Manfred Bieschke-Behm

Der Spickzettel


Dass es passieren würde, wusste Selma. Dass es so schnell sein würde, kam in ihrer Fantasie nicht vor. Dabei ist das 'schon so schnell' falsch ausgedrückt. Selma genoss es noch drei Wochen Zeit zu haben um sich mental auf ihren großen Auftritt vorbereiten zu können. Als die Hälfte der drei Wochen verstrichen war, fühlte Selma, das es eng werden könnte. Plötzlich waren es nur noch drei Tage, dann blieben zwei Tage, dann nur noch ein Tag und dann war er da, der Tag der Herausforderung. Selma war unglücklich. Sie hatte die Zeit für den großen Auftritt nicht genutzt.
Mit keinem guten Gefühl und dem Gedanken zu versagen, machte sich Selma auf den Weg. Immer wieder schaute sie auf Ihren Spickzettel und las den Satz 'Der Tannenwald war still und kühl, er passt zu meiner Stimmung'. Zunächst sprach sie diesen Satz ganz leise vor sich hin, dann wurde sie immer lauter. Sie merkte nicht, dass sie Menschen schief angesehen wurde und, das manche kopfschüttelnd an ihr vorbeigingen. Einige schauten mitleidvoll oder sorgenvoll, so genau ließ sich das nicht sagen. Ein Passant sprach Selma an. Er erkundigte sich, ob er helfen könne. Selma, die sich gestört fühlte, winkte ab, lief weiter und wiederholte gebetsmühlenartig den immer gleichen Satz 'Der Tannenwald war still und kühl, er passt zu meiner Stimmung'. Eine Stimme in ihr sagte: 'Reiß dich zusammen'. Doch das half nicht ihre Stimmung zu heben. 'Jetzt brauchst du nicht jammern und klagen'. Da war sie wieder, die anklagende innere Stimme die es schaffte, sie immer mehr zu verunsichern. Selmas Rachen wurde vor Aufregung mehr und mehr trocken gelegt. Ein Schluck Wasser wäre jetzt das Richtige. Leider hatte sie diese Situation keine Vorsorge getroffen. Durch bewegen der Zunge versuchte sie Flüssigkeit zu erzeugen. Es gelang ihr nur mäßig. 'Hoffentlich bekomme ich überhaupt ein Wort heraus', dachte Selma und ging hinunter in den U-Bahnschacht. Fahrtwind, den ein einfahrender Zug erzeugte, tat ihr gut. Für einen Moment schloss Selma ihre Augen und träumte sie stände am Strand und eine frische Meeresbriese kühlte ihr Gesicht. Die Realität holte Selma schnell wieder ein. Aussteigende und mit ihr Einsteigende schubsen und stießen sich gegenseitig. Selma vergaß für einen Moment ihren Satz zu deklamieren. Sie war froh, eine von denen zu sein, die von der Bahn mitgenommen wurde. Selma erreicht ihren Zielbahnhof. Sie stieg aus und hatte nur einen Wunsch: frische Luft atmen können. Eilig, so als wäre jemand hinter ihr her, bezwang sie Stufe für Stufe. Je höher sie kam, desto freier fühlte sie sich. Wenn, da nur nicht die Angst vor dem Versagen wäre. Sie war sich fast sicher, dass sie kein Wort ihres Satzes herausbringen würde. 'Wie peinlich ist das denn', dachte sie und schaute zum x-Mal auf ihren Spickzettel den sie die ganze Zeit krampfhaft in ihrer Hand hielt. Obwohl Selma nicht wirklich daran glaubte, hegte sie die Hoffnung, dass auch andere Schwierigkeiten mit ihren Textbeiträgen haben könnten. Dieser Gedanke gefiel ihr und ließ sie hoffen, nicht die Einzige zu sein, die sich blamiert.
Selma näherte sich dem 'Schicksalsort'. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Wahrheit. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Ihr Herz raste und in ihrem Kopf hämmerte jemand gegen die Schädeldecke. Zum letzten Mal sagte sie ihre Textzeile auf und war erstaunt, dass ihr das gelang, ohne auf den Spickzettel schauen zu müssen.
Jetzt stand sie vor der Tür und wollte sie öffnen. Vergeblich. Die Tür war verschlossen. Auf einem handgeschriebenen Zettel, der mit Kreppband am Türflügel befestigt war, hatte jemand flüchtig hin gekritzelt: Die heutige Theaterprobe fällt aus. Dahinter standen fünf Ausrufe- und ein Fragezeichen. Das Fragezeichen wurde offensichtlich nachträglich hinzu geführt. Es hatte eine andere Farbe als die Ausrufezeichen.
Selma starrte auf den Zettel, und wusste nicht, wie sie auf das Unerwartete reagieren sollte. Erleichtert oder frustriert? Hilflos versuchte sie noch einmal ins Haus zu gelangen, obwohl sie registriert hatte, dass bereits ihr erster Versuch erfolglos war. Noch die Türklinke in der Hand haltend sagte sie: "So ein Mist. Jetzt, wo ich mich textsicher fühle, kann ich meine Fähigkeit nicht unter Beweis stellen." Selma drehte sich frustriert um, und ging zum U-Bahnhof. Unterwegs versuchte sie ohne Grund noch einmal ihre Textpassage abzurufen. 'Der Tannenwald war …. , er passt zu meiner …'. Mehr ging nicht. Vollständig klingt anders. Vorsichtshalber steckte Selma ihren Spickzettel in ihren Beutel denn sie ahnte, dass der sehr bald wieder zum Einsatz kommt.
 

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