Antje Grüger

Fliegen - zwei Geschichten

Fliegen - die EINE Geschichte


"Morgen fangen wir an mit dem Flugunterricht! sagte der Vogelpapa eines schönen Tages zu seinen Kindern. Ihr seit jetzt erwachsen, ihr habt ein prächtiges Federkleid. Ihr seid kräftig und gesund. Die grosse weite Welt wartet!"

Alle Vogelkinder schauten sich ein wenig erschrocken an: Fliegen!

Jeder war ein wenig ängstlich, auch wenn das keiner zugeben mochte. Wer wollte sich schon blamieren. Aber neugierig und aufgeregt waren sie auch. Die grosse weite Welt wartete auf sie! Mit all den wunderbaren Dingen, die draussen auf einen warteten: Wälder, Wiesen, Felder, Berge und Täler, Flüsse und Seen.

"Ihr müsst keine Angst haben", sagte die Vogelmama. "Ihr seid jetzt junge Vögel mit allem, was dazu gehört, schöne glatte Federn, feste Schnäbel und kräftige Krallen.... ach, ich wünschte ich wäre noch mal so jung wie ihr."

Den restlichen Tag herrschte nur mühsam unterdrückte Aufregung im Nest, der eine flüsterte dem andren zu, wohin er als erstes fliegen würde, wenn er genug Übung hätte. Nur Manuel schwieg bedrückt. Er hatte Angst vor dem Fliegen. Das Nest war hoch, und wie oft hatte man früher eine Ermahnung bekommen, wenn man den Schnabel auch nur ein winziges Stück über den Nestrand hielt! Pass ja auf, dass Du nicht aus dem Nest fällst! Dann kommt die Katze oder der Marder und holt Dich! Manuel duckte sich bei diesem Gedanken nur noch tiefer ins Nestinnere.

Aber der laue Sommerwind, der um das Nest im Baumwipfel wehte, der Sommerwind, der alles wusste und schon alles gesehen hatte, wusste auch was in Manuel vor sich ging, er spürte seine Angst, seine Verzweiflung, er sah seine heimlich geweinten Tränen und hörte sein furchtsam zitterndes Herz. Abends, als alles schon schlief und nur Manuel kein Auge zutun konnte, rauschte der Sommerwind sanft an Manuels Köpfchen und flüsterte ihm ganz leise ins Ohr : Kleiner Manuel, hab keine Angst. Ich bin der Sommerwind, und ich werde Dich tragen, immer, ewig, wann immer Du Deine Flügel öffnest. Vertrau mir!" Manuel wischte sich die Tränen aus den Augen, konnte aber niemanden sehen. "Wer bist Du? Ich sehe Dich nicht!" Der Wind aber flüsterte: Ich bin der Wind, und ich weiss, dass Dir kein Leid geschieht, weil ich Dich tragen werde. Manuel aber antwortete: "Ich sehe Dich nicht, wie kannst Du mich tragen, wenn ich Dich nicht einmal sehe? ... ich habe solche Angst!"

Da wehte der Sommerwind eine winzig kleine bunte Feder ins Nest, genau vor Manuels Schnabel fiel sie nieder. "Ich habe etwas, das wird Dir morgen helfen. Ich habe eine Wunderfeder, eine winzig kleine, die steckst Du Dir morgen vor dem Fliegen einfach in Dein Flügelgefieder, und dann kann dir nichts mehr passieren. Manuel zögerte: "Wirklich?" "Aber ja doch, glaub mir, diese Feder gibt Dir die nötige Kraft und das Geschick, dass Du ganz wunderbar fliegen wirst!" Der Wind rauscht sanft durch Manuels Gefieder, es war wie ein zärtliches Streicheln, so zart und liebevoll, dass Manuel die Augen zufielen und er in einen tiefen Schlaf versank, die kleine bunte Feder ganz fest unter den Flügel gepresst.

Am nächsten Morgen war Manuel guter Dinge. Er hatte die Feder eingesteckt, ganz fest zwischen die anderen Federn seines Flügels. Aufgeregt war er zwar immer noch, genau wie seine Brüder und Schwestern, aber in die Aufregung mischte sich nun auch eine kleine Freude, eine Freude auf die grosse weite Welt, die auf ihn wartete. Den anderen ging es nicht anders, etwas nervös, neugierig und völlig aufgeregt hüpften sie im Nest umher, so dass die Vogeleltern um die Sicherheit des Nestes fürchten und ihre Kinder zur Ruhe ermahnen mussten.

