Meike Schäfer

Alvarez - Der Schwur - 1. Kapitel - Der Beginn - Seite 7 - 27

 Ich lag eingerollt in meinem Bett und wusste nicht ob ich schlief oder wach war. Seit gestern Abend regnete es in Kells, Warden Springs. Ich vernahm ihn als ein angenehmes Hintergrundgeräusch, während ich nachdachte. Heute in der ersten Stunde schrieben wir Mathe. Ich hatte mich darauf eine ganze Woche vorbereitet, obwohl es keinen Grund dazu gab. Ich kannte alle Formeln von Anfang an auswendig, aber in meinem Kopf schob sich immer etwas nach vorne, so dass ich mir immer wieder sicher sein wollte, dass ich alle Formeln noch im Gedächtnis hatte. Aber die Vorbereitung auf die Klausur war für mich nur ein kleiner Luftzug, im Vergleich zu einem Orkan.
Mein Problem war die Ungewissheit, die mir Victoria gab. Sie war aufgewühlt, als würde sie auf etwas warten. Ich war mir sicher, dass, wenn es wirklich etwas gab, es mich zu hundert Prozent auch betraf. Diese Ungewissheit bereitete mir Bauchschmerzen. Ich war vor einer Ewigkeit wachgeworden und lag von da an mit einem leeren Magen und einem Schwindelgefühl dort. Mir machte das aber nichts aus, denn ich wusste, dass ich es mir nur einbildete. Ich wäre aber tausendmal erfreuter gewesen, wenn ich wüsste, dass meine Bauchschmerzen nur von der Nervosität, die mir das Warten auf die Klausur erleichterte, kamen. Ich musste irgendetwas tun. Ich hatte so eine Idee, aber mit dieser kam ich niemals durch. Ich wollte das Adrenalin spüren, das ich sicherlich bekam, wenn mich Victoria aufklären würde. Ich überlegte. Ich konnte mit den Pedalen und dem Lenkrad umgehen und kannte die Straßenverkehrsordnung so gut wie möglich. Eigentlich könnte es klappen. Als ich mir sicher war, dass ich es machen würde, nahm ich meine Hand unter der Decke hervor und schaltete die Nachttischlampe an.
Mein erster Blick fiel auf das Bild, das direkt vor der Lampe, neben meinem Wecker stand. Emma, Sam und ich selbst lächelten mich an. Ich lächelte in Gedanken an die beiden zurück. Heute würde ich sie wiedersehen. Nach knapp zwei Wochen. Ich schaute auf meinen Wecker und war erleichtert. Es war doch später, als ich gedacht hatte und so musste ich nicht mehr eine weitere Ewigkeit in meinem Bett rumlungern. In knapp einer Stunde begann die Schule.
Vorfreudig schlüpfte ich aus meinem Bett, kramte Oberteil und Hose aus meinem Schrank und hastete ins Bad um mich umzuziehen und fertig zu machen. Als ich fertig war, kam ich zurück in mein Zimmer und ging an meinen Schreibtisch, auf dem noch immer mein Mathe- Buch aufgeschlagen von gestern lag. Ich machte es zu und quetschte es in meine Tasche. Von unten hörte ich ein Zischen, mit dem der Kaffeekocher anging. Schnell nahm ich meine Tasche und raste die Treppe hinunter an den Esszimmertisch. Er war mit Toast und Rührei gedeckt. Victoria stand in der Küche und nahm eine Tasse aus einem der weißen Regale, die über dem Herd befestigt waren. Als sie mich sah, griff sie nach einer weiteren Tasse. „Guten Morgen, Süße. Willst du auch einen Kaffee?“
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich an den Tisch um zu frühstücken.
„Nein danke, ich brauche heute keinen Wachmacher.“
Victoria lachte leise, schenkte sich Kaffee ein und nahm gegenüber von mir Platz. Während sie aß und ich meinen Orangensaft schlürfte, überlegte ich, wie ich es am besten anstellen könnte. Ich wusste, wo die Autoschlüssel lagen, nämlich auf der Kommode neben der Haustür. Einem dunkelhölzernen, älteren Stück, das ihr Evelyne Coleman, Sams Mom, von Bekannten mitgebracht hatte. Sie hatte es dann abgeschliffen und restauriert. Eine kleine Leidenschaft von ihr.
Zum Glück hast du heute frei, dachte ich.
Denn dann, hätte sich das ganze gar nicht gelohnt, obwohl ich noch nicht wusste, ob ich es durchziehen würde, ob ich es überhaupt konnte. Aber der Gedanke hatte sich schon so tief in meinen Kopf gefressen, dass ich ihn nicht mehr loslassen konnte. Victoria war dieses Mal sehr schnell mit dem Essen fertig, so schnell, dass ich noch meinen halben Toast vor mir hatte, obwohl es eigentlich immer umgekehrt der Fall war. Als sie aufstand, um ihr Geschirr wegzuräumen, durchströmte mich nur ein Gedanke. Jetzt oder nie.
„Nein, nein, Victoria, lass gut sein. Ich räume schon ab.“
Während ich meinen Teller und das Besteck in die Küche brachte und noch einmal umkehrte, um ihres mitzunehmen, machte sie sich bereits auf den Weg nach oben. „Danke Katrin. Ich gehe duschen. Einen schönen Schultag wünsche ich dir und viel Erfolg bei Mathe.“
„Danke“, sagte ich und räumte das Geschirr schnell in die Spülmaschine, während ich darauf wartete, dass die Badezimmertür zufiel.
Dann, als ich das ersehnte Geräusch hörte, packte ich mir meine Tasche, ließ die Schlüssel schnell in meine Hand gleiten und stand urplötzlich vor unserem dunkelblauen Wagen. Auf einmal hatte ich so starkes Herzklopfen, dass ich vermutete, es würde jeden Moment explodieren. Tat ich es? Tat ich es? Ich tat es! Oder doch nicht? Nein! Ich tat es! Bewusst, dass ich einen riesigen Fehler begehen würde, setzte ich mich ins Auto, fuhr aus der Einfahrt heraus und trat auf das Gaspedal. Ich raste nicht. Ich fuhr ganz normal.
Normalerweise, wenn Victoria mich zur Schule fuhr, verlor ich mich in den sonst so durchschnittlichen Straßen von Kells, dem kleinen, zwischenzeitlich von Bäumen überwucherten, Park, der in etwa in der Mitte der Ortschaft lag und, was ich am besten von allem fand, dem eisigen Wind, der mir immer entgegen zischte, wenn ich das Fenster herunter kurbelte - dabei wurde ich erst so richtig wach. Dieses Mal aber hatte ich nicht die Nerven, meinen Blick auch nur einmal von der Straße abzuwenden.
Ich wusste wie man Auto fuhr, Sams Dad, Howard Coleman, hatte mich des Öfteren ausnahmsweise fahren lassen, als er es ihm beibrachte. Was hätte er auch für eine andere Wahl gehabt? Sam und ich waren seit wir Kinder waren, unzertrennlich. Er hatte die Rolle meines großen Bruders übernommen, damit ich nicht immer so alleine war als Einzelkind. Aber das hatte auch seine Nachteile. Jeder auf dieser Schule hatte mindestens einmal geglaubt, zwischen uns war mehr, weil wir uns so gut verstanden. Das stimmte auch. Zwischen uns war eindeutig mehr als Freundschaft und ich liebte ihn auch sehr, aber auf eine andere Weise. Auf die Weise, auf die ich auch Victoria liebte. Es stand für jeden von uns beiden völlig außer Frage, dass wir jemals zusammenkommen würden.
