Anita Voncina

Kein Rauch ohne Feuer

Leopold Willig blickte fassungslos auf den weißen Briefbogen in seiner zitternden Hand und las die wenigen Zeilen zum wiederholten Mal. Dann studierte er nachdenklich den Absender des Schreibens und steckte ihn schließlich umständlich zurück in das Kuvert. Er hatte das Gefühl, als würde gerade alles um ihn herum wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er verspürte plötzlich einen brennenden Schmerz im Magen. Langsam, und es erschien ihm selbst wie im Zeitlupentempo, drehte er den zierlichen Schlüssel im Schloss des Briefkastens erneut bis zum Anschlag, liess das Gartentor weit geöffnet hinter sich und legte die wenigen Schritte bis zu der weißlackierten Eingangstüre seines Hauses wie ein Schlafwandler zurück. Als er das Innere des Hauses erreicht hatte, steuerte er auf den Lehnstuhl im Wohnzimmer zu und liess sich dann kraftlos hineinfallen. Er schloss seine Augen, lauschte auf das immer noch wilde Pochen seines Herzens und versuchte sich etwas zu beruhigen.
     Vor Monaten, so erinnerte er sich, hatte doch alles so vielversprechend begonnen. Da hatten sich eben die vielen Jahre im örtlichen Schützenverein endlich begonnen auszuzahlen. Und ein hervorragender Pistolenschütze war er sowieso schon immer gewesen, so weit er sich zurückerinnern konnte. Als Jugendlicher auf dem Speicher seines Elternhauses mit der Luftdruckpistole des Vaters, später bei der Bundeswehr und danach im Schützenverein seines Heimatdorfes. Nach einigen Jahren hatte er dort beinahe alle Vereinskameraden weit hinter sich zurückgelassen, hatte sie alle von seinem scharfen Auge und seiner ruhigen Hand überzeugt und die Wertschätzung auch ein wenig genossen, die man ihm deshalb sehr schnell entgegengebracht hatte. Zehn Jahre nach seinem Beitritt war er dann einstimmig zum Schatzmeister des Vereins gewählt worden, denn, dass man Willig auch in dieser Hinsicht volles Vertrauen schenken konnte, war unbestritten. Und so hatte er viele Jahre lang nicht nur dieses Amt inne, sondern auch jede Veranstaltung des Vereins mitorganisiert, und deren Erfolge dabei jedes Mal zu seinem persönlichen Anliegen erhoben. Und noch ehe er sich versehen hatte, war der Schützenverein ein überaus bestimmender Teil seines Lebens geworden und er fühlte sich jedem Einzelnen seiner Vereinskameraden aufrichtig verbunden. So sehr, dass er bereitwillig auch für deren private Bitten stets ein offenes Ohr hatte und ihnen dabei mit Rat, oft genug jedoch auch mit tatkräftiger Unterstützung zur Seite stand.
     Nach jenem Tag, an dem er Schützenkönig geworden war, hatte sich dann allerdings die Situation begonnen zu verändern. Von Willig anfänglich noch unbemerkt, hatten sich plötzlich doch nicht mehr alle Vereinsmitglieder mit ihm gefreut, manche von ihnen hatten hinter vorgehaltener Hand sogar von Zufallstreffern getuschelt und sich nur mit der Aussicht getröstet, dass niemandem auf Dauer das Glück hold sein könne. Doch als im kommenden Jahr der neue Schützenkönig auch wieder zugleich der alte war, war aus dem anfänglichen Unvermögen, die Leistung eines anderen vorbehaltlos anzuerkennen, nun auf einmal unverhohlener Neid und offen gezeigte Missgunst geworden.
     Doch Willig hatte diese Vorgänge niemals ernst genommen, hatte sich wieder und wieder bemüht seine Kritiker zu versöhnen und sich schließlich damit getröstet, dass sich die Situation von selbst irgendwann einmal wieder bereinigen würde. Eines Tages würde dann ein anderer Schützenkönig des Vereins werden, ein jüngerer mit unverbrauchterem Blick und ruhigerer Hand, und dieser Moment würde vermutlich gar nicht mehr weit entfernt sein.
Vorerst jedoch hatte das Schicksal offensichtlich ganz andere Pläne mit ihm, denn Leopold Willig errang wenig später auch noch den Titel des Kreisgaumeisters und gelangte damit, weit über die Grenzen seines eigenen Vereins hinaus, zu den entsprechenden Ehren. Viel mehr als der ansehnliche Preis, den der Titel mit sich brachte, bedeutete ihm allerdings die sportliche Anerkennung seiner Leistung und so wurde der Tag der Titelverleihung zu einem der schönsten in seinem Leben. Seither hatte er sich unzählige Male immer wieder jenen Augenblick, als er von seinem Vorgänger die schwere Kette mit den Silbermünzen überreicht bekommen hatte, ins Gedächtnis zurückgerufen, hatte dabei nicht selten sogar Gänsehaut bekommen und war dann stets zu der Erkenntnis gelangt, dass er zufriedener wohl kaum noch werden konnte.
