Marion Bovenkerk

Aus

 

Dort draußen pulsierte das Leben. Der Himmel leuchtete in einem strahlendem Blau. Die Sonne zeigte, obwohl schon auf dem Abend zu gehend, wessen sie fähig war. Staubteilchen tanzten durch das Fenster einfallende Sonnenlicht.

Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Die Außentemperatur lag beinahe 7°C über dem Durchschnittswert.

In Frankfurt am Main stellten sich, in einem Brief an die Mitarbeiter einer renommierten Bank, der Vorstand und der Aufsichtsrat hinter den Vorstandssprecher des Institutes. Nach dem Scheitern einer Fusion, war über eine Ablösung des besagten Vorstandssprechers spekuliert worden.

In London wiederum verlor ein Historiker eine Verleumdungsklage gegen eine US Wissenschaftlerin, die ihn in ihrem Buch als ein Leugner des Holocaust bezeichnet hatte. Der Richter bezeichnete, so hatte er gehört, jenen Historiker als „Antisemiten und Rassisten“.

Aber wie dem auch sei,  e r  stand  h i e r.  
Und das hier, das hier ging nun einmal überhaupt nicht. 
Das konnte nicht wahr sein, schon alleine deswegen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Außerdem  heute  war sein Skat-Abend. Seit 45 Jahren spielte er Dienstagabends Skat. Und morgen würde seine Jüngste ihren 32 Geburtstag feiern. Richtig feiern.

Hermann war konfus, fassungslos. Er konnte einfach nicht glauben, was sich just in diesem Moment vor seinen Augen abspielte. Nein, zuerst einmal käme er, Hermann, an die Reihe. Er als der Ältere, verdammt noch mal!

Doch es ging eben nicht immer der Reihe nach.
Gevatter Tod spielte seine, ihm ganz eigenen Karten aus. Nach seinen Regeln und Möglichkeiten.

So kam es, das Hermann, mit sich und der Welt im Unreinen, wütend, verzweifelt, überfordert und vollkommem machtlos am Fußende eines Krankenhausbettes, mitten in Bottrop, stand. Am Bett seines jüngeren Bruders, der unumstößlich seine letzte Reise angetreten hatte.

Hermann erinnerte sich noch genau daran, wie sein Bruder geboren wurde. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sein Vater ihn selbst aus dem Zimmer führte, hörte seine Mutter schreien, denn damals wurden die Kinder noch zu Hause geboren und er sah, wie sein Vater ihm später den kleinen, frisch gewaschenen und gewickelten Bruder zeigte, die Fäustchen dicht an den kleinen Kopf gepresst.

Klar und deutlich nahm vor seinem geistigen Auge dieses zerknautschte, rosige Gesichtchen wahr, roch den Babygeruch und spürte den Stolz in seiner Brust, als er, nur wenige Jahre älter, seinen kleinen Bruder bestaunte.

Und jetzt das...

Außer ihm selbst befanden sich gerade seine Frau Anna-Maria, seine Schwiegertochter Marianne und sein ältester Sohn Joachim am Sterbebett des Bruders Gerhard. Sein Bruder war, nach mehren fruchtlosen Versuchen, Junggeselle geblieben und so waren am Ende Hermann und seine Familie die einzigen Angehörigen des jüngeren Bruders geblieben.

Hermanns Ältester hatte, gemeinsam mit seiner jungen Frau, den Onkel besucht - nicht im geringsten auf das vorbereitet, was geschehen sollte.
Sie besuchten ihn jeden Tag. Alle samt.

Gestern noch schien es dem Bruder recht gut zu gehen. Schmerzen hatte er keine. Sie hatten miteinander geredet, ihm das Essen gereicht und ihm dabei geholfen, sich ein wenig auf die Seite zu drehen.

Ans Sterben dachte keiner von ihnen, trotz aller Vorwarnungen aus dem Mund des Kranken und den Hinweisen des behandelnden Arztes. Man hatte diese einfach nicht hören wollen, hatte die Augen fest verschlossen, vor dem was an und für sich unübersehbar war.

Die beiden jungen Leute wollten, wie sein Sohn ihm zuvor telefonisch mitgeteilt hatte, gerade ihren Krankenbesuch beenden. Sein Sohn hatte demnach schon das Zimmer verlassen. Nur die Schwiegertochter blieb, mit der Tasche auf dem Schoß, noch einen Moment am Bett des Onkels sitzen, der mit geschlossenen Augen, flach aber regelmäßig atmend, dort lag, als eine Krankenschwester das Zimmer betrat und bat, sie mögen noch ein wenig bleiben.

