Anita Voncina

Ein Tag im Juni

Es ist 5.48 und ich bin mit einem Schlage hell wach. Hell wach und überglücklich. Ein kurzer Blick auf meine Zimmergenossin im Bett rechts von mir sagt mir, dass ich beim Aufstehen leise sein muss, denn ich höre ihre gleichmäßigen, tiefen Atemzüge. Es fällt mir schwer die Bettdecke vorsichtig beiseite zu schlagen, bevor meine nackten Füße, die suchend vom hohen Krankenhausbett herunterbaumeln, endlich die Hausschuhe ertasten. So leise ich kann husche ich anschließend ins Bad. Ich dusche, wasche meine Haare, putze die Zähne und verzichte schließlich darauf den Föhn zu benutzen, denn ich möchte die Schlafende nebenan nicht wecken. Ich spüre meinen Herzschlag bis zum Hals, als ich schließlich meinen Waschbeutel schließe, das noch feuchte Handtuch in einer Plastiktüte verstaue und noch einen letzten, prüfenden Blick in dem geräumigen Badezimmer umherwandern lasse. Nein, vergessen habe ich dort nichts. Dann öffne ich behutsam die Türe und schleiche zurück zu meinem Bett. Es ist 6.12. Mein Gott, wie langsam doch die Zeit vergeht!
     Endlich schlägt meine Zimmergenossin die Augen auf und lächelt mich verschlafen an. Erleichtert gleite ich nun erneut von meinem Bett und steuere den Wandschrank an. Natürlich weiß ich, dass mein kleiner, dunkelblauer Koffer dort schon seit gestern Abend fertig gepackt im untersten Fach liegt. Trotzdem lege ich ihn behutsam auf den kleinen Holztisch an der Wand und öffne den Reißverschluss. Und da kommen sie auch gleich zum Vorschein, meine derzeit größten, materiellen Schätze: Strampelhose in hellblau, mit weiß getupften Sohlen, Strampelhose in rot, auf dem Bauch ein winziger bunter Schmetterling, Strampelhose in gelb, in weiß, cremefarben, orange, dunkelblau, und vor allem, alles im Doppelpack. Ich streiche gedankenverloren über die beiden weichen Babydecken, fingere auf der Suche nach den vier winzigen Stoffschühchen bis zum Kofferboden und stoße dabei auf die zierlichen Babybürsten in der Geschenkspackung mit Kamm und Schnuller. Als ich mich endlich entschließen kann den Koffer zu schließen ist es 6.59 und es wird mir schon wieder bewusst, dass ich der glücklichste Mensch auf dieser Welt bin.
     Nachdem ich mich angezogen habe, setze ich mich auf die Bettkante meiner Zimmergenossin. Von Zeit zu Zeit wird unsere fröhliche Plauderei für kurze Augenblicke unterbrochen, das Frühstück wird gebracht, das Fenster geöffnet, der Boden gewischt und der Mülleimer im Badezimmer entleert. Endlich werde ich zur Mütterschulung gerufen. Es ist halb neun und ich hätte es ohnehin keine einzige Sekunde länger in diesem Zimmer ausgehalten. Ein letzter Händedruck für meine Zimmergenossin und meine besten Wünsche für ihren großen Tag, auf den sie schon so sehnsüchtig wartet, und schon bin ich der Schwester dicht auf den Fersen, segle hinter ihr her über den frisch gewienerten Fußboden im Gang bis zum Schulungsraum und lasse mich dort, ganz außer Atem und mit glühend heißen Wangen, sogleich auf einen der hochmodernen, sehr bequemen Holzstühle in der ersten Reihe fallen. Die Plastiktüte mit den beiden ausgewählten Strampelhöschen und der winzigen Unterwäsche fest an mich gepresst, bin ich für eine geraume Zeit ganz allein in dem Licht durchfluteten Raum, in dem sich die Wärme dieses wolkenlosen Junimorgen schon deutlich spürbar auszubreiten beginnt. Irgendwann ist unsere kleine Gruppe dann schließlich vollzählig, die abgehakte Namensliste wird zurück ins Stationszimmer geschickt, und ich lasse meinen Blick über die jungen Frauen wandern. Ich schaue in erwartungsvoll gespannte Gesichter, bleiche und hochrote, und stelle dabei mit Genugtuung fest, dass ich mich in meinem kaum noch zu zügelnden Überschwang der Gefühle kein bisschen von ihnen unterscheide.