Als ich so über ihn nachdachte, dämmerte es mir, dass nicht nur Victoria einen Schock bekommen würde, wenn plötzlich ihr Auto und ihre Schlüssel verschwunden waren. Ich glaubte nicht, dass es ihm gefallen würde, mich in diesem Auto antanzen zu sehen. Chris Boldan hingegen, sein bester Freund, war, kaum zu glauben, das komplette Gegenteil von ihm, was Sicherheit und Verantwortung betraf. Er würde sicher Beifall klatschen, dass ich mich getraut hätte, gegen die Regeln zu verstoßen, mit meinen fünfzehn Jahren in dem so zusagenden geklauten Auto von Victoria. Dabei war er kein bisschen ein Verbrecher oder jemand, der gegen die Regeln verstoß. Er war eigentlich genauso nett wie Sam und hatte zwar ein Fabel für das Böse aber mehr auf Figuren und Filme bezogen, als es im realen Leben anzuwenden. Ich glaube sogar, dass er sich das niemals trauen würde- und das war ja schließlich auch gut so.
Denn ich wollte nicht, dass sich einer meiner Freunde in einen Verbrecher verwandelte.
Emma Langer hingegen, meiner besten Freundin, sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie hatte zwei Seiten. Eine flippige, aufgedrehte und eine sentimentale, ruhige. Aber in einem Punkt war ich mir sicher. Sie machte sich genauso viele Sorgen um mich, wie Sam es tat und das hieß nichts Gutes. Normalerweise nervte mich ihre häufigste Frage in meiner Gegenwart, ist mit dir alles in Ordnung?, sehr, aber heute könnte ich es sogar mal als Ausrede benutzten.
Denn sie war die einzige von meinen Freunden oder Bekannten, die wusste, was ich bin. Damals bezeichnete man es als Hexe … und genauso fühlte ich mich. Victoria war es auch, ich hatte es wahrscheinlich auch von ihr geerbt aber trotzdem fiel mir nichts Außergewöhnliches an unserem Leben auf. Wir hexten oder zauberten nicht, wir lebten wie ganz normale Menschen. Ich fühlte mich eigentlich auch wie eine ganz normale Person, würde dieses eine Wort, was ich bin, nicht ständig in meinem Hinterkopf pochen. Ich wollte es nämlich nicht sein.
Und heute, gerade heute, war ich das erste Mal in meinem Leben mit dem Gefühl aufgewacht, dass ich es nicht war. Ich fühlte mich frei, frei und unberechenbar. Ich hätte vor Freude durchs Haus schreien können, aber das tat ich nicht … Dafür saß ich jetzt im Auto, auf dem Weg zur Schule. Aber die Freude allein war es nicht, die mich zu diesem unüberlegten Schritt führte. Ich hatte ein komisches Gefühl, eines, das ich noch nie zuvor verspürt hatte, und welches ich nicht begreifen konnte.
Ich hörte lieber auf, in leisen Gedanken über es nachzugrübeln, denn dadurch wurde es nur noch stärker. Ich sah es nicht als Gefahr an, denn irgendwie, sehr sogar, wirkte es vertraut zu mir. Zumindest konnte ich Emma im Glauben lassen, dass sie dieses Mal wirklich recht mit ihrer Vermutung hatte, es läge an dem Teil von mir, den ich nicht akzeptieren wollte. Als ich mich auf dem Parkplatz schnell zwischen die anderen parkenden Autos drängte, um nicht so stark aufzufallen (denn die meisten wussten, wie alt ich war), fing es wieder an zu regnen. Zuerst nieselte es nur aber je näher ich dem Schulgebäude entgegenkam, desto schneller fielen die Tropfen. Als ich die Hälfte des Schulhofs überquert hatte, kam mir plötzlich Chris mit einem Regenschirm entgegengerannt. Er war etwas größer als ich, etwa gleichgroß wie Sam und hatte hellbraune Haare, die irgendwie immer zerzaust wirkten. Es wunderte mich stark, dass mir überhaupt jemand zur Hilfe eilte und dann auch noch er.
Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, erkannte ich erst, dass er ein dickes Grinsen auf den Lippen hatte. „Schlüpf mal schnell mit runter, Katrin. Die Fahrt mit dem Auto muss schwer belohnt werden.“
Ich seufzte. War ja klar, dass er so was nicht freiwillig machte, oder nur gegen eine Gegenleistung, und die hatte er gehabt, als er mich im Auto gesehen hatte. Schnell schlüpfte ich unter den Schirm, drückte ihn aber weg, als er mich zu sich zog. „Chris, damit eines klar ist. Ich bin nicht einfach nur so aus Spaß mit dem Auto von Victoria abgehauen.“
„Hätte mich auch schwer gewundert, wenn nicht“, meinte er selbstverständlich.
„Haben es Sam und Emma auch gesehen?“, fragte ich vorsichtig, denn es lag nur noch eine Treppe vor uns, die uns zur Eingangshalle führte und in der die beiden auf uns warteten. Eigentlich waren wir immer vor dem Gebäude aber sie mussten wohl hineingegangen sein, als es wieder angefangen hatte zu regnen.
„Ja. Was heißt ja? Emma und ich haben es gesehen und wir haben es dann Sam erzählt. Er ist gerade erst gekommen.“
Ich sah ihn vernichtend an, während er den Schirm zuklappte, als wir die gläserne Tür erreicht hatten und reingingen. „Na vielen Dank auch!“
„Warum regst du dich denn auf? Wäre doch sowieso rausgekommen“, sagte er trocken, als wüsste er nicht, wo mein Problem lag. Auf einmal ging er vor mir vorbei zu einem schwarzhaarigen Mädchen, was sich offenbar mit seiner Freundin unterhielt und gab ihr den Regenschirm. Verwundert starrte ich ihn an, als er wieder zu mir kam. „Wieso gibst du den Regenschirm weg?“
„War nur geliehen“, erklärte er mit einem Lächeln. Chris und seine Aktionen …
Warum nur, dachte ich, während ich in einer Ecke zwei Gestalten erblickte. Der Junge hatte dunkelblonde Haare, die vom Regen leicht angeklatscht waren und das Mädchen war schlank und hatte haselnussbraune Haare, welche bis an ihre Brust reichten. Vom Aussehen her konnte sie Victoria in jung sein. Und es gab nur eine Person, der ich genau das einmal gesagt hatte. Emma. Als wir uns ihnen näherten, wirkte sie besorgt, als sie mich sah. Sam war zwar etwas entspannter aber auch nicht gerade sorglos.
„Muss ich mir etwa Sorgen machen?“, fragte er streng, als ich vor ihm stand und umklammerte meinen Hals mit beiden Händen, so dass ich ihn direkt ansah.
„Auf gar keinen Fall. Und das kommt auch nie wieder vor, das schwöre ich“, versprach ich ihm. Es war ein ehrliches Versprechen, darum wäre meine Enttäuschung umso größer gewesen, wenn er es mir nicht glaubte. Das tat er aber zu meinem Glück, wenn auch noch etwas misstrauisch, was ich ihm absolut nicht übelnahm. Emma hingegen blieb unverändert. Schließlich bat sie, mich mal unter vier Augen sprechen zu können und zog mich sofort mit, als ich einwilligte.
Wir beide gingen eine Etage höher und sie zerrte mich in einen der nächstbesten Flurabschnitte.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“
„Ja, natürlich“, tat ich überrascht. „Wie kommst du darauf.“
Ich wollte sie nicht mit Problemen belasten, weshalb ich mehr als sonst versuchte so gut wie möglich zu überzeugen. Sie ging einen Schritt zurück und senkte ihren Blick. „Ich mache mir einfach Sorgen um dich.“
„Musst du aber nicht, es geht mir gut“, gab ich ihr Entwarnung.
