Christa Astl

Die Geschichte des Bächleins




 
Valerie war ein stilles verträumtes Mädchen. Sie war am liebsten allein an einem stillen Platz, um dort in Ruhe ihren Gedanken und Träumen nachhängen zu können. Am Nachmittag war sie oft unten am kleinen Bächlein, das so munter dahingluckste. Lange Zeit saß sie am Ufer, schaute wie die Wellen über die Steine hüpften, wie sich das Gras am Ufer hinabneigte, als ob es gerne mitschwimmen wollte. Im Frühling, wenn der Schnee schmolz, war das Bächlein sehr breit, so dass Valerie nicht drüber zu springen wagte. Denn es war auch tief und reißend und sprach mit drohendem Brausen. Im hohen, heißen Sommer hingegen rieselte es ganz langsam, als ob es selber unter der Hitze leiden würde, mitten im fast leeren Bachbett dahin. Im Winter hörte man es oft gar nicht, da war es von Eis und Schnee bedeckt und selber fast erfroren. Das Bächlein hatte es immer eilig, das merkte man schon an seinem Murmeln. Ganz angespannt hörte Valerie hin. Leider konnte sie seine Worte, wenn es überhaupt welche sprechen sollte, nicht verstehen. Trotzdem meinte sie, es wolle ihr eine Botschaft sagen.
Doch woher kam das Bächlein, und wie konnte es immer und immer wieder fließen, warum wurde es nie leer? Wenn Valerie mit ihrer Gießkanne die Blumen goss, war diese bald leer, sie musste sie im großen Regenfass wieder füllen. Und wenn es lange nicht eregnet hatte, war eines Tages auch das Fass leer. Aber das Bächlein?
Eines Tages erzählte die Lehrerin eine spannende Geschichte vom Wassertropfen, der bis ins ferne, riesige Meer kam. Valerie konnte sich so einen langen Weg gar nicht vorstellen. Nachdenklich sah sie ins Wasser um einen Tropfen zu erspähen, den sie ein Stück begleiten konnte. Dabei überlegte sie, ob es hier nicht auch Fische gäbe, als plötzlich wirklich etwas den Bach herunter geschwommen kam und genau vor Valerie am Ufer anlegte. Es schien nur ein braunes Blatt zu sein, das schon lang im Wasser gelegen hatte, denn es sah ganz durchfeuchtet und vermodert aus. Von dem Blatt aber stieg ein kleines braunes Männlein herunter und lief geradenwegs auf Valerie zu. Ein Zwerg wie aus ihren Träumen, trotzdem erschrak Valerie ein wenig, als das kleine Wesen sie ansprach. "Guten Tag Valerie, jetzt bin ich bei dir, du hast ja oft schon mit mir gesprochen!", so begrüßt es sie. "Worüber denkst du denn gerade nach?" - Valerie musste wirklich erst überlegen, was sie gedacht hatte, vor Schreck hatte sie alles vergessen. "Ich habe gerade nachgedacht, wo das Bächlein herkommt, die Lehrerin hat uns eine Geschichte vom Wassertropfen erzählt,  der bis ins große Meer schwimmt." 
"Das kann ich dir gerne zeigen, du musst nur mit mir kommen, darfst aber keine Angst haben." Angst bekam Valerie schon, als sie das hörte, aber die Neugier war stärker. Sie blickte um sich, ob die Mutter nicht schon in der Nähe war, aber Mutter arbeitete noch.
Das Zwerglein trippelte mit seinen kleinen Schrittchen voraus, aber so schnell, dass Valerie kaum folgen konnte. Sie stiegen am Bach entlang aufwärts. Sträucher standen ganz nahe am Wasser, sodass ihre Zweige hinein hingen. Valerie musste sie zurück biegen oder kleine Umwege machen, der Zwerg schlüpfte einfach unten durch. Aber immer wieder wartete er, bis das Mädchen nachkam. Es wurde immer steiler, Valerie musste schon mit Händen und Füßen klettern. Nun kamen ein paar große Felsen , die ganz feucht und glitschig waren. Valerie erinnerte sich, wie sie einmal, als sie klein war, ins Bächlein gefallen und auf den glitschigen Steinen kaum mehr aufstehen konnte und bekam nun große Angst. Zaghaft probierte sie den ersten Schritt, stieg in den Felsen, musste sich auch noch am nassen Stein festhalten, und rutschte aus. Das Knie war ein wenig blutig, Wasser war im Schuh. Valerie hätte gerne geweint und wäre zur Mutter zurück.
Oben wartete der Zwerg und tat, als hätte er nichts gesehen. Da neigte der Haselnussstrauch am Ufer seine Zweige, sodass sie sich gut daran festhalten und weiter steigen konnte. Neben dem feuchten Felsen kletterte sie aufwärts. Der Zwerg nickte ihr aufmunternd zu. Noch ein paar Kletterstellen waren zu ersteigen oder zu umgehen, Valerie wurde immer mutiger.
Sie waren wohl schon mitten im Wald, das Bachbett lag in einem tiefen Graben, weit oben sah sie die Stämme und die dichten Wipfel der Fichten. Dann wurde es flacher, das Gehen war wieder leichter. Das Bächlein war mittlerweile so schmal, dass Valerie es vielleicht sogar übersehen hätte, wäre nicht der kleine Wichtel vor ihr her gestiegen.
Plötzlich war gar kein Bächlein mehr da, nur eine hohe Felswand, unter der der Boden feucht war. Ein Stück daneben lag ein mit Moos bewachsener Stein, auf den sich die beiden setzten. Valerie war müde geworden.
 "Du bist tapfer gestiegen", lobte der Zwerg, "jetzt sind wir an der Quelle deines Bächleins. Hier kommt es aus dem Berg, sammelt sich dann und bahnt sich einen Weg den Berg hinunter ins Tal. Du siehst, anfangs ist es nicht leicht, die richtige Spur zu finden, deshalb ist hier noch überall etwas Wasser. Ein paar solcher winziger Bächlein kommen zusammen, und so wird der Bach immer etwas breiter und bekommt immer mehr Kraft, sich seinen Weg zu bahnen. Es hat viele Jahre, sogar hunderte Jahre gedauert, bis das Bachbett so wurde, wie es jetzt ist, du hast ja den tiefen Graben gesehen. Über die großen Felsen, die dir solche Mühe machten, springt er einfach hinunter."
Valerie erschrickt ein wenig, als sie an den Abstieg denkt, das Männlein aber schien ihre Angst zu kennen. "Du musst dich nicht fürchten, zurück gehen wir auf einem richtigen Weg, den du vielleicht sogar kennst."
Es war auch wirklich höchste Zeit. Ein Stück gingen sie quer am Hang leicht abwärts, dann erreichten sie den Weg. Nun kannte sich Valerie schon wieder aus. Aber es war ihr doch lieber, dass der Zwerg sie noch ein Stück begleitete. Am Waldrand, als sie die ersten Häuser sahen, verabschiedete er sich.
"Danke, das war ein schöner Ausflug!", rief Valerie und hüpfte schnell und leicht den restlichen Weg bis nach Hause. Gerade als sie übers Bächlein sprang, kam von der anderen Straßenseite die Mutter von der Arbeit nach Hause. Ihr Geheimnis behielt das Mädchen noch für sich, erst einige Zeit später erzählte sie der Mutter, woher ihr Bächlein kam. Hinauf gestiegen ist sie aber nicht mehr.
 
 
ChA 07.03.15

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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