Hans Werner

Im Krieg

Sie schmeckt das Salz unterdrückter Abschiedstränen im Gaumen. Joseph, groß und schlank, knapp vierzig Jahre alt, steht im Türrahmen, bereit zum Gehen. Die Uniformhose schlabbert um seine Waden, auf der Tellermütze haftet das Kreuz mit den vier Haken. Das Kind, der fünfjährige kleine Alfred, rennt auf seinen Papa zu und umfasst ihn an den Knien.
"Mal mir noch eine Spinne, nur noch eine Spinne, eine ganz kleine Spinne."
"Aber Kind," drängt die Mutter, "dein Vater muss gehen. Der Bus wartet nicht."
"Bitte, nur noch ein ganz kleines Spinnlein." Der Bub hält seinem Vater Zeichenblock und Bleistift hin, schaut mit großen Augen treuherzig zu ihm auf. In aller Eile malt Joseph eine kleine Spinne auf das Blatt Papier mit acht seitwärts gebogenen Beinchen. Dann wendet er sich ab und verlässt schnell die Wohnung. Zu sehr greift ihm der Abschied ans Herz.
Sophie, seine junge Frau, ist ihm die Treppe herunter nachgeeilt. An der Haustür küsst sie ihren Mann noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, bevor er mit der Truppe an die russische Front fährt. Man schreibt das Kriegsjahr 1944.
"Wenn du nicht mehr zurückkommst, ich überleb's nicht." Sophie kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit beiden Armen hält sie ihren Mann umschlungen.
"Sei ohne Sorg, ich weiß, dass ich zurückkomme," versucht er, sie zu trösten. "Ich bin mir sicher, dass ich in meinem Leben noch eine Aufgabe zu erfüllen habe."
Dann drückt er seine Sophie noch einmal fest an sich, schultert sein Gewehr, nimmt das kleine Köfferchen in die Hand und geht davon. Lange sieht sie ihm nach, von der Haustür aus. Und auch er wendet sich - obgleich die Zeit nun mächtig drängt - immer wieder nach ihr zurück.
Wochen und Monate vergehen. Sehnsüchtig wartet Sophie auf Feldpostbriefe. In unregelmäßigen Abständen treffen sie ein, kleine viereckige Couverts, die auf ihren Innenseiten genau abgemessenen Platz zum Schreiben lassen. Denn auch die Briefpost zwischen Front und Heimat ist nach Gewicht und Umfang rationiert. In eckigen Buchstaben schreibt da Joseph von seinen Fronterlebnissen, von dem, was zu schreiben er für gut hält. Er will seine Frau, die sich sowieso schon zu sehr ängstigt, nicht noch mehr mit schlimmen Dingen belasten. So schreibt er immer wieder, dass es ihm gut gehe, dass die Verpflegung ordentlich sei und an der Front für den Augenblick Ruhe herrsche. In Wirklichkeit liegt er meist in Schützengräben, hastig ausgehobenen Gräben, mit eilig aufgeführten Mauern notdürftig befestigt, manchmal nur zwanzig Meter von der feindlichen Stellung entfernt. Zu keiner Zeit weiß er, ob er nach den nächsten fünf Minuten noch am Leben sein würde. Glühendes Blei pfeift ihm um die Ohren, Geschütze donnern, Granaten bohren sich in die Erde, lassen ganze Fontänen aus Dreck und Schlamm empor spritzen. Gestern hat es Karl, den gutmütigen Karl von der Schwäbischen Alb, mit dem er schon so lange zusammen war, erwischt. Direkt neben ihm ist er zusammengesunken, seine schmerzverzerrten, aufgerissenen Augen schauen ihn noch lange an. "Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern find'st du nit". Mechanisch hat Joseph den Karabiner neu geladen, angelegt und abgedrückt. Immer nur in die eine Richtung, nie auf eine bestimmte Gestalt, und schon gar nie auf ein bestimmtes Gesicht.
Nach Wachablösung legt er sich auf seine Pritsche in der Holzbaracke und schläft sofort ein. Soldaten können zu jeder Zeit und in jeder Stellung schlafen. Manchmal träumt er von der Heimat, vom Schwarzwald, von seiner jungen Frau und seinem fünfjährigen Knaben, dem kleinen Alfred, der so gerne zeichnet und dem er immer Figuren vormalen muss. Er hat Angst vor dem Tod. Aber in ihm lebt die Gewissheit, dass er wieder heimkehren wird. Er weiß es, denn er hat noch eine Aufgabe zu erfüllen. Woher er es weiß? Diese Frage kann er sich selbst nicht beantworten.