Emma war davon aber nicht sehr überzeugt. „Kann ich dir das wirklich glauben?“
Nein, konnte sie nicht. Sie musste es aber. Ihr blieb keine andere Wahl, als mir zu glauben, und mir auch nicht. Emma war der einzige Mensch, neben Victoria, der sich für mich einsetzte, beziehungsweise, der sich um mich sorgte und immer nur mein Bestes wollte. Natürlich gab es auch andere, wie Sam und Chris, die sich um mein Wohlbefinden bemühten, aber diese wussten ja nicht so viel wie Emma. Es war schön, jemanden hinter sich zu wissen, gerade seine Mom und beste Freundin, aber es war auch ganz schön lästig. Victoria wusste in etwa, wie es mir ging, schließlich wohnten wir ja auch zusammen. Emma wusste es nicht, aber sie wollte es um alles in der Welt herausfinden, und genau das wollte ich nicht. Ich wollte sie nicht mit meinen Problemen belasten, denn ich wusste noch nicht einmal ob es wirkliche Probleme waren. Ich war mir in der Sache sehr unsicher und wollte es unter allen Umständen vermeiden, dass ich sie mit in etwas reinzog, von dem ich selbst keine Ahnung hatte. Schon allein die Vorstellung, sie könne etwas mitbekommen haben, wollte ich nicht wahrhaben.
„Was macht dir so Angst?“
„Die Vorstellung, du könntest in Gefahr sein.“
Da wusste sie mehr als ich, was mir Angst machte. Ich wusste nicht einmal, ob es eine Gefahr war oder nicht. Sie wusste Dinge, die ich selbst nicht verstand, obwohl ich die einzige war, die diese Probleme hatte und sich definitiv niemand in mich reinversetzten konnte. Noch nicht einmal Victoria. Glaubte ich zumindest. Jeder aus meinem Umfeld wusste es eigentlich, bevor ich es selbst überhaupt auf die Reihe bekam oder die Erkenntnis hatte. Wenn ich es mir recht überlegte, fiel mir auf, dass ich es von Anfang an wusste, was mit mir los war. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht genau erklären und einen Sinn ergab es auch nicht. Ich hatte nur Angst vor der Angst.
,,Welche Gefahr?“, erkundigte ich mich.
Vielleicht wusste sie ja mehr, als ich bis jetzt überhaupt mitbekam und konnte mir sagen, wie es jetzt weiterging. Aber sie sah mich nur an, als wolle ich sie für dumm verkaufen. „Du weißt wovon ich spreche.“ Schön wäre es gewesen.
„Nein“, gab ich ihr verständlich, aber sie glaubte mir nicht.
„Mir kannst du es sagen“, versicherte sie mir. „Ich bin doch eingeweiht.“
Ich konnte sie verstehen. Ich an ihrer Stelle hätte mir auch nicht geglaubt. Aber für sie war es besser, es nicht zu wissen, und für mich war es besser überhaupt mal einen Ansatzpunkt zu erfahren, was mit mir los war. Mir ging es nicht schlecht und ich war auch nicht depressiv aber, ich wusste es einfach nicht. Mir war zwar klar, dass mich Victoria sicher verstand, aber auch, dass sie mir nicht weiterhalf. Sei es zu meinem Schutz oder sonstigem. „Ich weiß wirklich nicht was du meinst oder verwandelt Chris Horrorfilme wieder in Realität?“ Ich wusste nicht, wie ich auf Chris kam, aber es war mal ein schöner Ausgleich. „Wechsel nicht das Thema“, fuhr mich Emma energisch an.
„Mach ich nicht aber wenn du nicht sagst von wem du diese Befürchtung hast“, sagte ich hysterisch. Manchmal brachte sie mich echt zur Weißglut.
„Ich höre sie nicht, sondern sehe sie dir an!“, erklärte sie mir.
„Und was siehst du?“, vergewisserte ich mich. Um ehrlich zu sein, hatte ich vor der Antwort Angst. Denn, wenn ich wirklich nicht merkte, was mit mir los war, und der Rest der Welt auf einen Blick, dann stimmte wirklich etwas nicht mit mir.
„Da fragst du auch noch? Du fährst mit dem Auto deiner Mom in die Schule, obwohl du noch nicht mal einen Führerschein hast und du noch zu jung bist, nebenbei machst du einen total niedergeschlagenen Eindruck. Was ist mit dir los?“
Das würde ich auch gerne wissen.
Aber ich versuchte die Wahrheit zu unterdrücken, bis ich herausgefunden hatte, was wirklich mit mir los war. Davon abgesehen, hatte ich überhaupt keine Ahnung.
„Ich denke es hat mit der Blockierung …“, ich starrte aus einem der großen dunkelbraun- umrahmten Fenster, die dem Flur das bedürftige Tageslicht spendeten. Auf dem Parkplatz der Schule fuhren Autos fünfmal im Kreis um sicherzugehen, dass es nicht doch noch einen freien Platz gab, an dem sie ihr Auto abstellen konnten. Andere, wie Simon Thorpe durchquerten sogar achtmal die Schlangen, die die Autos bildeten und beschleunigten das Tempo an jeder etwas größeren Pfütze, womit nicht nur die Autos einen zusätzlichen Schauer abbekamen, sondern auch die Leute, die in Reichweite standen und  nicht mit einem weiteren Regenguss von der Seite gerechnet hatten. Erst ihr unüberhörbares wildes Schnipsen brachte mich wieder zu ihr. Als sie erkannt hatte, dass ich mich wieder auf sie konzentrierte, ließ sie ihre Hand schnell fallen.
„Was wolltest du sagen?“
„Ich denke es hat mit der Blockierung eines Teils von mir zu tun“, drückte ich es vorsichtig aus, um keine Aufmerksamkeit von den anderen Schülern zu bekommen, die an uns vorbeihuschten. Missmutig funkelte sie mich an und verdrehte die Augen.
„Katrin du wurdest so geboren, das ist ein Teil deines Lebens und den kannst du nicht einfach wegwerfen. Schon gar nicht, wenn deine Mom das gleiche Schicksal hat.“
Alle Fäden, die man in dieser Hinsicht in die Hände nahm, führten zu Victoria. Es nervte mich immer wieder, wenn Emma ihr recht gab. Im Prinzip war es ja auch richtig, immerhin war sie meine Mom, aber in der Hinsicht, das ich vielleicht nicht wie die anderen war, wollte und brauchte ich nur Unterstützung und Verständnis für mich. Meine Mom, die alles zu verantworten hatte, obwohl das ihre Aufgabe war, und erst gar keine Freundin, die ihr auch noch recht gab.
„Victoria hat damit überhaupt nichts zu tun“, versuchte ich ihr zu verdeutlichen.
Entkräftet sah sie an mir vorbei und wechselte blitzartig das Thema.
„Ich glaube, ich werde den Tag nie erleben, an dem du deine Mutter ausnahmsweise mit Mom ansprichst, außer vielleicht in deinen Gedanken.“
Ich gab es auf. Darüber mit ihr weiter zu diskutieren, brachte nichts, da sie es schon seit knapp drei Jahren ununterbrochen ansprach, und raubte mir damit den letzten Nerv. Dabei gab ich ihr immer nur eine einzige Antwort.
Immer umformuliert aber mit derselben Bedeutung.
„Solange es in keinem Gesetz steht, verändere ich mich nicht“, verdeutlichte ich es ihr ein letztes Mal. Sie wusste selbst, dass ihr Gerede nicht sehr viel bei mir bewirkte aber sie gab einfach nicht auf.
„Doch das tust du, sogar schon jetzt!“
„Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun“, gab ich ihr mit Nachdruck zu verstehen. Wenn ich meine Energie irgendwann mal restlos verbraucht haben sollte, wusste ich wenigstens an wen.
