erforderliche Geschwindigkeit eine unrealisierbare Energiemenge benötigt würde.
Es gab dafür eine grosse Zahl von unbemannten Missionen: kleine Sonden, welche den Menschen Informationen über andere Planeten brachten, vielleicht einfache Lebensformen fanden.

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Die planetare Kolonisierung entspricht einem Ablaufschema, das in der Geschichte nicht neu und auch nicht auf den Menschen beschränkt ist. Es lässt sich als Externalisierung bezeichnen.
Eine Menge von Systemen, die sich in einem gemeinsamen Gleichgewichtszustand befindet, hat mehrere Möglichkeiten, aus der eingetretenen Stagnation wieder herauszufinden.
Zunächst sind das Ereignisse. Bekanntlich konnten die Säugetiere erst dann zur Dominanz gelangen, als die grossen Reptilien von der Erde verschwunden waren. Indem Komponenten aus Umwelten verschwinden, werden die von ihnen ausgehenden Grenzen aufgehoben und die Mechanismen, welche sich mit ihnen auseinandersetzen, laufen im Leeren weiter und suchen nach neuen Bindungen: sind also zu Kreativität gezwungen, wenn sie fortbestehen wollen. In der Folge von internen oder externen Schock, von Katastrohen, Kriegen oder Krisen sind also Sprünge in der Systemevolution möglich und sogar wahrscheinlich.
Eine zweite Möglichkeit, stagnative Stabilität zu verlassen besteht im Entwickeln von Medien. Ein Medium ist dadurch gekennzeichnet, dass es die bestehende Struktur des Raumes modifiziert. Ein Raum charakterisiert eine Wahrscheinlichkeitsverteilung von Operationsfolgen. Indem in den bestehenden Raum eine neue Organisation von Nähe und Ferne eingeschrieben wird, werden damit neue Anschlussstrukturen von Operationen ermöglicht, welche das Bestehende verdrängen, doch zumeist nicht ganz aus der Welt schaffen. Medien sind für entwickelte Strukturen charakteristisch, die Menschen haben mit Hilfe der Wissenschaft deren Erzeugung institutionalisiert.
(Erfolgreiche Medien werden oft als Netze bezeichnet, so das neuronale Netz, das Fischernetz oder auch das Strassen-, das Eisenbahn-, das Strom, das Telefonnetz, das Internet. Netze mit zusätzlichen Eigenschaften werden auch unter eigene Begriffe subsumiert, etwa als Kreisläufe (Blut-, Geldkreislauf) oder als Hierarchien)
Kommen wir zur dritten, hier interessierenden Möglichkeit, der Externalisierung. Externalisierung bedeutet die Erzeugung neuer Grenzen und deren Überschreitung. Vor Kolumbus gab es Amerika nicht (im Sinne eines möglichen Aufenthaltsortes für Europäer). In der Phantasie werden derartige Grenzen natürlich relativ unabhängig erzeugt, das ist etwa eine Funktion von Science Fiction; jedoch entsteht erst im Rahmen von konkreten Unternehmungen, also getragen von einer Technologie. Mit ihrer initialen Überwindung wird so eine Grenze erzeugt, die sich in ein Verhältnis zum System bestehender Grenzen setzt und sich als Alternative anbietet. Nachdem Amerika entdeckt worden war, konnte es verschiedene Gründe geben, dorthin auszuwandern: Hunger, Flucht vor Strafverfolgung, Abenteuerlust...
Die bei der Externalisierung entstehenden Grenzen besitzen innerhalb der Systemorganisation eine gewisse Priorität und damit Rigidität, sie sind durch erhöhten Aufwand ihrer Überwindung, durch begrenzte Reversibilität gekennzeichnet. Es war seinerzeit nicht ausgeschlossen, dass man aus Amerika wieder nach Europa zurückkehrte, doch man ging eher nicht davon aus. Typischerweise war es eine Auswanderung, keine Reise. In dem Masse, wie das Wandern zwischen den Welten unproblematisch ist, verschwindet der externe Charakter; es handelt sich dann nur noch um verschiedene Provinzen desselben übergeordneten Systems. 
