Meike Schäfer

Der dunkle Prinz

Es war einmal vor langer Zeit ein Königspaar, das gebar eine Tochter mit dem Namen Delia. Das ganze Königreich war außer sich vor Freude und ließ die junge Prinzessin hochleben. Zu ihrer Taufe waren alle Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen geladen, die die benachbarten Reiche regierten. Das Königspaar wollte, dass es ein prachtvolles Fest war, das die Macht und den Reichtum ihres Reiches widerspiegeln sollte. Jeder der hier geladen war, sollte sich noch Jahre später an diesen Tag erinnern. Und so geschah es auch. Alle waren überwältigt von dem berauschenden Fest. Die meiste Aufmerksamkeit jedoch galt nicht dem Königspaar, sondern der kleinen Prinzessin.
Sie lag in ihrer Wiege und erhaschte die Blicke der strahlenden Bewunderer. Alle waren entzückt von dem kleinen Kind. Die Prinzen und Prinzessinnen wollten mit ihr spielen und die Könige und Königinnen beneideten die Eltern. Denn Prinzessin Delia war kein gewöhnliches Kind.
Ihre Augen funkelten smaragdgrün wie Edelsteine, ihre Wangen waren so rosig wie die Morgenröte und die Farbe ihrer Lippen erinnerte an einen reifen Pfirsich. Delia hatte etwas Anziehendes an sich. Es schien als wolle keiner mehr von ihr weichen, der sich erst einmal in ihrem Blick gefangen hatte.
Doch nach einiger Zeit, als die meisten Gäste lange genug an ihrer Wiege gestanden hatten, wurde ein großes Spanferkel auf einem Tablett in den Speisesaal hineingefahren und so begaben sich die Herrschaften schnell zu Tisch. Die einzige Ausnahme bildete ein kleiner Junge, der wie gebannt vor der Wiege stehen blieb.
Er lächelte, als er Delia ins Gesicht blickte und diese lächelte zurück als sie seinen Blick erfasste. Als der Vater des jungen Prinzen diesen Anblick sah, begab er sich zum König und flüsterte ihm zu: „Mein Freund, schau mal zu deiner Tochter.“
Der König klatschte vergnügt in die Hände, als er den Prinzen sah. Es schien, als konnte er seinen Blick nicht mehr von der Wiege lösen.
„Er scheint ganz vernarrt in Delia zu sein“, gab er zu.
„Was würdest du davon halten, wenn du deine Tochter meinem Sohn versprichst?“, meinte der König des Nachbarreiches.
Der König spitzte die Ohren. „Bei aller Liebe Richard, aber das kann ich nicht auf der Stelle entscheiden. Ich brauche Bedenkzeit!“
„Aber natürlich, Theodore. Du hast alle Zeit der Welt“, versicherte ihm König Richard und nahm wieder bei seiner Gemahlin Platz.
Am nächsten Tag berichtete der König seiner Frau von dem Vorschlag König Richards. Er selbst hatte keinen Zweifel daran, dass dessen Sohn, Prinz Philip, nicht ein geeigneter Bräutigam für seine Tochter war, aber er konnte diese Entscheidung natürlich nicht alleine fällen. Glücklicherweise teilte die Königin seine Ansicht, da sich beide Reiche gut verstanden und beide eine tiefe Freundschaft verband. Somit war schnell entschieden, dass Prinzessin Delia Prinz Philip versprochen wurde.
Im Lauf der nächsten Jahre kamen die Königsfamilien immer häufiger im Königreich des anderen zu Besuch. Prinzessin Delia war zu einer bildhübschen kleinen Dame herangewachsen. Ihre langen Haare glänzten Kastanienbraun und schimmerten Rot bei jedem Sonnenuntergang. Philip und Delia verbrachten jede freie Minute miteinander, in der sie durch den Schlosspark tobten oder mit den Pferden ausritten. Es war wie ein magisches Band, das sie umgab und sie niemals trennte. Alles war perfekt. Die beiden Königreiche waren rundum glücklich und zufrieden und hatten keine Angst vor der Zukunft, da sie wussten, dass diese durch das Eheversprechen bereits vor Jahren gesichert worden war.
 
