Irene Beddies

Gehasst - geliebt...

An der Bushaltestelle am Friedhof stand ein Wartehäuschen. Selten sah man einen Fahrgast dort warten, aber heute saß ein Mann mittleren Alters auf der schmalen Bank und zerpflückte zornig eine rote Gerbera. Dabei murmelte er unhörbar. Sicherlich war es der alte Magiespruch: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht…“
Der Mann im grauen Anzug sah kaum auf, als sich eine alte Dame zu ihm setzte. Sie sah ihm eine Weile interessiert zu, dann gab sie sich einen Ruck und fragte: „Spielen Sie das alte Spiel?“
Der Mann guckte verwundert die alte Dame an, die er offenbar noch nicht bemerkt hatte.
„Sie liebt mich nicht. Sie ist meine Hölle. Klara hat mein Leben zerstört und meine Liebe mit Füßen getreten.“
Er verstummte. Die alte Frau wartete schweigend auf eine weitere Erklärung, wollte den ihr unbekannten Mann aber nicht mit ihrer Neugier oder Anteilnahme verletzen.
Als das letzte Blütenblatt der Gerbera auf dem Boden lag, seufzte der Mann tief: „Sie verfolgt mich Tag und Nacht. Sie tanzt in einem grünen Kleid auf meinem Herzen herum. Sie ist die grüne Schlange und hat sich bis in meine Seele geschlängelt. Dort hat sie ihr tödliches Gift verspritzt.“
„Wer ist sie?“, wagte die Dame nun doch zu fragen.
„Sie ist meine Geliebte, mein Ein und Alles. Aber Klara hat  mir nie vertraut. Ich habe alles für sie getan, habe dabei alles vernachlässigt, um ihr zu Diensten zu sein. Sie hat nur gelacht. Sie hat meinen Lebensmut zerstört. Ich bin ihretwegen im Beruf gescheitert, habe meine Freunde und meine Freude verloren. Nacht für Nacht kommt sie als Nachtmahr und drückt mir das Leben ab. Ich wünschte, ich könnte sie töten, wenn sie nicht schon in ihrem Grab läge – gleich rechts am Eingang. Ich bringe ihr jeden Tag Blumen mit einem Fluch.“
Die alte Dame erschrak und entfernte sich eilig.
 
Am nächsten Sonntag saß wieder ein Mann im Wartehäuschen, als die alte Dame sich setzte. Er war etwas ärmlich gekleidet, trug einen Bart und hatte seine wilden Haare zu einem Schwanz im Nacken gebunden. Er machte einen äußerst glücklichen Eindruck. Er hielt eine gelbe Rose in der Hand, die er offenbar von einem Busch abgepflückt hatte. Er strahlte die Blume an und küsste sie von Zeit zu Zeit.
Als er den verwunderten Blick der Frau neben sich endlich bemerkte, wandte er sich zu ihr hin und rief: „Ich bin ja so glücklich!“ Die alte Dame nickte ihm zu.
„Sie hat mich so reich gemacht mit ihrer Liebe! Was sind schon Geld und Gut, möchte ich Sie fragen, gegen Liebe und Vertrauen! Maria liebt mich. Sie macht mir Mut. Jede Nacht träume ich von ihr, wie sie in ihrem grünen, schimmernden  Kleid über eine Wiese tanzt und dabei meinen Namen ruft.“
„Mit der Rose?“, fragte die alte Frau.
„Nein, die wächst an ihrem Grab, gleich rechts neben dem Eingangstor. Dort stehen auch immer frische Blumen. Wer sie dort hinstellt, weiß ich nicht. Ich freue mich jedenfalls, dass noch ein weiterer Mensch an sie denkt.“
Der Bus kam, der Mann stieg ein, nicht ohne der alten Dame ein Lächeln geschenkt zu haben. Sie lächelte zurück und winkte.
 
Danach ging sie entschlossen durch das Tor in den Friedhof, wandte sich nach rechts und stand vor einem Grab mit einem schlichten Stein darauf.
„Meiner Tochter KLARA MARIA“ trug der Stein als Inschrift. Eine Vase mit roten Gerbera stand vor dem Stein. Dahinter wuchs ein Strauch mit gelben Rosen.
„Klara Maria“, murmelte die Frau, „Klara und Maria. Wer warst du? Gehasst und geliebt. Glück enttäuschend und Liebe bringend. Wie kann das sein?“
 
 
© I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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