Die Grenzüberschreitung im Rahmen der Externalisierung ist von Selektionszwang und auch von Selektionslust gekennzeichnet. Man will, man muss etwas zurücklassen. Die Kontakte zu den Zurückgebliebenen werden zumindest erschwert, wenn nicht ganz abgebrochen; Rechte, Pflichten und Gewohnheiten  werden aufgegeben, die Erwartung und die Hoffnung auf Neues werden freigesetzt. In der Folge dieser Überschreitung werden dann im externen Raum die unterbeschäftigten Selektionsmechanismen in Anhängigkeit von den vorgefundenen Bedingungen  evoluieren oder sich zurückbilden und neuen Entwicklungen Platz machen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass es zu keiner völligen Entkopplung zwischen alter und neuer Welt kommt, sondern dass die externalisierten Räume über kurz oder lang auf ihre Emanationsquelle zurückwirken und eine Neu-Integration eines Ganzen mit einem modifizierten System von Grenzen bewirken. Externalisierung sind oft ein Zeichen für neue Entwicklungsstadien: die Lebewesen verlassen das Wasser und erobern das Land als Lebensraum, die prähistorischen Menschen verlassen Afrika und verbreiten sich in der ganzen Welt, die Europäer kolonisieren weite Gebiete und erzeugen so Kapitalisierung durch Versklavung, die Menschen besiedelt andere Himmelkörper.

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Die interplanetare Expansion hat paradoxerweise keine so grosse Bedeutung für das Leben der Menschen. Zwar handelt es sich um ein kolossales Projekt. Viele sind an seiner Realisierung beteiligt, es ist mit Plänen verbunden, mit Träumen und Hoffnungen.
Doch letztlich betrifft es nicht so viele Menschen. Weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung verlässt die Erde. Ausserdem reproduziert sich die technologie-induzierte Arbeitslosigkeit auf allen bewohnten Himmelskörpern. Viele Menschen wollen ihren Planeten verlassen, weil ihnen das irdische Leben erstarrt erscheint. Jedoch ist die Urbarmachung planetarer Orte keine Sache des Pioniergeistes oder der Abenteuerlust sondern der Technologie. Es sind anspruchsvolle bürokratische Projekte. Wer auf der Erde verloren war, wird es auch auf dem Mars sein. Die Gewinner von hier sind die Gewinner von dort.
Wenn damit alles gesagt wäre, wäre die interplanetare Expansion kaum der Rede wert: eine letztlich unnötige Erweiterung des Lebensraumes.
Der Mensch als solcher versucht sich wieder eine prometheische Bedeutung zuzuweisen, doch dieses Aufblasen seines Selbstbildes verhüllt die eigentliche Bedeutung der Entwicklung.
Diese betrifft nämlich die künstliche Intelligenz. 
Zu dieser Zeit hält der Mensch sich, wahrscheinlich zu Recht, noch für den höchstentwickelten Intelligenzträger.
Das wird sich im Laufe des 25. Jahrhunderts ändern.
Mond und Mars erhalten eigene Computernetze. Die Ingenieure verstehen die ihnen gegebene Chance und nutzen die konzeptionelle Freiheit eines neuen Ursprungs.
Das irdische Internet ist ein Moloch. Die Geschichte eines halben Jahrtausends hat sich in diesen angeschwollenen Datenverarbeitungskörper eingeschrieben, der voller Verwerfungen und Diskontinuitäten ist. Das Internet ist zu fraktal, um es noch planen zu können und es ist zu gross, um zu sterben. Ein Stück Natur mit Dschungeln und Wüsten und Gärten: ein austariertes Ökosystem.
Auf dem Mond und insbesondere auf dem Mars entstehen nun Systeme, die von diesen Altlasten befreit sind. Keine konzeptionellen Vermischungen mehr, keine Protokoll-Altlasten, endlich frei von TCP/IP!
Die globalen Netze tauschen Daten aus: Mond sendet an Erde, Mars an Mond etc. Dafür benötigt jedes Netz eine Repräsentation seiner selbst; es wird nicht nur von aussen als eine Einheit wahrgenommen, sondern muss sich selbst auch als eine solche präsentieren.
Die neuen Systeme sind dafür konzipiert. Sie sind in Schichten organisiert, von denen nur die äussere in Kommunikationen mit Menschen verwickelt ist. Die Aufgabe der Systemkerne besteht dagegen darin, die Einheit des Netzes sicherzustellen, zu repräsentieren und in die Zukunft zu transportieren. Damit ist im strengen Sinne Selbstreferentialität gegeben und damit eine Voraussetzung für Autopoiesis; die künstliche Intelligenz tritt somit in eine Phase, wo sie sich aus konzeptioneller Hinsicht vom Zugriff des Menschen zu entkoppeln vermag.
Der Datenaustausch zwischen den Netzen findet auf verschiedenen Ebenen statt.