Doch eines Tages passierte das Unglück. Es war ein kalter und stürmischer Herbstabend, als die Familie um Prinz Philip sich von Prinzessin Delia verabschiedete und in ihrer Kutsche den Heimweg antrat. Der Himmel war grau, die sonst so ebenen Straßenwege kamen einem vor wie lebendige Schlangen und die Bäume erlagen der Kraft des Windes so stark, dass man meinen konnte, ihre Wurzeln würden augenblicklich aus der Erde gerissen. Und so kam es, wie es kommen musste. Die königliche Kutsche kam vom Weg ab und stürzte in einen stark strömenden Fluss. Keiner, weder König, noch Königin, noch Prinz Philip überlebten das Unglück.
Als König Theodore und seine Frau davon zu hören bekamen trauerten sie. Doch nicht nur um ihre Freunde, sondern auch um den Prinzen. Um ihre Tochter zu schützen entschieden sie ihr nichts von dem Unglück zu erzählen. Doch Prinzessin Delia hatte es bereits erahnt. Sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sie fühlte sich Philip so fern wie nie zuvor. Doch trotz eifrigem Fragen, wie es wirklich um das Schicksal des Prinzen stand, ließen sie ihre Eltern im Dunkeln tappen. So verstrich Jahr für Jahr.
Als zehn Jahre vergangen waren und Delia ihren achtzehnten Geburtstag kommen sah, beschloss der König einen neuen Thronfolger für sich zu suchen. Delia, die seit Jahren nur noch in Gedanken an ihren verunglückten Prinzen schwebte, war über diese Nachricht entsetzt und protestierte dagegen. Doch der König erhörte sie nicht und blieb bei seiner Entscheidung.
Durch diese Tatsache, und wohlwissend, dass Philip der einzig Wahre für sie war und niemand jemals seinen Platz einnehmen könne, begann sich der Zustand der Prinzessin von der Nacht auf ihren Geburtstag zu verschlechtern.
In der ersten Nacht huschte sie aus ihrem Gemach in den Schlosspark hinaus, als sie aus dem Fenster in der Dunkelheit eine Gestalt meinte zu sehen, die die Umrisse ihres Prinzen malte. Hoffnungsvoll stöberte sie durch den ganzen Park und machte sich auf die Suche nach ihm, da sie wusste, dass sie es sich nicht eingebildet hatte. Aber die Rabenschwärze siegte und so schlich sie wieder traurig in ihr Gemach. Bevor sie sich schlafen legte ging sie an ihren Spiegel um sich zu betrachten. Ihre kastanienbraunen Haare waren rabenschwarz.
Am kommenden Tag verweigerte sie jegliches Essen und erzählte ihren Eltern von den Erlebnissen der vorherigen Nacht. Daraufhin ließ der König das Fenster zumauern.
In der zweiten Nacht schlich sie heimlich in die Küche und bediente sich an den Resten einer Gans, da sie doch noch Hunger verspürte. Als sie durch die verlassenen Flure des Schlosses zu ihrem Gemach schritt, schreckte sie auf als vor ihr plötzlich eine Gestalt stand. Bei näherem Betrachten erkannte sie, dass es Prinz Philip war. Seine Gestalt war immer noch von einer Dunkelheit umhüllt, aber die Umrisse wurden immer klarer und Delia meinte sogar durch das blasse Licht der Fackeln sein Gesicht zu erkennen. Sie erkannte, dass er etwas in den Händen hielt. Die Gestalt streckte die Hand aus und ließ etwas zu Delia flattern. Sie breitete die Hände aus und auf ihrer Handfläche landete eine aschegraue Motte. Delia sah es als Geschenk ihres Geliebten an, schloss die Augen und küsste die Flügel der Motte. Doch als sie die Augen öffnete, war die Gestalt verschwunden und sie überkam augenblicklich eine bittere Kälte. Dann flog die Motte in die Luft und verschwand in der Dunkelheit. Das Aschegraue siegte und so wandelte sie wieder unglücklich in ihr Gemach. Bevor sie sich schlafen legte ging sie an ihren Spiegel um sich zu betrachten. Ihre Lippen, die an einen reifen Pfirsich erinnerten, waren verfault und aschegrau.
Am kommenden Tag verweigerte sie jegliches Getränk und erzählte ihren Eltern von den Erlebnissen der vorherigen Nacht. Daraufhin ließ der König die Tür verriegeln.
In der dritten Nacht saß sie einsam und verlassen auf ihrem Bett und wusste sich nicht zu helfen. Ihr Herz war gebrochen und niemand konnte ihr helfen, das wusste sie. Delia verzweifelte und fing an zu weinen. Auf einmal hörte sie hinter sich ein Geräusch. Sie blickte auf und sah Philip vor sich stehen, im Rahmen des Spiegels. Seine Haut war kreidebleich und sein Gewand dunkel. Wieder war er von einer Schwärze umgeben, die den ganzen Spiegel aushüllte. Langsam stand Delia auf und kam auf ihn zu. Je näher sie ihm kam und je mehr sie sich in seinem Blick verlor, umso dunkler wurden ihre Augen, bis das Funkeln giftgrün erlosch. Plötzlich streckte Philip seine Hand nach Delia aus. Sie hatte keine Angst vor ihm und legte ihre Hand in seine. In dem Moment wich jegliche röte, jegliches Leben aus ihrem Gesicht und ihre Haut glich der ihres Prinzen. Auf einmal schwärmten tausende von aschegrauen Motten hinter Philip aus dem Spiegel und wirbelten um Delia. Als sie an sich hinabsah, trug sie ein prächtiges Kleid, ein Mottenkleid. Nun wusste sie, dass sie bereit war sich von ihm in seine Welt entführen zu lassen. Sie verließ ihr Gemach, ein letztes Mal.
Am kommenden Tag, als der König die Tür des Gemachs seiner Tochter öffnen ließ, fand er sie dort nicht auf. Doch wo man auch suchte, die Prinzessin war verschollen. Das Königspaar und das ganze Königreich trauerten und Prinzessin Delia wurde nie wiedergesehen.
Nur der Spiegel blieb, dessen Glas aus hunderten von Scherben bestand auf denen tote Motten klebten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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