„Akzeptier einfach, dass du eine Zauberin bist!“ Sie nahm mich an den Armen und drückte mich gegen die Wand, neben das Fenster. Ich wusste, sie würde mich nicht loslassen, bevor ich mich ergab. In gewisserer Weise hatte sie ja auch recht, wie immer, aber es war für sogenannte Außenstehende, schwierig sich in mich zu versetzten. Gerade, wenn man das Gefühl nicht beschreiben konnte. Es fühlte sich stark negativ an aber aus irgendeinem Grund auch positiv. Theoretisch war es nun auch egal. Die Schule hatte wieder angefangen und ich war endlich wieder unter Menschen und konnte mit meinen Freunden Zeit verbringen und, am wichtigsten, dieses Gefühl versuchen zu vergessen.
„Das ist leichter gesagt als getan!“
Zu meiner Verwunderung nickte sie und blickte mich mitfühlend an.
,,Aber auch nicht unmöglich.“
Ich lächelte etwas.
Als sie mich wieder losließ, wandte ich den Blick schnell wieder auf den Parkplatz. Dort stand ein kleines weinendes Mädchen umringt von vier Jungen, darunter auch Sam, die es trösteten, weil es von Simons rücksichtsloser Fahrerei auch getroffen wurde. Als ich sie sah, musste ich leicht grinsen, sie sah einfach so süß aus, auch wenn sie sicher unter der Nässe litt. Ich huschte mit meinem Blick schnell über alle Autos und wandte mich wieder zu Emma. Wir beide warfen uns übereinstimmende Blicke zu und machten uns auf den Weg zur Klausur, damit wir auch noch pünktlich erschienen. Normal war es nicht, dass wir gleich am ersten Schultag einen Test schrieben aber wir hatten unsere Gründe. Mr. Ellak klagte ganze drei Wochen vor den Ferien über einen Virus, welcher nicht gerade angenehm zu sein schien. Da man keine Vertretung für ihn fand, hatten wir drei Wochen kein Mathe und konnten uns somit auch nicht auf eine Klausur vorbereiten. Vor den Ferien hatte sich die Schulleitung zusammengesetzt und darüber entschieden, dass wir über die Ferien mit Unmengen von Arbeitsblättern, aus denen man einen Roman anfertigen hätte können, versorgt würden und die Klausur heute schrieben. Ich musste zugeben, für die Schule lernte ich eigentlich gerne, ging es nicht um Physik oder Mathe. Für beide Fächer musste man nur Formeln verwenden und sich Rechenwege merken. Eine klare Kopfsache, an die ich mich auch anpasste aber der Rest war für mich Tabu. Nur wegen Victoria, saß ich in den letzten zwei Wochen jeden Tag am Schreibtisch und bearbeitete und rechnete pro Tag mindestens drei Seiten. Direkt nach dem vierten Tag beherrschte ich sie, was sich daran zeigte, das ich alle anderen Aufgaben auch lösen konnte. Es war gut zu wissen, dass man sich nicht länger mit Lernen beschäftigen musste, sondern wieder genügend Zeit für seine eigenen Probleme hatte. Normalerweise wäre ich über die Aufgaben und die Ablenkung regelrecht dankbar gewesen aber Mathe zählte nicht zu meinen Vorlieben sondern zerriss mich nur noch mehr.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als wir über die Flure liefen.
Dauernd knallten vor oder hinter uns Türen zu, was ein Anzeichen für den Unterrichtsbeginn war. Auf den Treppen war es sehr rutschig, da sich auf allen Stellen die ich betrat, schon hunderte von Schuhen für eine kurze Zeit verewigt hatten, dessen Mitbringsel Matsch und Wasser waren. Man musste aufpassen, dass man nicht ins Schwanken geriet. Da ich nicht die besten Winterschuhe trug, brauchte ich ein gutes Gleichgewicht. Trotz etwas Verspätung erreichten wir den Raum noch pünktlich, zu unserem Glück auch noch ohne Lehrer. Emma stupste mich an und grinste.
„Vielleicht haben wir ja noch das Glück und Mr. Ellak wird ersetzt.“ Ich setzte mich in eine der vorderen Reihen und griff in meine Tasche, um die nötigen Materialien zu holen, als sich Chris mit einer unerklärlichen Schadenfreude vor mich an den Tisch lehnte.
„Emma kann reden was sie will, Tatsache ist, dass man lernen sollte damit überhaupt eine kleine Chance besteht, diesen wirklich schweren Test zu meistern, der einer der wichtigsten dieses Jahres ist.“ Er drückte sich wieder einmal ganz ausführlich aus.
„Hast du überhaupt gelernt?“ Ich freute mich schon auf die Antwort, weil ich sie genau wusste.
„Nein. Ich wollte, aber meine Nachhilfe hat mich einfach zu sehr von ihrem Äußeren abgelenkt.“ Sam betrat gerade den Raum und blickte spielerisch zu uns rüber. Anscheinend hatte er Chris´ Worte verstanden.
„Chris Boldan, der große Frauenversteher!“
„Wetten ich habe mehr Grundkenntnisse als du.“
Hinter Chris näherte sich Mr. Ellak. Er hatte die ganze Zeit hinter der Tür gestanden und ihr kurzes aber für ihn dennoch mitreißendes Gespräch belauscht. So etwas tat er immer gern. „Ich hoffe Sie haben auch mehr Grundkenntnisse auf dem Gebiet der Mathematik, denn das wird für diese Klausur besonders bei Ihnen dringend erforderlich sein. Damit meine ich nicht, dass ich hoffe, Sie wüssten mehr als Mr. Coleman.“ 
Sam legte seinen Arm um Chris´ Schulter und beklopfte sie mitfühlend. „Ist auch nicht so.“
„Was willst du damit sagen!“
„Warten wir einfach ab wie sie ausfällt.“
Mr. Ellak reichte Chris Mut machend die Hand, aber er schüttelte sie nicht. Wieso sollte er auch? Er hasste seinen Lehrer. Er hasste alle seine Lehrer, wie es die meisten Schüler taten. Doch bei Mr. Ellak war es am schlimmsten. Er nutzte alle Möglichkeiten die er fand, um Mathe für uns und für sich selbst lustig und nie vergessend zu machen. Dabei war aber meistens nie der eigentliche Unterricht gemeint.
„Legen Sie bitte ihre Schreibmaterialien auf ihren Tisch und drehen Sie die Blätter erst um, wenn Sie ein Klingeln hören. Sie haben genau eine Stunde Zeit.“
Ich musste mich nicht bemühen oder bei den Aufgaben lange überlegen. Keine eine Aufgabe hätte ich ohne die verschiedenen Formeln rechnen können. Der Trick war, lernen. Außer den Formeln hatte ich nichts gelernt. Aber sie reichten aus um ein gutes Endergebnis zu bekommen. Ich gab mir Mühe, die Aufgaben schnell zu lösen, nicht, weil ich sie sonst von der Zeit her nicht geschafft hätte. Die Besorgnis über mich selbst und über Victorias Reaktion. Wie sollte ich darauf reagieren? Es gab natürlich einige Gründe, jedoch würde sie diese nicht gelten lassen.
Mr. Ellak stand auf und kam an meinen Platz, als er bemerkte, dass ich aufgehört hatte zu schreiben.
„Sind Sie etwa schon fertig?“, fragte er erstaunt.
„Ja.“ Ich drückte ihm die Klausur mit zufriedener Miene in die Hand.
„Wollen Sie nicht noch einmal drüber schauen?“ Man sah ihm an, dass er sich Sorgen machte. Darüber, dass ich die erste war, die seine schweren Aufgaben in so kurzer Zeit lösen konnte.