     Und nun, wenige Wochen später, sass Willig zusammengesunken in seinem Lehnstuhl und stolpert in Gedanken immer wieder über die selbe Textstelle des verknitterten Briefes in seiner Hand. .... musste die zuständige Staatsanwaltschaft damit beauftragt werden, dem Vorwurf der Manipulation an den Schießscheiben nachzugehen.... .
     Viele Stunden später sass er noch immer unbeweglich und in Gedanken versunken in seinem Lehnstuhl, doch als er sich schließlich erhob, hatte er seinen Entschluss gefasst. Nein, er müsste sich tatsächlich nicht vor den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft fürchten, denn er selbst wusste doch ganz genau, dass es niemals irgendwelche Manipulationen gegeben hatte. Was ihm jedoch noch viel schlimmer erschien als die Vorladung bei Gericht, war der mögliche Vertrauensverlust bei seinen Vereinskameraden, die von ihm nun glauben müssten, er hätte seinen Titel nicht rechtmäßig erworben. Dass diese annehmen könnten, er hätte sich unlauterer Mittel bedient, um sich mit fremden Federn zu schmücken, trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht, und er fühlte, wie sich der brennende Schmerz in seinem Magen wieder bemerkbar machte.
     Am folgenden Dienstagabend stand Willig dann schon seit geraumer Zeit ziemlich verloren neben dem Kühlschrank im hinteren Teil des Vereinsraumes und versuchte angestrengt zumindest ab und zu etwas von der Unterhaltung der anderen zu erhaschen. Schließlich, als er festgestellt hatte, dass keiner mehr fehlte und alle Platz genommen hatten, verliess er seinen Standort beim Kühlschrank und trat in die Mitte des Raumes. Dann bat er mit rauher Stimme um Ruhe und begann zu sprechen. Es fiel ihm nicht leicht, seinen Vereinskameraden von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu berichten. Immer wieder versagte dabei seine Stimme und er verlor in seiner Rede mehr als nur einmal den Faden. Der anfänglichen Stille, die ihn in ihrer Vollkommenheit viel mehr verunsicherte als  ermunterte mit seinen Ausführungen fortzufahren, folgte nach kurzer Zeit immer lauter werdendes Gemurmel. Doch der Redner war fest entschlossen, sich auch davon nicht entmutigen zu lassen und seine Ansprache somit zu Ende zu bringen. Deshalb vermied er beim Sprechen jeglichen Blickkontakt zu den Vereinskameraden und konzentrierte sich darauf zu erklären, weshalb eine Manipulation bei jenem Wettbewerb für ihn auch in praktischer Hinsicht gar nicht durchführbar gewesen wäre. Und er beschloss seine Rede damit darauf hinzuweisen, dass man sich doch schon so lange Zeit kannte und jedermann von ihm schließlich wissen müsse, dass er zu so einer unredlichen Tat niemals fähig wäre.
     Anschliessend war es wieder still geworden im Aufenthaltsraum des Schützenvereins. Diese Ruhe erfüllte Leopold Willig mit Dankbarkeit und er blickte schließlich vorsichtig von seinem kleinen Notizenzettel auf und in die schweigende Menge. Doch an Stelle der Zustimmung, die er für einen kurzen Moment erhofft hatte, traf ihn die einheitliche, unmissverständliche Ablehnung der Vereinskameraden, die er ihnen deutlich ansehen konnte, wie ein Schlag ins Gesicht, und er musste erkennen, dass man ihm ganz offensichtlich nicht glaubte.
     Als er wenig später das Vereinsheim hinter sich gelassen hatte und in der sternenklaren, frischen Oktobernacht über den feucht schimmernden Asphalt der Dorfstraße schritt, klang unablässig ein und derselbe Satz in seinen Ohren wieder und lähmte dabei in ihm jegliche Fähigkeit, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. „Wo es Rauch gibt, da ist auch ein Feuer“, hatte man ihm nachgerufen, als er vorhin schließlich vor der offenen Feindseligkeit der Vereinskameraden kapituliert hatte, schweigend, und mühsam um Fassung ringend seinen Mantel vom Garderobehaken genommen und die Tür des Raumes hinter sich geschlossen hatte.
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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