Manfred Bieschke-Behm

Ich wollte nicht hassen



Markus Schönfeldt wollte nicht, dass der erste Schuss seinen Halbbruder Justus Falkenberg tötet. Bewusst hatte er sechs Schüsse abgefeuert. Die erste Kugel richtete er auf die Glasvitrine, deren Scheibe sowie Gläser und Geschirr klirrend zu Bruch gingen. Er wollte seien Halbbruder verunsichern und ihm deutlich machen, dass es ihm ernst ist. Justus, von der Detonation erschrocken, hielt sich beide Ohren zu. Die zweite Kugel traf gezielt eines von zwei gerahmten Fotos, die auf dem Schreibtisch standen. Auf dem Foto war sein Halbbruder am Strand stehend, seine beiden nackten Söhne auf den Armen tragend, abgelichtet. Die Kugel fegte das Bild vom Schreibtisch, wirbelte es durch die Luft, bis es schließlich völlig zerfetzt auf dem Teppichboden liegen blieb. Justus Falkenberg stierte auf das zerschossene Foto und ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sein Halbbruder die Waffe auf ihn richtet. Flehend in seiner Todesangst bat er Markus, ihn zu verschonen. "Wir können doch über alles reden", wimmerte er und ging fast demütig einen Schritt auf seinen Halbbruder zu. Markus Schönfeldt wich einen Schritt zurück. Er merkte, dass er nervös wurde. Ihm stieg Blut in den Kopf und er fing an wahnsinnig zu schwitzen. Seine verklebten Haare hingen herunter wie lästige Strippen. Sein Hemd war schweißgetränkt und klebte unangenehm am Körper.
"Bitte nicht schießen …", beschwor Justus seien Halbbruder, als ihn der erste Schuss traf. Der Getroffene presste schmerzverzehrt seine linke Hand auf die rechte Schulter und versuchte so das heraussickernde Blut zu stoppen. "Diese Kugel ist Genugtuung für deinen Sohn Maximilian, den du durch deinen sexuellen Missbrauch zu einem seelischen Krüppel gemacht hast ", schrie Markus Schönfeldt wie irre geworden und drückte erneut ab. Diesmal traf die Kugel den linken Oberschenkel. Der Schuss streckte Justus nieder. Er fiel röchelnd zu Boden und fing an wie ein kleines Kind zu wimmern: "Bitte nicht. Ich kann dir alles erklären."
"Ich brauche keine Erklärungen, du Schwein. Ich weiß mehr, als ich verkraften kann", rief Markus Schönfeldt mit hassverzerrten Gesichtszügen und erklärte, dass der zweite Schuss der Preis für Konstantin, seinen jüngeren Sohn sei, dessen Leben er ebenfalls durch sein Tun zerstört hat. Für Schuss drei stellte er sich breitbeinig über seinen Halbbruder und schoss ihm unvermittelt in den Genitalbereich Das Blut schoss wie eine Fontäne aus der zerfetzen Hose und vermengte sich mit den anderen Blutquellen, die nicht aufhören wollten zu fließen. Es war ihm eine Genugtuung, Justus gequält am Boden liegen zu sehen. Unaufgefordert erklärte er, dass der Schuss in die gottverdammten Eier als Racheakt für seine Ex zu verstehen ist, die bis heute unter seiner Rohheit und Gefühlskälte litt. Der übel Zugerichtete hatte keine Kraft mehr um sein Leben zu bitten. Er sah seinen Halbbruder flehend, so als würde er um den Gnadenschuss bitten. Die Vierte, aus nächster Nähe abgegebene Kugel, traf Justus mitten ins Herz. Mit der letzten Kugel wollte Markus Schönfeldt schmerzhafte Erinnerungen und Hassgefühle töten. Er war als Junge selbst Opfer eines Sexualtäters, und weiß, was seine Neffen durchmachen.
Total erschöpft senkte Markus Schönfeldt die Waffe während er mit beiden Füßen in einer sich immer weiter ausdehnenden Blutlache stand. Er spürte kein Mitleid, keinen Ekel. Nur Genugtuung und schwindenden Hass. Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Zunächst müsste er die blutverschmierten Schuhe säubern, soviel war ihm klar, auch Spuren verwischen und verschwinden lassen war wichtig. Angst von Nachbarn oder zufällig vorbeikommende Passanten entdeckt zu werden hatte er nicht. Das Wochenendhaus, das sein Halbbruder vor Jahren angemietet hatte, lag außerhalb der Ortschaft, einsam am Rande eines Feldes. 
***
Kommissar Fabian Freibier und sein Assistent Thorsten Klebus sitzen gelangweilt in ihrer Amtsstube und unterhalten sich über das letzte Bundesligafußballspiel, als das Telefon klingelt. "Ja - verstanden - wir kommen - ist die Kriminaltechnik vor Ort? - Okay."
Mit "Komm, Klebus - auf uns wartet Arbeit", fordert Freibier seinen Assistenten zum Gehen auf.
Vor Ort werden der Kommissar und sein Assistent schon erwartet. Die Spurensicherung ist aktiv.
"Gibt es Auffälligkeiten?", erkundigt sich der Kommissar, während sein Assistent in das Zimmer geht, in dem der Tote liegt.
"Nichts Besonderes, Herr Kommissar", erklärt der Ermittler. "Nach erster Einschätzung handelt es sich um einen gezielten Mord. Insgesamt wurden sechs Schüsse abgefeuert. Vier trafen das Opfer, jeweils ein Schuss die Vitrine, und ein Schuss ein gerahmtes Foto, das zerfetzt auf dem Boden liegt.
Während dem Kommissar die Erkenntnisse mitgeteilt werden, läuft er mit dem Ermittler in das Zimmer, in dem das Opfer liegt und vor dem der Assistent kniet.
"Brutal", kommentiert der Assistent den Anblick, der sich ihm und den anderen bietet. "Der Schuss in den Genitalbereich lässt auf Rache schließen."
Der Kommissar nickt, was so viel heißt wie, ich bin der gleichen Meinung, und erklärt: Rache oder Hass könnte die Ursache für das Verbrechen sein.
"Gibt es Hinweise auf den oder die Täter?", möchte der Kommissar wissen.
"Bisher nicht", lautet die knappe Antwort des Mannes von der Spurensicherung.
"Wer ist das Opfer?", erkundigt sich der Kommissar.
"Es handelt sich um Justus Falkenberg, 56 Jahre, geschieden, zwei erwachsene Söhne, alleinlebend."
"Kann die Leiche abtransportiert werden?", wird der Kommissar gefragt.
" Wenn alle kriminaltechnischen Untersuchungen am Leichnam abgeschlossen sind, spricht nichts dagegen."
 