„Ich finde das ist nicht nötig, Sir. Ich habe bei der Sache ein gutes Gefühl.“ In Zeitlupe nahm er die Blätter entgegen, in der Hoffnung, ich würde es mir noch einmal anders überlegen. „Das freut mich für Sie!“
Als er mir den Rücken zuwandte und immer noch langsam aufs Pult zuging, traf mich etwas Leichtes an meiner Schulter. Vorsichtig schob ich meinen Stuhl leicht nach hinten und lugte auf den Boden. Genau neben meinem Fuß lag ein karierter zerknüllter Zettel. Nach einem raschen Blick nach vorne, griff ich ihn und faltete ihn vorsichtig auf. Außer einem kleinen Datum am oberen Rand und viereckigen schwarzen Linien war darauf nichts abgebildet. Vorsichtig knüllte ich das Blatt wieder zusammen und schob es unter den Tisch. Keine Sekunde später traf mich die nächste Kugel. Jetzt am Kopf. Ohne auf den Boden zu gucken, drehte ich mich um. Zwei Reihen hinter mir schaute mich Emma neugierig an. Sie fühlte sich nie zum Lernen verpflichtet, genauso wenig wie Chris. Der entscheidende Vorteil, den sie besaß war, sie hörte während des Unterrichts zu. Wenn auch mit großer Anstrengung. Hilfe brauchte sie nicht, nur Klarheit darüber, wie ich in so kurzer  Zeit fertig wurde. Ich zuckte die Schultern und setzte mich wieder in Richtung des Pultes. Die Uhr rechts über der Tafel zeigte noch zwei Minuten an. Um mich herum wurden die Mitschüler fertig und ließen den Lehrer die Klausuren reihenweise abholen.
Höchste Zeit meine Sachen zu packen, dachte ich.
Ich holte mein Mäppchen aus der Tasche und ließ alle Schreibutensilien auf dem Tisch in ihm verschwinden. Ein letztes Mal drehte ich mich zu Emma um. Als sie meinen Blick fand, winkte sie mir lächelnd zu. Wohlmöglich würde sie die Klausur bestehen, aber mein Gefühl war eindeutig besser. Nachdem die Stunde vorbei war lief sie auf mich zu, hängte ihren Arm bei mir ein und riss mich damit vom Stuhl. Sie zerrte mich schnell zu den Jacken und wollte den Raum verlassen, als Mr. Ellak sie zu sich rief. Sie gab ein leichtes Stöhnen von sich, warf mir dann einen raschen Blick zu. Mit „Ich warte draußen auf dich“, gab ich ihr die wohlerhoffte Antwort. Sie faltete vor mir ihre Hände zusammen und beugte ihren Kopf leicht nach vorn. Dann ging sie in kleinen Schritten auf Mr. Ellak zu. Mit dem erleichterten Gefühl, die Klausur endlich hinter mir zu haben, ging ich auf die gegenüberliegende Wand zu und stützte mich an der weißen Mauer. In den letzten Tagen wär mein Kopf beinahe explodiert von den vielen Gedanken, die in ihm rumschwirrten. Jetzt war ich froh, das Thema Mathe endlich von der Backe zu haben. Ich beobachtete Emma und Mr. Ellak aus dem linken Augenwinkel. Sie war noch nicht ausgerastet oder wütend geworden. Das war ein gutes Zeichen. Während ich völlig gedankenlos dem Stummfilm folgte, bemerkte ich gar nicht, dass sich neben mich ein anderer Junge gesellt hatte. Ich bemerkte ihn erst, als er sich räusperte. Erschrocken blickte ich rechts neben mich. Es war ein etwas älterer Schüler. Sein Gesicht malte einen unschuldigen Jungen und gleichzeitig einen starken Mann. Die Haare waren dunkelbraun. Seine Augen hatten einen unbegreiflichen violetten Farbton. Sein Alter konnte ich nicht einschätzten. Er wirkte sehr konzentriert wobei seine Mundwinkel, für jemanden den sein Äußeres nicht sonderlich beeindruckte, eine kaum sichtbar, höhere Position einnahmen. Ich hatte ihn hier noch nie zuvor gesehen. Ob er hier wohl neu war? Und wenn, wieso war er nicht am Beginn des neuen Schuljahres angemeldet worden? Ob es da etwa keine freien Plätze mehr gab? So lange hatte mich noch nie ein Junge angestarrt. Er nahm einen Lehrplan aus seiner Hosentasche, der für einen Tag Besitz schon sehr gelitten hatte und zu einer platten Kugel gewandelt war. Schon vom ersten Blick konnte ich erkennen, dass er nicht ihm gehörte. Montag - erste Stunde - Mathematik - Mr. Ellak - Raum 110, konnte ich aus den Augenwinkeln lesen. Wäre das sein Lehrplan gewesen, hätten wir zusammen Unterricht gehabt und er wäre mir schon früher aufgefallen. Dies war nämlich auch mein Stundenplan.
„War die Klausur wirklich so schwer?“
„Wie kommst du darauf, sie wäre schwer?“
Er blickte hinter mich. „Wenn ich mir die Gesichter der Leute so anschaue.“
Ich folgte seinem Blick. Chris verließ gerade den Raum, die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. Dicht hinter ihm folgte Sam, der ihm unsinnige Grimassen zu eiferte. Scheinbar hatte er auf Chris‘ Blatt ein Auge gehabt und voller Freude verinnerlicht, dass er den Test mal wieder verhauen hatte. Ich senkte meinen Kopf, da niemand sehen sollte, wie ich mit allen Mitteln versuchte, mir den plötzlichen Lachanfall zu verkneifen. Dann wandte ich mich wieder zu dem fremden Jungen zu. Er schien meine Unhöflichkeit nicht bemerkt zu haben und hatte sein Gesicht keinen Millimeter verschoben.
„Jeder hat seine eigene Masche“, sagte ich und versuchte so ruhig wie er zu wirken. Ohne Erfolg.
„Und welche hast du?“ Es war komisch. Er tat so, als ob ich ihn interessieren würde, was außer Chris damals, niemand zuvor getan hatte.
„Lernen.“
Seine Mundwinkel wanderten immer höher.
„Wird das nicht auf die Dauer langweilig?“
Oh ja! Und wäre Mathe ein Nebenfach, wäre sicher vielen Schülern geholfen. Viele meiner Mitschüler dachten, ich wäre ein richtiges Ass in Mathe, weil ich hin und wieder mal eine gute Note schrieb. Ich war das komplette Gegenteil. Alles was ich tat, war nur lernen. Ich verbrachte die Hälfte der Zeit, die ich meinen Hausaufgaben widmete, mit Mathe. Nur das war mein Erfolgsgeheimnis.
Ich zuckte die Schultern. „Ist aber die einzige Möglichkeit hier zu überleben.“
„Davon hat man mir aber nichts erzählt“, sagte er überrumpelt, aber dann kam sein Lächeln. Ich musste es teilen. Endlich brachte mal eine neue Person Ironie in den Unterricht, nicht nur Chris.
„Bist du neu hier?“, wollte ich wissen. Obwohl ich mir die Frage auch selbst beantworten konnte.
„Ich bin hier seit einer Woche. Es kam sehr kurzfristig“, erklärte er.
Ich wusste nicht wie es war, wenn man von einem Tag auf den anderen plötzlich umzog. Neue Umgebung, neue Schule, neue Freunde, neues Leben. Ich wusste nicht wie es war aber ich stellte es mir echt hart vor.
„Das tut mir leid“, bedauerte ich ihn.
Aber er schüttelte nur beruhigt den Kopf. „Das muss es nicht.“
Ich warf einen hastigen Blick auf den Zettel, den er mit sich schleppte.
„In welche Stufe gehst du?“
„In keine.“
„Was machst du dann hier?“
„Mein Bruder geht in deinen Kurs.“
Ich überlegte aber mir war kein neuer Mitschüler aufgefallen. „Ich habe keinen neuen Jungen gesehen.“
Er nickte. „Ich weiß. Er kommt einen Tag später.“
„Katrin, kommst du. Ich habe Hunger!“
Emma war aus dem Raum gekommen und winkte mich hektisch zu sich.