Dann kam der grosse Augenblick: Unbeholfen und unsicher kletterten die Vogelkinder auf den Nestrand. "Nicht nach unten schauen!" rief der Vogelpapa. "Mit den Flügel schlagen - ja - und noch etwas schneller... Da erhob sich der erste schon vom Nestrand, dann der nächste... Manuel bemühte sich nicht nach unten zu schauen, damit ihm nicht schwindelig wurde. "Sommerwind, wo bist Du?" Der Sommerwind rauschte ums Nest und flüsterte leise: "Denk an die Feder und fürchte Dich nicht!" Manuel schlug wie seine Geschwister mit den Flügeln - und siehe da - auch er erhob sich in die Lüfte. Er konnte es kaum glauben, aber er konnte fliegen! Der Sommerwind wehte und streichelte ihn sanft übers Gefieder. Er hob ihn empor und trug ihn, und Manuel öffnete die Flügel und schwebte im Wind.



Fliegen - die ANDERE Geschichte


"Morgen fangen wir an mit dem Flugunterricht! sagte der Vogelpapa eines schönen Tages zu ihren Kindern. Ihr seit jetzt erwachsen, ihr habt ein prächtiges Federkleid. Ihr seid kräftig und gesund. Die grosse weite Welt wartet!"

Alle Vogelkinder schauten sich ein wenig erschrocken an: Fliegen!

Jeder war ein wenig ängstlich, auch wenn das keiner zugeben mochte. Wer wollte sich schon blamieren. Aber neugierig und aufgeregt waren sie auch. Die grosse weite Welt wartete auf sie! Mit all den wunderbaren Dingen, die draussen auf einen warteten: Wälder, Wiesen, Felder, Berge und Täler, Flüsse und Seen.

"Ihr müsst keine Angst haben", sagte die Vogelmama. "Ihr seid jetzt junge Vögel mit allem, was dazu gehört, schöne glatte Federn, feste Schnäbel und kräftige Krallen.... ach, ich wünschte ich wäre noch mal so jung wie ihr."

Den restlichen Tag herrschte nur mühsam unterdrückte Aufregung im Nest, der eine flüsterte dem andren zu, wohin er als erstes fliegen würde, wenn er genug Übung hätte. Nur Manuel schwieg bedrückt. Er hatte Angst vor dem Fliegen. Das Nest war hoch, und wie oft hatte man früher eine Ermahnung bekommen, wenn man den Schnabel auch nur ein winziges Stück über den Nestrand hielt! Pass ja auf, dass Du nicht aus dem Nest fällst! Dann kommt die Katze oder der Marder und holt Dich! Manuel duckte sich bei diesem Gedanken nur noch tiefer ins Nestinnere.

Aber der laue Sommerwind, der um das Nest im Baumwipfel wehte, der Sommerwind, der alles wusste und schon alles gesehen hatte, wusste auch was in Manuel vor sich ging, er spürte seine Angst, seine Verzweiflung, er sah seine heimlich geweinten Tränen und hörte sein furchtsam zitterndes Herz. Abends, als alles schon schlief und nur Manuel kein Auge zutun konnte, rauschte der Sommerwind sanft an Manuels Köpfchen und flüsterte ihm ganz leise ins Ohr : Kleiner Manuel, hab keine Angst. Ich bin der Sommerwind, und ich werde Dich tragen, immer, ewig, wann immer Du Deine Flügel öffnest. Vertrau mir!" Manuel wischte sich die Tränen aus den Augen, konnte aber niemanden sehen. "Wer bist Du? Ich sehe Dich nicht!" Der Wind aber flüsterte: Ich bin der Wind, und ich weiss, dass Dir kein Leid geschieht, weil ich Dich tragen werde. Manuel aber antwortete: "Ich sehe Dich nicht, wie kannst Du mich tragen, wenn ich Dich nicht einmal sehe? ... ich habe solche Angst!"

Da wehte der Sommerwind eine winzig kleine bunte Feder ins Nest, genau vor Manuels Schnabel fiel sie nieder. "Ich habe etwas, das wird Dir morgen helfen. Ich habe eine Wunderfeder, eine winzig kleine, die steckst Du Dir morgen vor dem Fliegen einfach in Dein Flügelgefieder, und dann kann dir nichts mehr passieren. Manuel zögerte: "Wirklich?" "Aber ja doch, glaub mir, diese Feder gibt Dir die nötige Kraft und das Geschick, dass Du ganz wunderbar fliegen wirst!" Der Wind rauscht sanft durch Manuels Gefieder, es war wie ein zärtliches Streicheln, so zart und liebevoll, dass Manuel die Augen zufielen und er in einen tiefen Schlaf versank, die kleine bunte Feder ganz fest unter den Flügel gepresst.

