Gabi Sicklinger

RosenLeben

 

Es war ein Herbsttag so warm, wie man ihn sich für den Sommer gewünscht hätte, der sich kühl und launisch gegeben hatte. Sarah, eine schlanke Frau, fegte säuberlich die Blätter von der Terrasse, um es sich anschließend im Gartenstuhl gemütlich zu machen. Dies war ungewohnt für sie, denn bislang fand sie nur äußerst selten Zeit, ihren Blumengarten zu genießen. Beruflich hatte sie sich in all den Jahren nach oben gestrampelt, und das Arbeitsleben forderte sie hart. Aus diesem Grunde hatte sie sogar auf eine eigene Familie verzichtet, man musste schließlich Prioritäten setzen im Leben – und sie hatte sich für die Karriere entschieden.

Doch seit ein paar Tagen war alles anders. Sie war in Rente und hatte plötzlich Zeit, und zwar enorm viel. So sehr sie sich darauf gefreut hatte, musste sie jedoch feststellen, dass seitdem ein unangenehmes Gefühl von Leere in ihrem Inneren nagte. Dem versuchte sie auf den Grund zu gehen, während sie versonnen die Centifolia betrachtete, ihre Lieblingsrose, welche gerade dabei war, eine ihrer rosafarbenen Blüten zu entfalten.

„Ja genau“, entfuhr es ihr. „Das ist es! Ich fange jetzt erst mal zu leben an, denn ich habe ja noch gar nicht richtig gelebt.“

Zufrieden über die so schnell gefundene Lösung erhob sie sich und trat zu der Rose, um sich an ihrem feinen, unvergleichlichen Duft zu erfreuen. Die Blüte war zur Sonne ausgerichtet und erinnerte an eine Liebende, die ihrem Liebsten den Mund zum Kuss darbot. „Wie wunderschön“, dachte Sarah ergriffen. „Bloß schade, dass du nur so kurze Zeit blühst.“ Schon morgen würde die Pracht vorbei sein, weshalb sie überlegte, den Sonnenschirm aufzuspannen.

„Bitte nicht“, war es ihr plötzlich, als hörte sie eine zarte Stimme. „Ich brauche die Sonne zum Leben.“

Verdutzt starrte Sarah auf die Rose, während diese ihre Blüte leicht zur Seite zu neigen schien und fortfuhr.

„Meine Lebenszeit mag in deinen Augen kurz sein. Aber ich habe mich dann vollkommen hingegeben, und es wird ein einziges Freudenfest gewesen sein.“

„Aber ich kann dein wunderbares Leben verlängern, wenn ich dir Schatten gebe“, erwiderte Sarah freundlich.

„Dann nimmst du ihm etwas von seiner Schönheit, von seiner Intensität. Meine Zeit zu leben ist heute. Ich kann nicht morgen blühen, und im Winter schon gar nicht.“

„Ja das verstehe ich, aber macht es dir denn nichts aus, dass du morgen schon sterben musst?“

„Ich komme doch nächstes Jahr wieder“, antwortete die Rose sanft und wandte sich erneut der Sonne zu.

Nachdenklich sank Sarah zurück auf den Stuhl und spürte, wie sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten.

 

 

© Mandalena (2011)


 

 

Foto: SicklingerGabi Sicklinger, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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