***
 
"Die Exfrau von Justus Falkenberg ist jetzt da. Soll ich sie reinrufen?"
"Ja, Klebus. Sie soll reinkommen".
Der Kommissar bittet Frau Ingeborg Falkenberg Platz zu nehmen und fragt nach dem Verhältnis zu ihrem Ex-Mann.
"Meine Ehe verlief in den ersten Jahren zufriedenstellend. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten, bekamen zwei Söhne, hatten unser Auskommen … "
Der Kommissar unterbricht Frau Falkenberg und fragt: "Gab es Auffälligkeiten."
"Auffälligkeiten insofern, als beide Söhne im Kleinkindalter, besonders der Ältere, plötzlich eine Abneigung gegenüber ihrem Vater entwickelten."
"Was meinen Sie mit Abneigung?", erkundigt sich der Assistent.
"Meine Söhne mochten es von einem Tag zum anderen nicht mehr von ihrem Vater auf den Arm genommen zu werden. Sie fingen an zu weinen, wehrten sich, wenn er sich ihnen näherte. "
Der Kommissar und sein Assistent erfuhren weitere Details über das Zusammenleben. Unter anderem, dass Frau Falkenberg seit vielen Jahren den Verdacht hegt, dass sich der Vater an beiden Söhnen im Kleinkindalter sexuell vergangen haben könnte. Eine Freundin, mit der sie über Jahre keinen Kontakt mehr hatte und später wiedertraf, verstärke ihren Verdacht. Von ihr erfuhr sie, dass ihr Ex-Mann es versucht hatte, sich ihrem Sohn im Windelalter sexuell zu nähern, was sie zu verhindern wusste. Auf die Frage, warum sie ihr davon nicht erzählt hat, erklärte die Freundin: Aus Schamgefühl und Angst, man würde ihr nicht glauben. Die Männer waren eng befreundet, und ihre Ehe stand auf dem Spiel. Das waren die Gründe für sie, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgt. Stattdessen hatte sie ohne eine Begründung die Freundschaft einschlafen lassen.  
"Hegten Sie jemals ein Gefühl des Hasses gegenüber Ihrem Mann", wird Frau Falkenberg möchte der Assistent wissen.
"Ich habe meinen Ex abgrundtief gehasst, und ich hasse ihn noch. Er hat das Leben der gesamten Familie zerstört."
 
