Anita Voncina

Die Achterbahn

Der Duft von gebrannten Mandeln, Brathendeln und Steckerlfisch lag über der Münchner Theresienwiese wie eine riesige, undurchdringliche Wolke, so als ob diese, mit gemütlichem Temperament und bester Laune, die Heerscharen von Bierzelten, Buden und Fahrgeschäften in seliger Bierlaune umarmen wollte. Und dieses einzigartige Gemisch aus Blasmusik, Schlagergeplärr und den verzerrten Stimmen der Monster aus Hartplastik vor den Geisterbahnen mischte sich dabei unbeschwert unter die Menschenmassen, die nun am späten Nachmittag durch das Haupttor hindurch auf das Volksfest strömten.
     Mit den beiden Kleinen an der Hand war auch dieses Mal ein Besuch in einem der überfüllten Bierzelte ausgefallen, doch das machte den Eltern nicht das Geringste aus. Ganz im Gegenteil. Dafür hatte die junge Familie das Kasperltheater und den Flohzirkus besucht, gemeinsam Unmengen an Zuckerwatte und Türkischem Honig vertilgt, war unzählige Male immer wieder zu der kleinen, runden Pferdekoppel zurückgekehrt um dann, wenn die beiden Kleinen schließlich doch wieder auf den viel zu großen Rössern saßen, die Augen keine Sekunde lang von den aufgeregten, hochroten Kindergesichtern abwenden können. Sie hatten Limonade getrunken, gebratene Würstel mit Sauerkraut gegessen, ein Lebkuchenherz für die Mutter und eine dieser dicken Zigarren für den Vater gekauft und waren zwischendurch den bunt blinkenden Lichtern und dem Chor aus Hupen, Straßenbahnklingeln und Polizeisirenen bei jeder Gelegenheit erlegen, mit denen die Kinderkarussells ihre kleinen Fahrgäste heranlockten. Nun steuerten sie, ganz ohne Eile und in noch immer sehr ausgelassener Stimmung, wieder das Haupttor an, um den Besuch auf dem Oktoberfest zu seinem beinahe schon zu lange hinausgezögerten Ende zu bringen.
     Kurz nach dem riesenhaften King Kong, der mit seinen Augendeckeln klimperte und dem Publikum vor der Geisterbahn mit seiner blechernen Stimme ein noch nie zuvor gekanntes Gruselerlebnis versprach, und der Bude mit den glasierten Früchten, entdeckten die beiden Kinder plötzlich das bunt bemalte Gestängewirrwarr einer Achterbahn. „Sie war wohl eine der ersten damals“, sagte der Vater zu seiner Frau und musste bei dem Gedanken an die Zeit ein wenig schmunzeln, in der er selbst als Kind nichts schöneres kannte als einen Besuch auf der Wies’n, als eine Fahrt mit dem Riesenrad, der Krinoline oder dem Kettenkarussell. „Am allerliebsten aber war mir damals diese Achterbahn“, beschloss er laut seine Erinnerungen und warf seiner Frau einen kurzen, fragenden Blick dabei zu. Das kleine Lächeln in ihrem fröhlichen Gesicht war ihm Antwort genug, und so war die junge Familie wenige Augenblicke später auch schon dabei, sich in die Reihe der Wartenden vor dem Eintrittskartenverkauf einzuordnen. Dabei fühlte der Vater die trockene Wärme der kleinen Hand des Kindes in der seinen und verlor sich immer wieder für kurze Momente in Gefühlen nostalgischer Sentimentalität. „Nichts“, dachte er „hat sich in all den Jahren verändert“, und schaute in die Gesichter seiner beiden Kleinen, die mit heißen Wangen und glänzenden Augen auf das Gestänge der Achterbahn starrten, über das gerade der rote Wagenzug hinwegratterte.
     Als sie die Kabine erreicht hatten, in der die Eintrittskarten verkauft wurden, erwarb er vier Fahrkarten und so gelangten sie anschließend über den schmalen, hölzernen Laufsteg bis hin zu der Stelle, an dem die Wägelchen ihre menschliche Fracht immer wieder entließen.
     Wäre er später gefragt worden, wann ihm zum ersten Mal Zweifel an der geplanten Unternehmung gekommen seien, so hätte er sich vermutlich genau an jenen Moment erinnert, als er die Gesichter der Fahrgäste studiert und dabei überrascht bemerkt hatte, dass sich unter ihnen kein einziges Kind befand, das so jung war wie seine eigenen. Etwas beunruhigt warf er seiner Frau, die wegen des ungeduldigen Gedränges der Menge den anderen Kleinen auf den Arm genommen hatte, einen fragenden Blick zu und erkannte dabei, dass auch sie sich wohl gerade ähnliche Gedanken machte. Der Schausteller unterbrach sein drängendes „und weiter geht’s, Leut’“ nur unwillig, als der Vater dann den Mann auf seine Bedenken ansprach, und erntete, nach dessen abschätzendem Blick auf die beiden vierjährigen Buben, lediglich ein belustigtes Grinsen. Dass gemäß dem Gesetz der Schwerkraft wirklich niemand, also auch nicht das allerkleinste Kind, aus den Wagen seiner Achterbahn fallen könne, klang dem Vater noch im Ohr, als er wenig später dort bereits Platz genommen hatte. Warum es ausgerechnet auch noch der vorderste Wagen der kleinen Kolonne hatte sein müssen, fragte er sich mit zunehmendem Unbehagen und drückte dabei das aufgeregte Kind sanft auf den Sitzplatz zwischen seinen Schenkeln zurück. Dann betrachtete er die schmalen Schultern seiner Frau, die vor ihm in der ersten Reihe des Wagens saß. Er bemerkte, dass sie den Kleinen bereits fest umklammert hielt und sich ganz offensichtlich erfolglos abmühte, mit den ausgestreckten Beinen im langgezogenen Fußbereich des Wagens eine Möglichkeit zum Abstützen zu finden. Zuletzt entdeckte er, dass keine der Sitzbänke mit einem Haltebügel gesichert war.