     Es ist 9.45, die Türe des Schulungsraumes öffnet sich und die Schwester der Kinderstation kommt herein. Plötzlich ist es, als hätte die Sonne, die ihre Strahlen nun schon eine ganze Weile mit aller Kraft durch das Fenster in diesen Raum hinein schickt, in diesem Augenblick  Konkurrenz bekommen, ja, als wäre sie damit sogar vollkommen verblasst und für alle Zeiten in den Schatten der Zweitrangigkeit gerückt. Ich blinzle angestrengt durch einen feinen Tränenschleier der Rührung, der sich auf meinen Wimpern breitgemacht hat, fühle, wie meine Wangen noch heißer und meine ineinandergeknoteten Finger noch kälter werden, und mühe mich damit ab, wenigsten noch den letzten Rest der Beherrschung zu bewahren. Natürlich ist mir klar, dass ich jetzt nicht einfach aufspringen und zu dem kleinen, fahrbaren Tischchen stürzen kann, auf dem all diese wundervollen, winzigen, vor Unmut laut krähenden Paketchen liegen. Und ich weiß auch, dass ich mir aus dieser unbeschreiblich wertvollen Fracht meine beiden Engelchen nicht schon jetzt herausholen darf. Ich begreife das alles und ich versuche mich zu beruhigen. Es ist 9.50 und die Schwester beginnt mit ihrem gut gemeinten, sehr ausführlichen Anschauungsunterricht auf dem vorbereiteten Wickeltisch. Dafür hat sie sich eines der Paketchen ausgewählt, es in Sekundenschnelle ausgezogen, sie erfasst nun mit routiniertem Griff die beiden nackten Babyfüßchen und hebt auf diese Weise den gesamten kleinen Körper ein wenig in die Luft. Für einen kurzen Augenblick blicke ich der Mama des schreienden, entblößten Winzlings in ihr kalkweißes Gesicht, bemerke, wie sich die Schweißtropfen auf ihrer Stirn ihre Bahn über das rotblonde Haar bis zum Nacken bahnen und bin fest davon überzeugt ganz genau erraten zu können, was diese gerade denkt.
     Eine gute halbe Stunde später ist die Hitze im Raum beinahe unerträglich geworden, doch der Unterricht dauert noch an. Eine der frischgebackenen Mamas musste uns deshalb schon vorzeitig verlassen und ich beginne für einen kurzen Moment darüber nachzudenken, ob dies nicht auch für mich eine Möglichkeit wäre. Doch dann verwerfe ich den Gedanken, weil er mir plötzlich etwas ruchlos erscheint für jemand, der doch gerade so unermesslich reich beschenkt worden war. Meine beiden Engel liegen bereits reisefertig zurecht gemacht in ihrem Kinderwagen der Klasse Extra-Large und schreien sich die Hälschen wund. Damit jedoch sind sie in bester Gesellschaft. Ich reibe mir die pochenden Schläfen und werfe einen sehnsüchtigen Blick durch das geöffnete Fenster. Dabei entdecke ich unser Auto auf dem Besucherparkplatz und meine Kopfschmerzen sind schlagartig verschwunden. Nun weiß ich, dass auch der Papa dieser beiden Himmelgeschöpfe bereits ganz in meiner, in unserer Nähe ist. Um 10.42 wird schließlich das letzte schreiende Paketchen in seinen Kinderwagen gelegt und die jungen Mütter werden in ihr neues Leben entlassen. Ich höre die freundlichen Wünsche der Schwester nur noch mit halbem Ohr, drehe mich aber trotzdem noch einmal zu ihr um und lächle ihr zu. Ich bin ihr von Herzen dankbar, ihr und jedem, der uns drei in den vergangenen Tagen seine Fürsorge hat zukommen lassen. Doch dann umschließen meine immer noch eiskalten Finger den Griff des Kinderwagens  und ich schiebe ihn, als eine der ersten, durch die weit geöffnete Doppeltüre hinaus auf den breiten Krankenhausgang. Nur einen Augenblick später übergebe ich ihn, in einem unbeschreiblichen Wirrwarr aus zuvor noch nie erlebten Hochgefühlen, dem ganz offensichtlich ebenso glücklichen Papa.
     Es ist 10.59 und wir verlassen also nun zu viert das Krankenhaus durch die breite, gläserne Drehtür. Die Hitze klebt an uns wie ein dampfender, nasser Lappen, mir ist plötzlich ein wenig flau im Magen, und unsere Engelchen brüllen nun noch fürchterlicher als zuvor. Das nicht zu übersehende Unglück der beiden Winzlinge hat ihrem schon völlig nassgeschwitzten Papa nun auch noch zu einer ziemlich bleichen Gesichtsfarbe verholfen, doch er lässt sich nichts anmerken und müht sich damit ab, das sperrige Kinderwagenoberteil auf die umgelegten Sitze der Rückbank unseres Kombis zu verfrachten. Zuvor hatte er bereits mit dem Wagen bei geöffneten Fenstern den Häuserblock um