Manfred Bieschke-Behm

Outing


Im Grund ist es mein Klassenlehrer, der mein Leben verändert hat. Ich heiße Manuel, bin 16 Jahre alt und einer, der gerne geliebt und bewundert wird. Neulich sagte Stefan zu mir, dass er keinen Zweiten kenne, der sich so modebewusst kleidet. Nun gut, ich achte schon darauf, dass alles zueinanderpasst. Mir macht es Spaß, soweit es möglich ist, mit der Mode mitzugehen. Wenn mir danach ist, betrachte ich mich ausgiebig im Spiegel so zum Beispiel im dem, der auf dem Klo hängt oder in den Fensterscheiben der Schulflure an denen ich vorbeiflaniere. 'Bist schon ganz schön eitel', sage ich zu mir und fühle mich dabei wohl. Besonderen Wert legte ich auf meine Frisur. Die Haare müssen sitzen, jedes Haar gehört an die richtige Stelle. 'Gestylter Gockel' nennen mich manche, auch 'unsere Gymnasium Modepuppe'. Beides Bezeichnungen, die mir nicht gefallen die mir Lebensfreude nehmen mit denen ich aber gelernt habe umzugehen. Gestern hatten ein paar Jungs hinter mir hergepfiffen, was ich als Bewunderung zu registrierten versuchte. Bekomme ich mit, dass Mitschüler über mich sprechen und verstummen, wenn ich in deren Nähe bin, tue ich so, als bekäme ich nichts mit und gehe mit erhobenem Haupt an ihnen vorbei. Bei vielen Mädchen bin ich, zum Ärgernis mancher Schulkameraden, sehr beliebt. Die Mädchen flirten gerne mit mir und ich flirte gelegentlich zurück.
Heute ist mir was passiert, dass ich hätte besser nicht erlebt. Unvermittelt fragt mich Torsten in der ersten großen Pause auf dem Schulhof: "Sag mal, bist du schwul?" Er fragt mich das nicht leise und diskret, nein er stellt mir die Frage bewusst laut, sodass alle im Umkreis die Frage hören und mir neugierige Blicke zu werfen. Sie schienen gespant zu sein, wie ich zu reagieren gedenke. "Wieso soll ich schwul sein?", fragte ich zurück und spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Alle mich anstarrenden Gesichter erschienen mir wie dämonische Fratzen mit Fragezeichen auf den Stirnen. Letztendlich gab mir nicht Torsten eine Antwort auf meine Frage, sondern Benn: "Weil du dich anziehst wie eine Tunte.", zur Unterstützung seiner Aussage wackelte er übertrieben mit seinen Hüften hin und her und streckte seine Zunge raus, die er demonstrativ von rechts nach links bewegt und dann entgegengesetzt. Alle Anwesenden grölten und pfiffen, als ginge es eine Meisterschaft zu gewinnen. Ich fühle mich einer zerstörungsfähigen Horde wilder Menschen ausgeliefert. "Lasst doch den Manuel in Ruhe", schreit Sophia und stellt sich demonstrativ vor mir, gerade so, als würde sie mich vor einer beißwütigen Meute schützen wollen. Die aufgewühlte Sophia fügt noch hinzu: "Hat euch Manuel was getan, dass ihr ihn so anmacht?" Betretendes Schweigen. Nur vereinzelt Mitschüler meinten, ihre Klappe nicht halten zu müssen. 'Einen Schwanzlutscher in unserer Mitte brauchen wir nicht', war das Letzte, dass ich zu hören bekam, bevor sich die Versammlung auflöst, weil die Pausenglocke die nächsten Schulstunden einläutet.
Der Klassenlehrer betritt den Klassenraum. Alle Schüler setzten sich auf ihre Plätze und folgen seinen Anweisungen. Mir fällt es schwer, mich zu konzentrieren. Die Schulstunden gehen vorbei, ohne dass irgendetwas vom Lehrstoff bei mir haften bleibt.
Zweite große Pause. Alle Schüler verlassen den Klassenraum. Ich zögere, möchte am liebsten im Klassenzimmer bleiben. "Ist was Manuel?", erkundigt sich der Lehrer. Ich weiß nicht, wie ich auf diese Frage reagieren soll. Ich beschließe gar nicht zu sagen und versuchte mich aus dem Klassenraum zu schleichen. Bevor ich die Klassenzimmertür hinter mir zuschlage, fragt mich der Lehrer:  "Kann ich dir helfen?" "Ich weiß nicht - ich glaube nicht", stottere ich und bin froh, die Tür hinter mir zugemacht zu haben, ohne dass es einen weiteren Wortwechsel gab.