     Als ein unsanfter Ruck die kleine Wagenkolonne erbeben ließ, die nun bis zum letzten Platz  gefüllt war, suchte auch er mit seinen Beinen im unteren Bereich des Gefährts Halt zu finden und stellte dabei entsetzt fest, dass ihm das, trotz seiner erheblich größeren Körperlänge ebenfalls nicht gelingen wollte. Der Fußraum war viel zu lang und so blieb ihm nichts anderes übrig, als den zierlichen Körper des Kindes zwischen seinen Beinen und Armen einzuzwängen. Wie ein Pfeil durchschoss ihn die Erkenntnis, dass seine Frau in der Sitzreihe vor ihm die selben Schwierigkeiten haben würde, und es beschlich ihn ein Gefühl der unheilvollen Vorahnung, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.
     Sein Herz schlug ihm bereits bis zum Hals und in seinen Schläfen pochte spürbar das Blut,  als ein zweiter Ruck die Wagenkolonne schließlich in Bewegung brachte und sie steil bergauf, schier tatsächlich bis hinauf in den bleigrauen, wolkenverhangenen Himmel, ihre gemächlich ratternde Fahrt fortsetzte. Das Kind in seinen Armen jauchzte vor Freude, doch er hatte nur noch Augen für den unausweichlichen Abgrund, der am Ende dieser Bergfahrt lauern würde. Während er seine Beine mit aller Kraft  nach vorne stemmte und den Kleinen damit  wie eine gewaltige Schere umfasste, hatte er dessen zarten Oberkörper mit ausgestreckten, gekreuzten Armen so gut wie möglich gesichert und hielt die Stange, die die vordere Sitzreihe von der seinen trennte, mit eisernem Griff umklammert. Und er dachte an seine Frau und den kleinen Sohn in der Sitzreihe vor ihm.
     Ein kurzer, kräftiger Ruck kündigte das Ende der Bergfahrt an. Und damit auch die Unausweichlichkeit des Abgrundes. Als sich der Wagen beinahe senkrecht nach unten richtete, empfand er seine kräftemäßige Ohnmacht wie einen körperlichen Schmerz. Das vermeintlich so gesichert untergebrachte Kind erhob sich plötzlich beinahe schwerelos von seinem Sitz, ruderte für einen kurzen, und doch so endlosen Augenblick haltlos zwischen seinen vor Anstrengung schmerzenden Gliedmaßen, versuchte mit den kleinen Händen die Haltestange der vorderen Sitzreihe zu ergreifen und scheiterte dabei jedoch an der Unüberwindlichkeit der räumlichen Entfernung. „Gütiger Gott, steh uns bei“, flehte er lautlos, als er seine letzten Kräfte versuchte aufzubieten, das kleine, geliebte Leben in seinen Armen festzuhalten. Er verfluchte seinen eigenen, vermeintlich ebenfalls ins endlose Nichts stürzenden Körper und hätte in jenem entsetzlichen Moment tatsächlich alles dafür gegeben, diese Fahrt ungeschehen  machen zu können. Und immer wieder dachte er dabei an seine Frau und an den kleinen Sohn in der Sitzreihe vor ihm.
     Begleitet von den kreischenden Schreien der anderen Menschen in den hinteren Wägen, bahnte sich der bunte Zug seine rasend talwärts strebende Fahrt, stockte und quietschte an jeder der Kurven seiner Bahn aus Stahl und Eisen, zuckelte unaufhaltsam immer neuen, immer kürzer werdenden Bergfahrten zu, und stürzte sich danach immer wieder in jene abgründige Tiefen, die bis zu jener Fahrt auch für ihn, den jungen Vater, den Reiz dieses Fahrgeschäfts ausgemacht hatten.
     Als die Wagenkolonne unten am hölzernen Laufsteg schließlich unsanft abgebremst wurde, richtete er sich mühsam auf, umfasste schweigend die kleine, warme Hand, die sich wieder in die seine geschoben hatte, und verließ mit dem Kind den Wagen. Mit der anderen umschlang er die Schultern seiner Frau, die sich mit aschfahlem Gesicht und zittrigen Händen am Geländer der Absperrung festhielt, und küsste das Kind auf ihrem Arm.
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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