das Krankenhaus mehrmals umrundet, um auf diese Weise eine zumindest einigermaßen erträgliche Temperatur für die Kleinen zu schaffen. Es ist 11.22 als wir das Krankenhaus im Rückspiegel aus den Augen verlieren. Vor uns liegt nun eine etwa halbstündige Fahrt. Ich kann es kaum erwarten, der vor Hitze flirrenden Großstadt unter ihrer nun schon deutlich sichtbaren Dunstglocke zu entkommen und sehne mich nach der angenehmen Kühle unseres alten Häuschens, nach dem schattigen Platz unter den drei riesigen Tannen, nach unseren beiden Hunden, den Katzen, nach unserem idyllischen Daheim. Und ich freue mich auf meine Schwiegermama, den guten Geist der vergangenen etwas anstrengenden Monate der Schwangerschaft. Um 12.05 stehen wir zum zweiten Mal im Stau und unsere kleinen Engelchen haben sich noch immer nicht beruhigt. Im Gegenteil.
     Es ist 12.27, als der überglückliche, jedoch auch ziemlich durchgeschwitzte Papa den Zündschlüssel unseres Autos abzieht, das Geschrei der krebsroten Winzlinge durch die geöffneten Wagentüren hinaus ins Freie dringt, von einem sanften Windhauch über den Gartenweg hinweg direkt an das aufmerksame Ohr der Großmutter getragen wird, die dort vermutlich schon seit Stunden auf uns wartete, und es sich schließlich mit dem ohrenbetäubenden Freudengeheul unserer beiden Hundemänner vermischt. Wir sind endlich daheim!
     Ich falle meiner Schwiegermama um den Hals und bin gerührt von ihren Freudentränen. Sie kann sich einfach nicht satt sehen an den krebsroten Babygesichtchen, küsst ihre winzigen Fäustchen und streichelt über ihr verschwitztes, goldblondes Haar. Ich betrachte meine Familie und bin dafür unendlich dankbar. Im Haus duftet es nach frisch gebrühtem Kaffee und selbst gebackenem Kuchen, ein bunter Feldblumenstrauß steht in der Vase auf dem Esszimmertisch, der Steinboden in der Küche glänzt wie noch nie zuvor und die beiden Hunde tragen zur Feier des Tages goldene Schleifen vom letzten Weihnachtsfest an den Halsbändern.
     Es ist Punkt eins, als der Tag nun plötzlich beginnt wie im Fluge zu vergehen. Wir verlieren uns darin, diese beiden herrlichen, wunderschönen Wesen zu betrachten, sie an uns zu drücken, zu liebkosen, mit ihnen endlos lange Monologe zu führen, alle drei gleichzeitig, jedoch mit flüsternden Stimmen, die gurren und säuseln, und über denen sie dann schließlich erschöpft einschlafen. Wir wiegen sie in unseren Armen, berauschen uns an ihrem Duft, dem Blick ihrer blauen, suchenden Augen nach dem Sekundenschlaf, und geraten über jede noch so winzige Beobachtung immer wieder von neuem in Verzückung. Das deutlich fordernder werdende Schmatzen ihrer kleinen Lippen macht die Zubereitung des ersten Fläschchens selbstverständlich zur absoluten Chefsache, bei der dann aber zu viele Köche den sprichwörtlichen Brei beinahe verderben. Doch wir kämpfen unerbittlich mit den Tücken der Erzeugung eines passenden Saugerloches, nicht zu groß und nicht zu klein, und verschwenden dabei keinen einzigen überflüssigen Gedanken an das Heer der braunen Gumminuckel, die wir dabei unbrauchbar machen. Kaum ist die eine Herausforderung gemeistert, wartet auf uns schon die nächste, nie gab es eiligere, nie zuvor wurden wir anschließend reicher belohnt. 
     Es ist 23.58. Seit einigen Minuten schlafen die beiden Engelchen wieder friedlich in ihren Betten. Durch das Fenster im Kinderzimmer wirft der  Mond sein weiches Silberlicht auf ihre kleinen Gesichtchen und das Zirpen der Grillen unten im Garten nimmt der Stille der lauen Sommernacht ihr Schweigen. Unten in der Küche steht der Kaffee noch immer auf dem Tisch, aus der zierlichen Milchkanne entströmt dezent ein etwas säuerlicher Geruch, und der Kuchen auf den Tellern, unansehnlich vertrocknet und mit geschmolzener Schokoladenglasur, ist unberührt. Doch wer hätte heute schon auch nur die geringste Zeit für solche banalen Dinge verschwenden wollen! 
 
 

 

 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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