Marcel Asmus

Emma

An einem Samstag rief sie „Hallo!“, und ich antwortete „Hi!“. Dann fragte sie, ob wir zusammen Verstecken spielen wollen. „Klar!“, antwortete ich. Von da an spielten wir jeden Tag nach der Schule Verstecken. Am Wochenende sogar den ganzen Tag. Außer wenn es regnete. Dann saßen wir, bis es dunkel wurde, in ihrem Baumhaus. Ihr Vater hatte es gebaut. Das hätte mein Vater nie für mich getan. Er war ständig arbeiten. Dauernd irgendwo im Ausland. Wichtige Geschäftsreisen. Mutter schluckte deswegen Tabletten, und ich spielte Verstecken mit Emma.
 
Wir versteckten uns immer im Baumhaus. Jeder wusste von Anfang an, wo der andere zu finden war. Trotzdem zelebrierten wir das Spiel über mehrere Minuten. Gezählt wurde bis zwanzig. Danach folgte durchweg das gleiche Ritual: Wir schlichen um den großen alten Baum und taten so, als ob wir jede Hecke und jeden Grashalm absuchten. Mit einem kleinen Unterschied. Emma kroch jedes Mal in die Hundehütte von Jack, um nach mir zu suchen. Jack war ein Terrier, der kurz nach Emmas dreizehntem Geburtstag von einem Eiswagen überfahren wurde. Seitdem kann Emma kein Eis mehr essen. Ihre Lieblingssorten waren Erdbeere und Vanille.
 Die Hundehütte wollte sie nach Jacks Tod behalten. Als Erinnerung. Vielleicht kroch sie deswegen jedes Mal in Jacks Hütte. Um ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Vielleicht schaute er uns ja zu. Irgendwo da oben von einer Wolke.
 Am Ende des Versteckspiels landeten wir immer im Baumhaus, um uns zu küssen. Wir waren so sehr auf einer Wellenlänge. Ich fühlte mich genauso glücklich wie meine Mutter, wenn die Wirkung ihrer Tabletten einsetzte. Die Tage konnten noch so bitter sein. Dieser eine süße Moment am Ende des Tages, ließ mich alles andere vergessen.
 
Im Sommer, wenn Emma mit ihren Eltern auf Reisen war, saß ich abends mit meiner Mutter alleine auf der Veranda und schaute mir mit ihr den Sonnenuntergang an. Wir hatten dort zwei Schaukelstühle stehen. Einen grünen und einen blauen. Eigentlich ist Grün meine Lieblingsfarbe. Aber auf dem blauen fühlte ich mich frei wie ein Vogel. Deswegen sagte ich Mutter, dass Blau meine Lieblingsfarbe sei.
Dann saßen wir da. Ich dachte an Emma. Mutter an ihre Tabletten. Es war eine schöne Zeit. Mutter sitzt in diesem Moment bestimmt auf einer Wolke und schaut mir zu. Ich hoffe, sie hat genug Tabletten da oben.  
 
In der Schule mit Emma anzugeben, war gar nicht so einfach. Eigentlich unmöglich. Mir wollte keiner glauben und Emma beachtete mich nicht. Weder im Schulgebäude noch auf dem Schulhof. Selbst als ich ihr auf die Mädchentoilette gefolgt bin, wollte sie nicht mit mir reden. Die Jungs aus ihrer Klasse wollten davon auch nie etwas hören. Immer wenn ich ihnen davon auf dem Schulhof erzählte, schlugen sie mir ins Gesicht. George, der Anführer einer Gang aus Emmas Klasse, hatte eine starke Rechte. Einmal, kurz vor der Zeugnisausgabe schlug er mir so sehr ins Gesicht, dass er mir das Nasenbein brach. Alle Kinder auf dem Pausenhof lachten mich aus. Ich spürte keinen Schmerz – anfangs. Später tat es so sehr weh, dass ich weinen musste. Das brachte die Kinder noch mehr zum Lachen. Emma ging einfach an mir vorbei und zuckte kurz mit den Schultern. Dafür hasste ich sie – ein bisschen.
 Seit diesem Vorfall wollte sie nicht mehr mit mir Verstecken spielen. Ich klingelte jeden Tag an ihrer Haustür. Die Melodie ihrer Haustürklingel gefiel mir eigentlich sehr. Vielleicht, weil ich wusste, dass Emma gleich aus der Tür kam. Eine einfache und schöne Melodie. Genauso wie die vom Eiswagen. Aber jetzt öffnete jedes Mal ihre Mutter und sagte so Sachen wie „Emma muss lernen“, „Emma muss saubermachen“, „Emma muss dies und Emma muss das“. Ich wusste aber, dass Emma dies und das nicht machte, weil mir Emma erzählt hatte, dass sie dies und das gar nicht gerne macht. Deswegen mag ich ihre Haustürklingel nicht mehr. Sie erinnert mich jetzt an Emmas Mutter, und das macht mich traurig.
 
Kurze Zeit später hatten sich Ihre Eltern getrennt. Anfangs dachte ich, wegen mir, weil ich jeden Tag klingelte. Aber meine Mutter sagte, dass Emmas Vater mit einer anderen Frau im Bett war. Heute weiß ich, dass meine Mutter die andere Frau war. Jedenfalls musste Emma dann mit ihrer Mutter wegziehen. Irgendwo nach München. Ich winkte ihr noch hinterher, als sie mit dem blauen Auto wegfuhren. Blau war nicht meine Lieblingsfarbe. Meine Lieblingsfarbe war grün. Sie winkte nicht zurück. Wahrscheinlich hatte sie mich nur nicht gesehen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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