Immer wieder ändert sich der Frontverlauf. Entgegen allen Parolen, die im krächzenden Volksempfänger bis an die vordersten Frontlinien übertragen werden, brechen die feindlichen Truppen überall durch, angetrieben vom verzweifelten Mut, ihre Heimaterde zu verteidigen, und unterstützt durch immer neues technisches Material aus amerikanischer Herkunft. Der Blutzoll ist auf beiden Seiten gewaltig hoch. Joseph muss oft bitter lächeln bei den vielen beschönigenden Ausreden, die von offizieller Seite erfunden werden, um die unausweichliche Niederlage zu bemänteln. Wieder einmal werde die Front begradigt, werde der Feind an strategisch unbedeutender Stelle hereingelockt, damit woanders die Wehrmacht siegreich vorrücken könne. Am Augenzwinkern der Vorgesetzten kann Joseph, selbst nur einfacher Gefreiter, ablesen, dass alle von der allmächtig herrschenden Lüge wissen, die überall wie eine Seuche wütet. Manchmal dringt auch ein Stück Wahrheit durch, ein Gran Salz in der Lügensuppe der Propaganda, mit dem man den Kampfgeist würzen und stärken möchte. So hat man zum Beispiel von der Invasion des 6. Juni 44 erfahren. Nachdem der Feind über den Atlantikwall hereingebrochen sei, müsse man nun den Iwan hinhalten, seine Kräfte binden, damit die eigene Truppe im Westen ungehindert operieren könne. Joseph kann nur bitter lächeln. Er kaut sein Kommissbrot und trinkt den säuerlichen Muckenfuck.
Eines Tages überrascht ihn ein Befehl. Zu einer anderen Einheit wird er abkommandiert, die nach Kurland unterwegs ist. Kurz zuvor schreibt er noch einen Feldpostbrief an seine geliebte Sophie. Obwohl der Platz auf dem Papier knapp ist und sein Herz von sehnsüchtigen Empfindungen überquillt, schreibt er, als würde die Vorsehung seinen Stift lenken, von der Invasion am 6. Juni.
Ich hoffe, dass nach der Invasion der Krieg nun bald zu Ende sein wird und ich heimkehren kann zu dir, liebe Sophie, und dass ich dem kleinen Alfred wieder Häuserchen und Kühe und Pferde vorzeichnen kann. Gruß und Kuss, dein dich liebender Joseph.
Das ist der letzte Feldpostbrief, den Sophie erhält. Eine jähe Freude rötet ihre Wangen, als sie die kraftvoll ausfahrende Schrift ihres Joseph sieht, untrügliches Zeichen seines Lebens im fernen Russland. Vieles hat sie in der Zwischenzeit selbst entscheiden müssen, ohne Rat und Beistand ihres Mannes. Ein Wohnungswechsel muss von einem Tag zum andern beschlossen und durchgeführt werden. Freistehender Wohnraum in friedlichen Landgemeinden wird von den Behörden systematisch erfasst und für Zwangseinquartierung ausgebombter Stadtfamilien verwendet. Im elterlichen Haus, in dem Joseph aufgewachsen ist und in das er wegen Misshelligkeiten mit seiner Stiefmutter nicht einziehen wollte, stehen zwei Zimmer leer, und schnell, von einem Tag zum andern, müssen sie bezogen werden. Sophies Bruder und andere gute Leute, hilfsbereite Nachbarn, legen Hand an, helfen beim Möbeltransport.
Mit ihrem kleinen Alfred verbringt Sophie die meiste Zeit im Haushalt ihrer Mutter. Dort sitzt sie am Küchentisch zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, den kärglichen Mahlzeiten, die, eingerahmt von langen frommen Gebeten, gemeinsam eingenommen werden. Oft will eine allgemeine Verzagtheit über sie kommen, allzu düster ballen sich die Wolken des Schicksals vor ihrer Zukunft zusammen. Wir kämpfen bis zum letzten Mann, geifert die bekannte Stimme des Despoten aus dem Volksempfänger, umbrandet vom fanatischen Sieg-Heil-Geschrei der aufgeheizten Menge. Dann schlägt der Großvater, ein schlohweißer Mann mit schwachem, leicht erregbarem Herzen, vor Empörung mit der Faust auf die Tischplatte, dass Tassen und Teller klirren. Unter seinem bedrohlich zitternden Schnurrbart dringen in gepresstem Ton Protestworte hervor. "Es lebt ein Herrgott. Auch Babels Turm wuchs nicht in Himmel."