***
 
Die getrennten Verhöre der Söhne Maximilian (37) und Konstantin (24) machten deutlich, was der Vater für seelischen Schaden angerichtet hat. Speziell Maximilian hat mit den Folgen zu kämpfen. Er leidet unter großen Ängsten, sozialen Kontaktschwierigkeiten und Fettleibigkeit. Seit Jahren lebt er im betreuten Wohnen. Auf die Frage, ob er bis zum Tod seines Vaters Kontakt mit ihm hatte, gibt er zur Antwort: "Anfangs gab es Briefkontakte, später nichts dergleichen." Er hasse seinen Vater. Das wiederholte er im Verhör ungewöhnlich oft mit Tränen in den Augen. 
"Gibt es weitere Verwandte, mit denen Sie Kontakt haben oder hatten", fragt der Kommissar.
"Ja, es gibt einen Halbonkel. Dabei handelt es sich um den Halbbruder meines Erzeugers. Er lebt in Stuttgart. Seit etwa zwei Jahren besteht der Kontakt, den mein Erzeuger eingefädelt hat."
***
"Dürfen wir hereinkommen?", erkundigen sich der Kommissar und sein Assistent.
"Worum geht es denn?", möchte Markus Schönfeldt wissen und hält krampfhaft die Wohnungseingangstür nur einen Spalt offen.
"Wir sind von der Kripo und haben ein paar Fragen an Sie."
"Können Sie sich ausweisen"
Der Kommissar und sein Assistent zeigen ihre Dienstausweise und werden hineingebeten.
Nur wenige Sekunden, nachdem die Herren die Wohnung betreten haben, spürt Markus Schönfeldt eine Enge und Trockenheit in seinem Hals. Er muss sich räuspern und schnappt nach Luft.
"Ist Ihnen nicht gut?", erkundigt sich der Kommissar.
"Alles in Ordnung", wehrt Markus Schönfeld mit einer flapsigen Handbewegung ab.
"Wann hatten Sie Ihren letzten Kontakt mit Ihrem Halbbruder Justus Falkenberg?"
Markus Schönfeldt versucht den Blickkontakt zum Kommissar zu halten und antwortet: "Ich kann mich nicht erinnern, wann das war. Ist lange her."
"Herr Schönfeldt, Sie stehen unter dem dringenden Tatverdacht, Ihren Halbbruder Justus Falkenberg erschossen zu haben. Möchten Sie sich zu dem Vorwurf äußern?"
Markus Schönfeldt spürt, dass sich die Schlinge anfängt um seinen Hals zuzuziehen, und er spürt, dass ihm die Kraft zum Leugnen fehlt; gleichzeitig empfindet er Erleichterung. "Ja, ich habe meinen Halbbruder getötet. Er hat meiner Familie so viel Leid angetan, dass zum Schluss nur noch Hass übrig blieb. Ich weiß aus Erfahrung, was es bedeutet als Kind sexuell missbraucht zu werden, und wie es sich mit den Spätfolgen schlecht leben lässt."
"Herr Schönfeldt, ich verhafte Sie wegen heimtückischen Mordes an Ihrem Halbbruder Justus Falkenberg. Ich muss Sie bitten mitzukommen."
 
***
 
"Wie sind Sie darauf gekommen, dass Schönfeldt der Täter ist?" möchte der Assistent vom Kommissar wissen.
"Mir fiel im Nachhinein im Mordzimmer ein Foto auf. Ein Foto mit dem Toten zusammen mit seinem Halbbruder. Ich hatte mir die Frage gestellt, weshalb das Foto mit dem Toten und seinen Söhnen weggeschossen wurde und nicht das andere", gibt der Kommissar zur Antwort.
"Haben Sie eine Erklärung dafür?", möchte der Assistent wissen während er den Aktendeckel schließt.
"Nein. Nur so ein Gefühl", ist die knappe Antwort. "Nur so ein Gefühl."        
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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