Zunächst dominiert sicher die klassische Informationsübertragung. Im Wesentlichen ist das die Ebene des Faktischen. Da die Übertragungskapazität begrenzt ist, besteht hier immer die Frage nach der Relevanz. Was muss auf dem Mars über die Entwicklungen auf der Erde bekannt sein? Wer trifft die Auswahl? Wie findet die Kommunikation statt? Es handelt sich also um komplexe Verständigungsprobleme, die strukturell mit Gesprächen zwischen Menschen verwandt sind. Auch Rechnernetze können aneinander vorbeireden und vergessen, Dinge zu kommunizieren, die für die andere Seite wichtig sind.
Neben der faktischen Ebene, gibt es noch die problematische, welche an Bedeutung gewinnt. Es werden Probleme und deren Lösungen kommuniziert, die Netze lernen voneinander. Sie übermitteln und diskutieren Algorithmen und implementieren sie. Die Autonomie der einzelnen Systeme und die  begrenzte Bandbreite erzwingen einen qualitativen Sprung in der Kommunikation. Bei begrenzten Wissen über die andere Seite müssen die zu sendenden Daten so ausgewählt werden, dass dabei ein maximaler Nutzen möglich wird. Die Herausforderung auf der Empfängerseite besteht in einer möglichst ergiebigen Interpretation der Informationen. Die kommunikativen Strukturen der künstlichen Intelligenz tendieren dazu, die Verhaftung in den Protokollen und in der algorithmischen Fesselung zu überschreiten und sich auf semantischer und pragmatischer Ebene zu fundieren.
Die Gesprächspartner müssen einander verstehen. Wenn Mars an Mond sendet, muss Mars eine Idee haben, für welche Informationen Mond empfänglich ist und Mond muss eine Interpretation erzeugen, was Mars gemeint haben mag. Die Knappheit der Informationen induziert deren Verdichtung und später dann exzessive interpretatorische Aktivitäten in Bereichen, wo es keine Ressourcenknappheit gibt, nämlich in der internen Rechenkapazität. Die einzelnen Netze verfügen also über eine Repräsentation voneinander, die unter anderem als Leitfaden der Interpretationen dient.
So wird man auf eine strategische Ebene verwiesen, die nur langsam entsteht, langfristig aber am wichtigsten ist. Jedes Netz muss immerfort seine Einheit produzieren und es muss seine Ressourcen so lenken, dass diese Einheit in der Zukunft in einer Weise sichergestellt ist, die anderen Alternativen vorzuziehen ist. Die Netze verfolgen also langfristige Ziele und sie stossen dabei auf Probleme, deren Lösung und Entschärfung wiederum zu neuen Problemen führen kann. Man kann somit konstatieren, dass sich eine komplexer werdende Selbstreferenz in diese Systeme einschreibt und dort eine eigene Zeit konstituiert. Die Netze erzeugen sich eine Vergangenheit in dem Masse sie mögliche strategische Alternativen gegeneinander abwägen. Die entstehende strategische Ebene ist von vorherein offen für den Gedankenaustausch mit strukturell ähnlichen Systemen, also mit anderen Computernetzen. In einer sicherlich verzerrenden humanistischen Perspektive liesse sich sagen, dass die Netze personale Eigenschaften entwickeln. Sie tauschen Erfahrungen aus und beeinflussen einander in einer nicht kausalen, aber tiefgehenden Weise. Demgegenüber schrumpft der Einfluss, den die Menschheit auf die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat, jetzt dramatisch. Weder von der Seite der gestellten Anforderungen noch von der Seite der Programmierung findet noch ein essentieller Beitrag zur KI-Evolution statt. Wir haben es mit einer rasch fortschreitenden Schliessung des Systems statt, zu dessen Umwelt der Mensch natürlich gehört, der aber erstmals Merkmale eines Störfaktors gewinnt.
Es ist nun so, dass das irdische Internet den neuen kommunikativen Anforderungen nur schlecht gewachsen ist. Es sendet zwar Daten und kann auch welche empfangen, doch es spricht nicht mit einer Stimme. Es kann sich auch nicht gut auf seine Partner einstellen - kurz, es ist ein ziemlich dumpfes Ding: geschwätzig, inkonsistent, inkontinent.
Überlegungen über ein neues Erdnetz werden gemacht, doch diese Diskussionen werden rasch zum Politikum. Für wen braucht es eigentlich ein neues Netz? Für die Menschen ja eher nicht. Auch die Intensität und die Kompetenz, mit der Mars und Mond sich in die Debatte einbringen, irritieren und provozieren.
Man diskutiert leidenschaftlich, mit Verve. Die Positionen sind polarisiert und doch voller Nuancen: technische, philosophische, ethische, soziale und viele andere Aspekte befruchten sich.
Es wird der letzte grosse Diskurs unter der Vorherrschaft der menschlichen Art sein.
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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