Sophie blickt ängstlich zu ihrem Vater. Wie oft schon mussten sie um ihn bangen, denn sogar die Nachbarn sind nicht alle verlässlich. Ihre Mutter, die unerschütterliche Zuversicht ausstrahlt, ist ihr in solchen Stunden einziger Rückhalt. Und auch ihr Kind, das auf dem Küchenboden sitzt und mit Holzklötzchen spielt, Häuserchen und Brücken baut. Sie kann nur hoffen, dass für dieses Kind eine glücklichere Zeit anbrechen möge.
Eines schönen Tages, die Sonne neigt sich gegen Westen, sitzt Sophie im Wohnzimmer bei ihrer Mutter und ist gerade mit einer Handarbeit beschäftigt. Plötzlich sieht sie zwei uniformierte Männer den Weg zum Haus heraufkommen. Sofort erkennt sie die beiden, es sind die überall im Ort gefürchteten Todesboten, die die Gefallenenmeldungen überbringen. Sophie durchfährt ein Schrecken. So sollte sich doch ihre dauernde Angst bewahrheiten. Die beiden Herren kommen herein, stehen stramm, salutieren, nehmen einen feierlichen Blick an, ihre Augen glänzen vor Pathos, so verkünden sie mit eingelerntem Spruch ihre Botschaft.
"Liebe Frau Werner, Bürgerin des Großdeutschen Reiches. Wir müssen und dürfen Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann, Joseph Werner, im heldenhaften Kampf an der russischen Front gefallen ist. Er hat, getreu seinem Fahneneid, bis zum letzten Atemzug für Führer und Vaterland gekämpft. Einen ehrenvollen Tod hat er im Feld erlitten und sich für das Vaterland verdient gemacht. Im Namen des Führers sprechen wir Ihnen unser tief empfundenes Mitgefühl aus. Wir wünschen Ihnen ein starkes Herz. Sie dürfen Ihre Trauer mit Stolz tragen."
Sofort fällt Sophies Mutter in lautes Lamentieren und Schluchzen.
"Joseph, der gute Joseph, mein lieber Schwiegersohn, ist gefallen! Warum nur? Warum lässt unser Herrgott so etwas zu?"
Gerade kann sie ihren Mann, den schlohweißen Großvater, von einem wilden Zornesausbruch zurückhalten. Sein weißer Schnurrbart zuckt und zittert gefährlich. In der Anwesenheit der beiden Uniformierten Parteigenossen hätte er sich leicht um Kopf und Kragen reden können.
Eigenartigerweise bleibt Sophie, die es doch eigentlich hätte am tiefsten treffen müssen, ruhig und gefasst. Kritisch schaut sie auf die beiden Männer, dann auf das Blatt Papier, das sie in Händen halten.
"Geben Sie mir einmal die Gefallenenmeldung her. Ich möchte sie genau lesen."
Wie sie das Schriftstück überfliegt, bohrt sich ihr Blick an einer Stelle fest.
"Da steht, er sei am 28. Mai 1944 gefallen. Das kann nicht stimmen. Ich habe noch Post von ihm erhalten, in der er von der Invasion schreibt. Und die war am 6. Juni."
"Täuschst du dich auch nicht?", sagt ihre Mutter mit ungläubigem Blick.
Sophie kramt aus der Vertiko-Schublade den Feldpostbrief heraus. Das Datum ist der 10.6.44. Genau schaut sie die Monatsziffer an, ob es nicht eine Fünf ist. Wie leicht kann man sich verschreiben, oder durch Einwirken von Flüssigkeit kann die Tinte weiterlaufen und eine Zahl verändern. Aber nein, im Text steht das Wort "Invasion", in einem Satz, der von diesem Ereignis in der Vergangenheit berichtet. Nein, es kann keine Täuschung sein. Sophie richtet sich auf, blickt fest und ruhig den beiden Parteifunktionären ins Auge.
"Das kann nicht stimmen. Er kann unmöglich am 28. Mai gefallen sein. Ich bin mir sicher, mein Mann lebt."
Ratlos und verwirrt sehen sich die beiden Männer an. Eine solche Reaktion ist ihnen noch nie vorgekommen. Vielleicht will diese junge Frau einfach die Realität verdrängen und sucht einen Vorwand, um nicht ans Unabänderliche glauben zu müssen. Aber diese junge Frau zeigt eine so feste Haltung und Sicherheit, dass sie das Schreiben wortlos wieder zu sich nehmen und mit eingeübtem "Heil Hitler" die Stube verlassen.