Am nächsten Morgen war Manuel guter Dinge. Er hatte die Feder eingesteckt, ganz fest zwischen die anderen Federn seines Flügels. Aufgeregt war er zwar immer noch, genau wie seine Brüder und Schwestern, aber in die Aufregung mischte sich nun auch eine kleine Freude, eine Freude auf die grosse weite Welt, die auf ihn wartete. Den anderen ging es nicht anders, etwas nervös, neugierig und völlig aufgeregt hüpften sie im Nest umher, so dass die Vogeleltern um die Sicherheit des Nestes fürchten und ihre Kinder zur Ruhe ermahnen mussten.

"Ich werde fliegen können, denn ich habe eine Wunderfeder!" sagte Manuel zu Laurent, einem seiner Brüder und zog unter seinem Flügel die kleine bunte Feder hervor. Laurent schaute die Feder an: "Was hat das mit dieser Feder zu tun? Der Sommerwind trägt uns doch!" "Nein", widersprach Manuel, "nur wer so eine Feder hat, kann fliegen. Es ist eine Wunderfeder. Ohne diese Feder wirst Du abstürzen!" Laurent schaute nun doch etwas unsicher auf die Feder. "Aber wir haben doch unsere Federn und der rauschende Wind trägt uns beim Fliegen..." Aber Manuel meinte nur: "Du wirst sehen! Du wirst abstürzen, denn ohne so eine Feder kann keiner fliegen".

Laurent zog sich in die dunkelste Nische des Nestes zurück und fing an zu überlegen. ,Vielleicht hat Manuel ja Recht..." dachte er. Etwas mulmig war ihm nun doch. Wie sicher sich der andere war. Was, wenn der andere Recht hatte und man tatsächlich ohne diese eine kleine bunte Feder nicht fliegen konnte?

Aber auch in dunkelste Nische findet der Sommerwind Zugang. "Kleiner Laurent, gestern hast Du Dich noch so sehr aufs Fliegen gefreut, warum sitzt Du jetzt hier ganz allein im finstersten Winkel? Du weißt doch, die grosse weite Welt wartet...". "Ach, ich habe jetzt doch Angst, dass ich nicht fliegen kann."

"Warum hast Du plötzlich Angst?" "Manuel hat mir eine kleine bunte Feder gezeigt und behauptet, dass man nur mit solch einer Wunderfeder fliegen kann..." Da streichelte der Sommerwind zärtlich über Laurent's Gefieder: "Du weißt doch, dass ich Dich tragen werde? Du spürst doch meine Kraft, hast Du kein Vertrauen mehr?" Laurent antwortete: "Doch... aber mich überkamen plötzlich Zweifel..." Da streichelte der Wind abermals über Laurents Gefieder und sagte: "Hab keine Angst, ich trage jeden von euch. Und wer's nicht glauben kann weil er mich nicht sieht, dem schenke ich ein Symbol, das er sehen kann, damit er mir glaubt. - Du aber, kannst Du an mich glauben, auch wenn Du mich nicht siehst?" Laurent spürte wieder den sanften Luftzug durch sein Gefieder streichen und lächelte: "Ja..."

Dann kam der grosse Augenblick: Unbeholfen und unsicher kletterten die Vogelkinder auf den Nestrand. "Nicht nach unten schauen!" rief der Vogelpapa. "Mit den Flügel schlagen - ja - und noch etwas schneller... Da erhob sich der erste schon vom Nestrand, dann der nächste... Manuel bemühte sich nicht nach unten zu schauen, damit ihm nicht schwindelig wurde. "Sommerwind, wo bist Du?" Der Sommerwind rauschte ums Nest und flüsterte leise: "Denk an die Feder und fürchte Dich nicht!" Manuel schlug wie seine Geschwister mit den Flügeln - und siehe da - auch er erhob sich in die Lüfte. Er konnte es kaum glauben, aber er konnte fliegen! Der Sommerwind wehte und streichelte ihn sanft übers Gefieder. Er hob ihn empor und trug ihn, und Manuel öffnete die Flügel und schwebte im Wind. Auch Laurent sass auf dem Nestrand, da spürte er den Sommerwind rauschen und sein Gefieder streicheln, ja, er zupfte sogar ein bisschen daran, nur Mut, kleiner Laurent, komm mit mir, die weite Welt wartet! Da erhob sich auch Laurent in die Lüfte, und der Sommerwind umfing ihn und liess ihn sanft dahinschweben. Fliegen! Die weite Welt wartet...


(c) 2002 by Antje Grüger

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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