„Ich muss jetzt los“, sagte ich und wandte mich langsam von ihm ab.
„Ich hoffe, wir sehen uns wieder“, sagte er vielversprechend.
„Katrin!“, fuhr mich Emma von hinten an.
„Ich komme.“
Ich drehte mich zu ihr und ging mit ihr in Richtung Cafeteria. Ich ging mit ihr nicht freiwillig. Lieber wär ich noch bei ihm geblieben. Er hatte etwas an sich, das mich faszinierte. Es tat weh ihm den Rücken zuzukehren. Bevor wir um die nächste Ecke verschwanden, wollte ich mich noch einmal umdrehen, damit ich sicher war, dass ich eben mit ihm gesprochen hatte und nicht mit einem, der vermutlich die gleiche Masche abzog wie Simon oder Chris. Doch Emma packte mich sofort und flüsterte: „Erste Regel, dreh dich nie um nachdem du mit einem Jungen gesprochen hast. Sonst weiß er sofort, dass er dich interessiert.“
Als wir einige Schritte weiter gegangen waren und ich nicht mehr die Möglichkeit hatte ihn zu sehen, zerrte ich mich von ihr und fauchte sie an, wenn es auch nicht meine Art war. „Was sind das für bescheuerte Regeln?“
Sie zuckte die Achseln. „Habe ich aus den Tagebüchern meiner Mom.“
Mir blieb die Luft weg. Emma traute ich ja so einiges zu aber auf die Idee, die Tagebücher seiner eigenen Mom zu lesen, in die sie vielleicht so intime Einträge hinterlassen hatte, dass man es bereute daraus gelesen zu machen, damit hätte ich nie gerechnet.
„Wieso liest du die Tagebücher deiner Mom?“
„Sie scheint sie ja sowieso nicht zu vermissen aber bitte, sie liegen bei uns schon seit Jahrzehnten auf dem Dachboden und waren voller Staub. Sogar so sehr, dass ich zuerst dachte es sei ein Fell. Das wiederum hat meine Allergie ausgelöst. Ich konnte die ganzen Ferien nicht raus, weil meine Mom dachte, ich würde den Laubhaufen in unserem Garten noch explodieren lassen! Jedenfalls sind sie umgezogen. Vom Dachboden unter mein Bett. Natürlich gut abgestaubt.“
Unfassbar, dass diese Geschichte wahr war. Dass Eltern aus Angst um ihre Kinder überprüfen wollen, was sie so machen, verstand ich ja noch, aber, dass das auch umgekehrt der Fall war, war mir noch nie zu Ohren gekommen.
„Und wie heißt die zweite bescheuerte Regel?“
Ich bereute diese Frage, aber Emma hätte es mir sowieso früher oder später verraten. Sie senkte ihren Kopf zu mir, als ob es niemand der anderen Schüler mitbekommen sollte. „Sprech ihn nicht an! Wenn er etwas von dir will, muss er zu dir kommen!“
Ich schaute sie fassungslos an.
Sie nickte leicht. „Ich weiß. Bescheuert!“
„Allerdings.“
„So ist meine Mom halt.“ Das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Ich kannte ihre Mom Julie, und sie war nicht der Mensch, der in der Lage war, diese Regeln aufzugreifen. Aber das bewies mal wieder, wie sehr man sich mit zunehmendem Alter verändern konnte. „Bist du nicht sicher, dass du sie nicht mit Victoria verwechselst?“
Sie stöhnte leicht. Wahrscheinlich, weil sie sich nach ihrem kurzen Vortag erhofft hatte, dass in meinem Wortschatz nach langer Zeit mal wieder das Wort Mom auftauchte. Doch sie wusste auch, dass das unvermeidlich war.
Wir mussten nicht mehr lange gehen. Bereits nach zwei weiteren Ecken hatten wir die Cafeteria erreicht. Der Raum war im Gegensatz zum vorherigen sehr groß. Er bestand aus Fenstern, die die ganze Wand einnahmen und einer Hintertür, von der ein kleiner Kiesweg an den Lehrerautos vorbei, auf den Schulhof führte. Im ganzen Saal verteilt standen um die zehn gläserne Tische mit jeweils sechs Stühlen. Links reihten sich drei Theken parallel zueinander auf. Die erste hatte warme Gerichte, die zweite kalte und die dritte Obst und Getränke. Wie durch ein nichts standen Sam und Chris vor uns. Beide schienen eine verwundernd gute Laune zu haben und lächelten uns an.
„Hey, wir haben das kalte Büfett für euch lahmgelegt. Wir wollten auch das warme aber bei den Wetterbedingungen sind die meisten Leute froh, wenn ihr Tagesablauf auch noch etwas anderes zu bieten hat, als Untertemperaturen.“
Chris verkündete es so freudig, dass ich mich fragte, ob sein Gedächtnis nur wenige Sekunden anhielt. Emma schien sich mit der Arbeit der Jungs nicht zufriedenzustellen.
„Vielleicht gehöre ich auch zu den Leuten, die an kälteren Tagen etwas wärmeres bevorzugen“, maulte sie verärgert aber gleichzeitig auch amüsierend.
„Ich dachte von zu abwechslungsreichen Temperaturen bekommst du Kopfschmerzen.“ Sam war verwirrt.
„Also erstens, man bekommt nur Kopfschmerzen, wenn beide Temperaturen etwas mit dem Wetter zu tun haben und nicht, wenn die Temperatur die Wärme von Essen betrifft. Zweitens, ich bekomme bei einem zu starken Wetterwechsel keine Kopfschmerzen! Ich habe eine Pollenallergie!“
Chris schluchzte. „Wie konntest du nur so einen Fehler machen?“
Ich drängte mich zwischen die beiden, um mich schnell an der langsam wachsenden Schlange, die sich durch Chris’ und Sams Abwesenheit gebildet hatte, am kalten Büffet anzustellen. Zuvor wandte ich mich noch einmal zu Chris, um ihm seine gute Laune zu vertreiben. Und auch, wenn es nicht sehr nett war aber mir hatte seine Enttäuschung über die vermasselte Klausur mehr Freude bereitet.
„Muss er wohl von dir gelernt haben.“
Sam ging einen Schritt auf mich zu, schlang seine Arme um meine Hüfte und wirbelte mich im Kreis herum. Obwohl mein Magen seit gestern Abend leer war, machte ich mir Sorgen ob nicht doch noch etwas meine Kehle hochwandern würde. Zum Glück ließ er mich sofort wieder ab. Er freute sich anscheinend sehr über Chris´ Comeback der schlechten Laune. Chris räusperte sich in Sams Richtung.
„Ich muss jetzt raus. Kommst du mit?“ Er drückte auf eine Wölbung in seiner rechten Hosentasche, die mir erst jetzt aufgefallen war, um es für Sam verständlicher zu machen. Bei genauerem Überlegen fiel bei mir der Groschen. Chris wollte rauchen gehen. Es gab eine kleine Ecke, etwas abseits des Schulhofs hinter einem Gebüsch, das als Tarnung diente. Dort gab es zwar nicht viel Platz, so dass immer nur maximal vier Personen gleichzeitig im Grünen verschwinden konnten, aber man wechselte sich immer ab. Ich wusste davon nicht allzu viel, da ich selber nicht rauchte und es auch nicht vorhatte, gerade wo ich wusste, was eine Raucherlunge anrichtete. Chris hatte mir nur ein paarmal davon erzählt, als er mich fragte, ob ich vielleicht mal mit ihm mitkommen wollte. Natürlich gab es keinen Moment in dem ich es nicht doch in Versuchung gezogen hatte. Aber was wollte er dann mit Sam? Ich wusste, dass Sam kein Raucher war aber wieso sollte er ihn dann begleiten? Langsam dämmerte auch dieses mir. Sicher sollte er Wache halten, falls doch jemand auf die Rauchwolken aufmerksam werden sollte. Bevor Sam einwilligte, warf er nochmal einen Blick auf Emma und mich.