Alle sitzen da mit verweinten Gesichtern, Sophies Mutter, ihr Vater, Sophies Schwester, auch der kleine Alfred weiß nicht so recht, was er von der Situation halten soll und blickt verwirrt und hilfesuchend von einer Person zur andern.
"Was ist mit Papa?" , fragt er das eine über das andere Mal.
"Nichts", beruhigt ihn seine Mutter, "Papa lebt irgendwo im fernen Osten und wird wiederkommen, das weiß ich ganz sicher."
Die Großmutter und der Großvater hören es und schluchzen hörbar auf. Es klingelt, der Nachbar kommt hinzu, der die beiden Gefallenen-Melder zuvor gesehen hat. Er lässt sich von Sophies Mutter alles erzählen, dann schüttelt er den bedenklich den Kopf.
"Das ist trotzdem so, auch wenn sie's nicht wahrhaben will. Viele hat's schon getroffen. Das ist der Krieg. Der fordert seinen Tribut. Damit muss man sich abfinden."
Mit vorgestülpter Unterlippe spricht er diese gravitätischen Worte. Stets glaubt er sich im Besitz der allein gültigen Meinung. Sophie hört's, dann steht sie auf, nimmt ihren Alfred bei der Hand und verlässt die Stube.
"Komm, wir gehen zur Kapelle und beten zur Mutter im Himmel. Sie möge uns und deinen Papa beschützen."
Kurz danach knien sie beide in den rauen Bänken der Marienkapelle, die wenige Jahre zuvor, in einem mutigen Glaubenszeugnis der christlichen Ortsgemeinde gegen den Nazi-Terror mit viel Opfermut und Idealismus errichtet worden ist. Sophie schaut lange auf das Altarbild, eine Schönstatt-Madonna mit Jesuskind, danach auf ihren fünfjährigen Knaben, der an ihrer Seite kniet und sich an sie schmiegt. Sie streicht ihm über das dunkelbraune Haar.
"Wir beide glauben ganz fest daran, dass dein Papa lebt. Mögen die andern sagen, was sie wollen."
"Wann kommt Papa wieder?", will der Kleine wissen.
"Wenn der Krieg zu Ende ist. Gott gebe, er ist bald zu Ende.
Tage und Wochen vergehen. Die Ereignisse überstürzen sich. Der Feind rückt immer näher, von dem man sich Gräuelmärchen erzählt. Frauen würden vergewaltigt, Wohnungen geplündert, Männer in Gefangenschaft verschleppt. Im Keller sitzen alle, in banger Erwartung des Kommenden. Von ferne hört man dumpfes Schießen. Aufs Schlimmste ist man gefasst. Da stürmt der großmäulige Nachbar herein und ruft mit vorgestülpter Unterlippe.
"Schnell, hisst die weiße Fahne. Alle in unserer Straße haben schon die weiße Fahne gehisst, nur ihr noch nicht."
Der Großvater und die Großmutter gehen ins Schlafzimmer und binden ein Leintuch an einen Besenstiel. Zum obersten Fenster hängen sie die weiße Fahne hinaus. Dann flüchten sie wieder in den Keller. Am andern Morgen, als der Feind den Ort besetzt hat, heißt es überall, Sophies Eltern hätten als erste die weiße Fahne gehisst. Ihr schwindelt bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn die Franzosen von den nahe stationierten SS-Panzern noch einmal zurückgeschlagen worden wären. Am nächsten Baum hätte man die ganze Familie aufgehängt.
Von Joseph ist schon lange keine Post mehr gekommen. Die Tage und Wochen unter der fremden Besatzung ziehen sich langsam und träge dahin wie riesige Wanderdünen in afrikanischer Wüste. Karg und trocken ist die Verpflegung, öd und freudlos der Alltag. Nur die eine große zentnerschwere Last ist von ihnen abgefallen, die Unterdrückung durch ein unmenschliches Regime, das jedes freiheitsliebende Gewissen jahrelang eingeschnürt und geknebelt hat. Doch unvermindert schwer lastet die Ungewissheit über Josephs Schicksal auf Sophies Seele. Keine Post, keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Wo wird er sein? Wie wird es ihm gehen? Vielleicht befindet er sich irgendwo in Gefangenschaft, vielleicht liegt er als Gefallener in irgendeinem Graben am Wegrand zwischen wucherndem Unkraut. Sophie muss ihr Denken fest in die Hand nehmen, um nicht ganz der Depression und Verzweiflung zu verfallen. Manchmal kommen erste Heimkehrer zurück, sie tröpfeln herein in die Wüste verzweifelten Wartens. Doch niemand hat ihren Joseph gesehen oder kann sonst irgendetwas über seinen Verbleib aussagen.