Ich verspüre keine Lust, auf den Schulhof zu gehen. Weiteren Anfeindungen, so glaube ich, bin ich nicht gewachsen. Plötzlich wird mir bewusst, dass mir mein bisher unbeschwertes Leben zur Last wird. Statt auf den Hof, gehe ich aufs Klo. Ich will mir meine nass geschwitzten Hände waschen und in den Spiegel zu schauen. Diesmal soll der Spiegelblick nicht meine Eitelkeit befriedigen, vielmehr möchte ich wissen wen und was ich im Spiegel sehe.
Gerade als ich dabei bin mich kritisch zu betrachten, betritt mein Klassenlehrer den Toilettenraum. Er kommt auf mich zu und sagt: "Ich habe das, was vorhin auf dem Schulhof geschah, mitbekommen. Bewusst bin ich nicht eingeschritten. Ich war und bin der Meinung, dass ich die aufgepeitschte Situation nicht beendet hätte, eventuell wäre bei einem Eingreifen genau das Gegenteil passiert und das wäre ganz bestimmt nicht in deinem Sinne gewesen."
Mir ist die Anwesenheit, und der Tatsache, das mein Lehrer Zeuge des Vorfalls war, unangenehm. Genauso unangenehm, wie die Begegnung auf der Toilette. Wenn jetzt zufällig Schüler dazu kämen, gäbe es Gesprächsstoff für die nächsten Tage, schießt es mir siedend heiß durch den Kopf. Ich wende mich weg vom Spiegel und will den Toilettenraum verlassen. Doch mein Lehrer lässt mich nicht gehen ohne mir zu sagen, dass er aus eigener Erfahrung weiß wie schwer es ist sich zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen. Er war viel älter als ich, als er sich outete, erzählt er mir. Er ging Wochen, Monat und Jahre durch die Hölle, erfuhr ich. "Das möchte ich dir ersparen. Stehe zu dem, der du bist. Versuche nicht deine Identität infrage zu stellen. Je mehr du versuchst nicht du selbst zu sein, je schwieriger wird es für dich, deinen Alltag zu meistern," sagt er mir ohne einen Blickkontakt zu vermeiden.
Ich drehe mich zurück zum Spiegel und betrachte jetzt nicht mich, sondern schaue in die ehrlichen Augen meines Lehrers.
Die Pausenglocke läutet die nächste Schulstunde ein. Alle Schüler nehmen ihre Plätze ein. Der Klassenlehrer will anfangen uns Schülern auf das Thema für die nächste Stunde einzustimmen. Da stehe ich auf und bittet darum etwas sagen zu dürfen. Alle, auch der Lehrer, starren mich überrascht an. "Ich möchte euch mitteilen, dass ich schwul bin. Wenn jemand damit Schwierigkeiten hat, besteht jetzt die Gelegenheit sich zu äußern."
Ich setzte mich und zittere am ganzen Körper. Mir ist übel. Muss ich mich übergeben oder halte ich durch? Ich weiß es nicht. Mein Magen verkrampft sich. Ich spüre einen starken Kopfschmerz. Es scheint, mein Herz schlägt nicht in meiner Brust, sondern im Kopf.
Der Lehrer, etwas verlegen, setzt sich auf die Kante seines Schreibtisches. Er schaut seine Schülerinnen und Schüler an und wartet, ob irgendjemand etwas sagen möchte. Absolute Stille. Unheimliche Stille. Kaum zu ertragende Stille beherrscht den Klassenraum.
Der Lehrer unterbricht die Totenstille und sagt: Ich finde es von Manuel sehr mutig, sich hier vor euch zu outen. Er hat meine Hochachtung. Schwul sein ist keine Modeerscheinung, ein nicht selbst ausgesuchter Zustand. Ich finde, jeder von euch sollte über diese Grundwahrheit nachdenken. Auch über die Frage: "Was wäre, wenn ich schwul wäre".
Der weitere Verlauf der Schulstunde verläuft wie gewohnt, wie auch die nächste, der Letzen vor Schulschluss. Nicht wie sonst tun sich meine Mitschülerinnen und Mitschüler heute schwer das das Klassenzimmer zu verlassen. Um mich herum gruppierten sich nicht wenige und gratulieren mir zu meinem Outing. Torsten und Benn verlassen als Erste das Klassenzimmer. Sie wissen noch nicht, wie sie mit meinem Outing umgehen sollen. Sie fühlen sich ausgegrenzt.  
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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