„Könntet ihr unsere Abwesenheit diese Pause ertragen?“
„Klar“, entließ ich die beiden.
Auf Emma hingegen, schienen sie keinen großen Einfluss zu haben.
„Na geht schon“, murmelte sie nur und verschwand schon in der Menge, die sich um die Theken tummelte. Ich folgte ihr, während sich Sam und Chris einen Weg durch die Schülermassen, die auf den Schulhof wollten, bannten. Ich nahm mir schnell ein Tablett und Besteck und übersprang sofort die erste Theke mit den warmen Speisen, da mir nicht danach war. Sofort wollte ich zur kalten Theke schreiten, als ich Emma an der dritten sah. Ich stellte mein Tablett ab und schaute, was es heute alles an Obst gab. Dazu wandte ich mich an die Namensschildchen, die vor jeder Speise standen. Und dann passierte es. Als ich kurz hinter die Theke blickte, sah ich ihn wieder. Den Jungen, der mich eben auf dem Flur angesprochen hatte. Er saß mit dem Rücken zu mir gewandt nah an der Hintertür und unterhielt sich mit einem schlanken Mädchen, das an der anderen Tischhälfte Platz genommen hatte. Sie hatte glänzendes, leicht gelocktes, dunkelbraunes Haar und gab dem Raum durch ihr überfreundliches Lächeln die dringend erforderliche positive Energie und Wärme. Sie hatte eine Strähne hinter ihr rechtes Ohr gelegt und obwohl sie perfekt hielt, was bei den wenigsten Leuten der Fall war, benötigte sie noch nicht einmal eine Klammer wie es Victoria immer bevorzugte. Und es gab noch etwas, was er und sie gemeinsam hatten. Beide hatten violette Augen. Eigentlich konnte jeder Mensch violette Augen haben, es zählte anscheinend auch als Augenfarbe, so ein dunkles violett wie bei ihnen hatte ich jedoch noch nie gesehen. Beide schienen einen beruhigenden Einfluss auf einander zu haben. Was mich verwunderte war, dass ich auch sie hier noch nie gesehen hatte. Weder hier noch in der gesamten Stadt. Emma hatte die Theke gewechselt und kam mit zwei Schnitzeln und Kartoffelpüree zu mir. Sie wollte gerade mit ihrem Teller vorrücken, da ich mich nicht auf die Theke konzentriert hatte, kam sie jedoch nicht weit voran und sah auf meinen Teller, der zu ihrer Verwunderung leer war. Sie stupste mich an.
„Hast du keinen Hunger?“
Verwundert drehte ich meinen Kopf zur Seite, zuerst blickte ich sie an, dann mein Tablett, um zu realisieren was sie meinte. Da ich am Morgen nichts gegessen hatte, zu meinem Übel, und daran seit zwei Stunden litt.
„Doch, ich habe nur kurz ...“
„… zu einem Teil der Familie Cabot geschaut?“
„Zu wem?“
„Zu der Familie Cabot, zumindest ein Teil von ihnen.“
Sie schien nicht zu bemerken, dass sie den Jungen erst vor ein paar Minuten gesehen hatte, doch war es besser, sie nicht daran zu erinnern. Ich wäre nicht sehr begeistert, würde sie die restlichen Regeln ihrer Mom auch noch aufzählen. Also beschloss ich nicht das Thema zu wechseln und ihr weitere Fragen zu stellen. Denn es überraschte mich, dass sie scheinbar doch mehr über ihn wusste als sie zugab.
„Woher weißt du wie sie heißen?“
„Simon hat es mir gesagt.“
„Und woher weiß es Simon?“
Sie schmunzelte. „Er hat versucht mit dem Mädchen eine Bekanntschaft aufzubauen. Sie war aber sehr distanziert, hat zwar mitgespielt aber nur um ihm den Titel Frauenversteher abzubauen. Was ihr bisher als einzige gelungen ist.“
Ein Grund mehr, dieses Mädchen zu mögen, obwohl ich mit ihr noch nicht einmal gesprochen hatte.
„Sein Nachfolger steht ja schon fest.“
Ich wusste, dass Emma genau die gleichen Gedanken wie ich hatte. Chris machte seinem zukünftigen Titel nämlich alle Ehre.
„Wenn Chris es auch übertreibt werde ich sie bitten, sich auch um ihn zu kümmern.“
Sie lachte leise, nahm ihr Tablett und setzte sich an den nächstbesten Tisch. Ich nahm mir schnell einen in Alufolie eingepackten Obstsalat mit einer Flasche Wasser und folgte ihr, um noch mehr Informationen zu bekommen. Sie fuhr fort, sah dabei immer abwechselnd mich und dann die Cabots an.
„Ich weiß zwar nichts über den Jungen aber das Mädchen ist sechzehn Jahre alt. Sie hat außer ihm noch eine Schwester, die geht aber nicht auf unsere Schule und einen Bruder, der in unsere Stufe geht. Eigentlich geht aus ihrer Familie nur dieser eine Bruder auf die Schule. Ich vermute mal, dass sie sich selbstständig die zukünftige Schule ihres Bruders anschauen. Sie sollen angeblich Kontakt zum Direktor haben.“
Vorsichtig wickelte ich die Alufolie vom Obstsalat ab, mischte die Früchte ein letztes Mal durch und ergänzte sie. „Ihr Bruder geht in unsere Klasse.“
Sie sah mich ungläubig an. Dann fing sie an zu lächeln und sah etwas länger zu den beiden hinüber.
„Hoffentlich sieht er auch so gut aus wie sein Bruder. Auch wenn ich ihn nur von hinten sehen kann aber seine Haarfarbe sagt schon alles. Ich mag helle Typen irgendwie nicht!“ Im selben Moment drehte sich der Junge zu uns um, gefolgt von den Blicken des Mädchens. Emma biss sich sofort auf die Lippen und drehte sich zu mir.
„Habe ich wirklich so laut gesprochen?“
Ich beachtete sie nicht weiter und starrte ihn an. Jetzt bemerkte ich es erst. Beide hatten sich nicht umgedreht, weil Emma angeblich zu laut gesprochen hatte. Sie hatten überhaupt nicht auf sie geachtet. Die Blicke beider vielen auf mich. Das merkwürdige daran war, dass ich mich dabei nicht unwohl fühlte. Ganz im Gegenteil. Ich genoss ihre Blicke. Sie kamen mir so vertraut vor. Sogar noch vertrauter als die Blicke von Emma oder Sam. Erneut hob er seine Mundwinkel. Dieses Mal so hoch, dass jeder im Raum genau sehen konnte, wie er lächelte. Ich schaffte es jedoch nicht sein Lächeln zu erwidern und wollte es auch nicht. Ich kannte ihn überhaupt noch nicht, somit konnte er alles sein. Ein Psychopath, ein Mörder, ein Gestörter, ... Es gab so viele dunkle Gestalten auf der Welt. Manche benutzen auch ihr Aussehen um das zu bekommen, was sie wollten.
„Nein“, versuchte ich Emma noch kurz zu beruhigen, gleichzeitig verschlang ich in größeren Mengen den restlichen Obstsalat, ließ die Wasserflasche schnell in meine Tasche fallen und verschwand aus der Cafeteria, wieder ohne ihn anzuschauen und verabschiedete mich von Emma mit den Worten: „Wir sehen uns in Geschichte.“
Geschichte war eines meiner Lieblingsfächer. Man musste nur zuhören, endlos lange Texte lesen, nie endende Schaubilder übernehmen und eine interessierte Mimik aufsetzen. Mr. Bates hatte letzte Stunde das Thema für die nächsten Wochen angekündigt. Die dunklen Seiten des Mittelalters. Als er den Zweck des Themas erklärte, sprach er sehr häufig Chris an, um ihn zu fragen, wie ihm seine Rede bisher gefallen habe. Chris verdrehte immer die Augen und meinte: „Sinnloses Zeug!“
Dafür musste er zwei Stunden nachsitzen. Er nahm es aber leicht und ließ sich nicht entmutigen. Diese Stunde ging sehr schnell rum und sehr langweilig. Es wurden nur Personen aufgezählt, die die berüchtigtsten Gesichter des Mittelalters zeigten. Genannt wurden Mörder, Krüppel, Missgeburten und Zauberer. Mörder wurde natürlich von Chris angesprochen, Krüppel von Sam und Zauberer von Emma. Als sie das Wort aussprach, zuckte ich leicht zusammen, denn sie wusste genau wie wenig ich es leiden konnte, nicht als normaler Mensch, sondern als scheinbar erfundene Kreatur bezeichnet zu werden. Mich nahm er auch dran, verwundert darüber, dass sich alle amüsierten, außer mir. Ich sagte nicht ein einziges Wort. Für den Rest des Kurses war es vielleicht aufregend sich mit etwas in der Schule zu beschäftigen, was Spaß machte. Für mich war es kein Spaß, sondern ernst. Ich ärgerte mich darüber, dass ich nicht wusste, ob Emma das Wort Zauberer nur gesagt hatte, um mir noch einmal zu sagen, dass ich dazu stehen sollte, was ich war oder, weil sie meine Art auch als Fantasiegestalt sah. Würde sich die erste Befürchtung bewahrheiten, würde ich ihr zum tausendsten Mal sagen, dass ich nicht von den Menschen ausgeschlossen werden will, nur weil ich anders war als alle. Eigentlich war ich normal. Ich hatte keine außergewöhnlichen Kräfte oder sah anders aus als der Rest der Welt. Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie gezaubert oder etwas ähnliches. Selbst Victoria hatte ich noch nie mit außergewöhnlichen Kräften gesehen. Doch ich wusste, dass ich diesen Teil von mir irgendwann nicht mehr verstecken konnte. Und nun gab es zwei Sachen mit denen ich klarkommen musste. Erstens, ich hatte keine andere Wahl, als diesen Teil in der nächsten Zeit aus mir raus zu lassen, denn wenn nicht, könnte ich mich höchstwahrscheinlich in Lebensgefahr begeben. Zweitens, gab es seit Wochen nur dieses eine Gefühl in mir. Ich musste herausfinden was es war, ehe es mich auch noch komplett überwältigte. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass es etwas mit dem Jungen zu tun haben könnte, der mir heute begegnet war (und ich sollte recht behalten).
Ich war sehr froh, als die Schule endlich aus war. Normalerweise hätte ich mich noch mit Sam und Emma unterhalten, aber ich war erleichtert, endlich aus dem Gebäude raus zu sein.
Na toll, dachte ich, Erster Schultag nach den Ferien und schon herrscht Chaos pur.
Ich hatte mir meinen Tag, abgesehen von der Klausur, entspannter vorgestellt. Vielleicht bildete ich mir ja auch nur alles ein und musste mich zu Hause einfach mal hinlegen und ausruhen. Apropos zu Hause. Victoria und das Auto! Das erste was ich tat, als ich auf den Parkplatz hechtete, war Ausschau nach dem Auto zu halten. Was wäre, wenn es weg war! Abgeschleppt wohlmöglich? Heute Morgen hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht, mir war sogar egal, was Victoria davon halten würde, ob ich Hausarrest bekam oder vielleicht sofort in ein Internat geschickt würde, aber jetzt, litt ich alleine an der Vorstellung welche Konsequenzen auf mich warteten. Glücklicherweise fand ich das Auto genau da, wo ich es heute Morgen abgestellt hatte. Wie aus dem Nichts, stieg ich ein und fuhr einfach los. Ich wusste ja wie man ein Auto bediente. Meine größte Sorge lag nur darin, erkannt zu werden oder angehalten zu werden. Und ich wusste, dass die Person, die gerade am Steuer saß, nicht ich sein konnte. Ich wäre nie so leichtsinnig gewesen. Oder doch? Auf jeden Fall schwor ich mir hochundheilig, dass ich so etwas nie wieder machen würde. Zumindest nicht ohne Führerschein. In diesen Momenten war ich kein Vorbild, und auch nicht das Kind, welches Victoria sorgsam und ordentlich erzogen hatte. Wie würde sie wohl reagieren? Natürlich wie jede besorgte Mutter, aber bei ihr war auch noch etwas anderes. Sie machte sich gerne zu viele Sorgen um mich, ohne Grund und obwohl sie mich nicht jede Minute kontrollierte. Und sie hatte sehr nah am Wasser gebaut, auch wenn man es ihr nicht direkt ansah.
Ich spürte wie mein Puls anstieg und ich die Geschwindigkeit automatisch verlangsamte, als ich um die Ecke in unsere Straße bog. Es war ein komisches Gefühl, an den Häusern unserer Nachbarn vorbeizufahren. Obwohl ich das ja heute auf dem Weg zur Schule schon mal tat. Allerdings hatte ich da alles um mich herum ignoriert. Langsam fuhr ich die Einfahrt auf und hielt an. Schwer atmend musterte ich das Haus, das vor mir lag, durch die Frontscheibe. Angst vor jeder kleinen Bewegung. Dann zog ich den Zündschlüssel heraus, stieg aus und knallte die Tür zu. Gerade drehte ich mich zum Auto um, um es abzuschließen, als ich hinter mir die Tür aufknacken hörte. Ich war wie versteinert, fast den Tränen nahe und wollte mich schon rasch umdrehen um Victoria alles zu erklären aber sie reagierte ganz anders, als andere es zu tun pflegten.
„Katrin“, hörte ich ihre Stimme hinter mir und drehte mich um. Um eine freundliche Miene zu erzeugen, spannte sie all ihre Gesichtsmuskeln an, aber es gelang ihr irgendwie nicht. „Komm doch bitte mal herein.“
Sofort gehorchte ich und kam ins Haus. Hinter mir schloss sie die Tür und bat mich, mich am Esstisch Platz zu nehmen. Ich setzte mich ohne ein einziges Wort und legte mit zittrigen Händen die Tasche auf den Tisch. Sie nahm nicht Platz, sondern stellte sich vor mich mit verrenkten Armen vor der Brust.
„Wie war Mathe?“
„Gut“, flüsterte ich. „Ich konnte alles lösen.“
„Das freut mich. Wo ist der Autoschlüssel?“
Ich faltete meine linke Hand auf, so dass er zum Vorschein kam und legte ihn in Victorias ausgestreckte Hand. Dann ging sie in die Hocke, so dass wir ungefähr in gleicher Augenhöhe waren und legte ihre Hände in meine.
„Süße, du fragst dich sicher, wieso ich nicht so reagiere, wie es bei anderen Eltern üblich wäre.“
„Ja.“
Sie seufzte. „Nun, die meisten Eltern können sich in ihre Kinder nicht hineinversetzten. Wobei ich glaube, dass ich das auch nicht kann.“
Ich lachte leicht und ich folgte ihr.
„Ich kann mich zwar nicht in dich hineinversetzten aber ich verstehe dich. Die Situation, die dich dazu gebracht hat. Das heißt aber bitte nicht, dass du sowas nochmal machst, nur weil ich dich nicht so hart rannehme. Verstanden?“
Ich nickte aber ich spürte auch gleichzeitig, wie sich mein Kopf schüttelte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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