Glühend heiß brütet der Sommer 45 über dem besetzten Land. Armut und Krankheit grassieren unter den Menschen, der Schwarzmarkt blüht, nur wer Sachwerte gegen Lebensmittel eintauschen kann, hat eine geringe Überlebenschance.
An einem Augusttag fliegt wie ein abgedrückter Pfeil das Gerücht die Bergstraße herauf: Sophies Joseph kehrt zurück. Kaum dass sie's vernommen, schickt sie ihren Alfred die Straße hinunter, damit er seinem Papa entgegenspringe. Danach schaut sie kurz prüfend in den Spiegel, Sorgenfalten haben sich in den vielen Monaten des Alleinseins in ihr Gesicht gegraben. Aber ihre Augen leuchten vor glückhafter Bestätigung ihrer hoffenden Zuversicht. Rot sind ihre Wangen wie damals vor dem ersten gemeinsamen Spaziergang im Frühling ihrer Liebe. Sophie stürmt in raschen Sprüngen über Stiegen und Treppen vors Haus, und da sieht sie auch schon ihren Mann die Straße heraufkommen, ihren Joseph, um den der kleine Alfred in wahrem Freudentaumel herumtanzt. Rasch geht sie ihm entgegen. Ein wenig fremd scheint ihr das Gesicht jenes Mannes, von dem sie vor Jahresfrist Abschied genommen hat. Doch sofort liegen sie sich in den Armen und weinen vor Glück und Freude.
"Wie ist es dir ergangen an der Front?" Sophie schaut in seine hellgrauen Augen, als wolle sie ergründen, ob nicht die Schreckensbilder des Krieges wie ein grauer Film sein Fühlen von ihr trenne.
"Ja, Sophie, das ist eine lange Geschichte. Lass mich zuerst einmal hier sein, bei dir, bei den deinen, in meinem Zuhause. Wie freu ich mich, wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen zu können. An deiner Seite..."
"Ach, Joseph, wie sehr hab ich dich vermisst. Nun weiß ich erst, was Sehnsucht ist, aber auch, wie sehr ich dich liebe." Sie küssen sich, auf der Straße, vor ihrem Knaben, der Menschen nicht achtend, die in dichtem Kreis neugierig um sie herumstehen.
"Einen Bauchschuss hab ich abgekriegt, in Kurland. Mein Leben hing am dünnen Faden. Mit dem letzten Lazarettschiff bin ich von Libau über die Ostsee den Russen entkommen. Es war furchtbar, die langen Tage im Bauch des Schiffes. Epidemische Gelbsucht habe ich auch bekommen, nach der Operation im Feldlazarett. Durch die Schiffswand hindurch hörte ich ständig die Minensuchboote. - Sophie, nur mit verzweifelten Stoßgebeten habe ich mich vor dem Verrücktwerden bewahren können. - Aber ich wusste, dass ich noch eine Aufgabe in meinem Leben erfüllen muss."
In Großmutters Haus begrüßen alle den Heimkehrer. Die Zeit scheint still zu stehen, Licht und Luft flirren in der Hitze des Glücks. Immer wieder schaut Sophie ihrem Mann tief in die Augen, fasst ihn an den Schultern, als könne sie es gar nicht glauben, dass er wieder da sei und ihr gehöre.
"Weißt du, es war oft so schwer, daran zu glauben, dass du noch lebst. Einmal wurdest du sogar als gefallen gemeldet."
Joseph schaut seine Frau erschrocken an und gerät kurz ins Grübeln.
"Man hat mir gesagt, meine ehemalige Einheit habe einen schweren Volltreffer erhalten, kurz nachdem ich sie verlassen hatte. Vielleicht zählte man auch mich irrtümlich zu den Opfern. Wenn du wüsstest, wie da die Leichen zerstückelt herumliegen..." Joseph lächelt bitter. "Aber immer fühlte ich in mir die Gewissheit, dass ich zu dir zurückkehren würde."
In einer bestimmten Nacht der glücklichen, aber auch schweren Zeit, die nun folgte - um Weihnachten herum muss es gewesen sein - wird jener Mensch gezeugt, der diese Geschichte geschrieben hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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