Den fragenden Blick der jungen Frau beantwortete diese wohl mit einem Flüstern:
„Er wird sterben.“
„Aber...“.
„Heute“, formten, laut späterer Schilderung, die Lippen der Krankenschwester.

Da Marianne nicht kam, kehrte Joachim ins Krankenzimmer zurück: „Was ist? Wo bleibst du? Wir haben noch ein Stück zu fahren.“
Auch Joachim nahm seit geraumer Zeit an besagter Skat-Runde teil und es wurde langsam Zeit aufzubrechen.
Marianne schüttelte heftig den Kopf. Mit Tränen in den Augen berichtete sie sehr leise, sehr plastisch über das kleine Intermezzo mit der Krankenschwester.
Joachim stürmte hinaus.
Im Nu war die gesamte Familie benachrichtigt, Mutter, Vater, Bruder, Schwester.

So kam es, das er, Hermann, nun hier stand. Anstatt selbst Karten zu spielen, musste er die Karten einem ungeliebten Gegner überlassen.
Wohl wissend, das dieser, sobald der sein letztes Blatt ausspielte, unweigerlich gewann.
Er hasste diesen Anderen aus vollstem Herzen. Wünschte ihn zu Teufel.

Er ertrug das nicht.
Das Fenster, geschlossen, hielt jeden Laut von außen fern.

Er ertrug es wirklich nicht.
Er durchbrach die Stille, redete darauf los: Welche Blumen er jetzt auf das Grab der Mutter pflanzen solle, denn er - sein kleiner Bruder - könne ja deren Grabpflege nicht mehr übernehmen.
Und wer weiß, was wohl auf ihn, Hermann, zu käme, wenn er den Nachlass seines Bruders durchsehe. Vielleicht fände er lauter unbezahlte Rechnungen.

Er sah sich um, als erwartete er eine Antwort.
Es kam keine...

„Mein Gott, ist das schrecklich. Das ist nicht auszuhalten.“

Dann: „Er ist tot.“

Ja. Er atmete nicht mehr. Das Leben hatte seinen kleinen Bruder endgültig verlassen.

Wie ein Vögelchen war es davon geflattert. Von einem Augenblick zum anderen. Wohin?


Marianne öffnete das Fenster. Lies die Straßengeräusche hinein.

Anna-Maria zündete eine Kerze an.


Auf dem Krankenhausnachttisch lag noch immer Gerhards Brille.
Erst gestern hatte er diese versehentlich vom Nachttisch gewischt.
Seit dem befand sich im linken Glas eine kleine Muschel und ein feiner Sprung zog sich seit her quer über das Brillenglas zum oberen Rand...
Anna-Maria, Hermanns Frau, hatte sie auf gehoben und zurückgelegt.

Egal.

Der Bruder brauchte sie nicht mehr.


Alles was ihn einmal ausmachte ist nicht mehr da.
Einfach fort.


© Marion Bovenkerk

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marion Bovenkerk).
Der Beitrag wurde von Marion Bovenkerk auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Marion Bovenkerk als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zum Licht - Gedichte und Aphorismen von Huberti Jentsch



Vom Kinderlied

„Hänschen klein ging allein“

bis zu Schillers

„Freude schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium“

haben Dichter ihre Gedanken und Gefühle niedergeschrieben und Komponisten die Texte in Töne verwandelt.

Hätten Schiller und Beethoven in ihrem ganzen Leben nur diese zwei Werke erschaffen, die Menschheit hätte sie nie vergessen und immer wieder dankbar dafür verehrt, sind es doch unsterbliche Geschenke aus dem Geiste einer höheren poetischen Welt geboren.

Was ist ein vollkommeneres Kunstwerk, die Rose im Garten oder das Gänseblümchen auf der grünen Frühlingsflur ?

Wer nicht nur mit den irdischen Augen zu sehen versteht, sondern auch mit den geistigen Augen, dem wird die Antwort nicht schwer fallen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Abschied" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marion Bovenkerk

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Fünf Minuten bis zur Ewigkeit von Marion Bovenkerk (Zwischenmenschliches)
Endgültig von Monika Klemmstein (Abschied)
Der kleine Bär von Helmut Wendelken (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen