Anita Voncina

"jung, männlich, motorisiert" - finale Havarie

Während der demolierte Wagen der Nachbarn noch in der Werkstatt auf die bestellten Ersatzteile und seine Wiederherstellung wartete, war die Jugend bereits wieder unterwegs. Motorisiert natürlich. Und so kam es, dass an einem Nachmittag Anfang September die beiden Nachbarsjungen auf dem Rücksitz eines völlig überfüllten Kleinwagens unterwegs waren. Gemeinsam mit einem halben Dutzend jugendlicher Einheimischen, und sich mit diesem Gefährt gerade in den zügig dahinrollenden Verkehr auf der Hauptstraße durch den Ort eingereiht hatten, als ihnen ihr Freund entgegenkam. Dieser war an jenem Nachmittag wieder einmal mit dem Motorrad seines älteren Bruders unterwegs. Hocherfreut sich so unerwartet schnell wiederzusehen, winkten und pfiffen die einen aus dem Auto heraus und auch der andere reagierte prompt.
      In weniger als einer Sekunde hatte der grosse Blondschopf die schwere Maschine zum Stehen gebracht und riss danach sogleich begeistert seine Hand zum Gruß in die Luft. Doch noch bevor die allgemeine Wiedersehensfreude die drei Freunde hätte vollends überwältigen können, verkeilten sich die Fahrzeuge in der Reihe hinter dem so abrupt abgebremsten Motorrad bereits schon mehrfach ineinander und erfüllten die mediterrane, schwülheiße Vorabendluft in Sekundenschnelle mit dem Quietschen blockierender Reifen und dem ohrenbetäubenden Lärm von bis zum Anschlag gedrückten Autohupen.
     Den abschließenden Höhepunkt des Spektakels jedoch bildete ein jugendlicher Mofafahrer im zarten Alter von vierzehn Jahren, der, durch einen bis zur Schulter eingegipsten Arm gehandicapt, sein Gefährt ohnehin nicht wie gewohnt im Griff hatte. Und als dieser dann, Bruchteile einer Sekunde nach jenem Bremsmanöver, aus einer kleinen Gasse heraus ebenfalls in die Hauptstraße einbiegen wollte, nahm auch das zweite Desaster seinen Lauf. Die Augen starr auf die vor ihm entstandene Havarie gerichtet, segelte der junge Mann sogleich, in Badehose und mit nacktem Oberkörper, ziemlich ungebremst über die Kühlerhaube eines der verbeulten Fahrzeuge und brach sich bei dieser Aktion auch noch den anderen Arm.
     „Lieber Gott, bitte lass nur nicht wieder unseren Sohn an dem Schlamassel schuld sein!“, entfuhr es einer leidgeprüften, zu diesem Zeitpunkt jedoch noch ahnungslosen Mutter, als sie sich und ihren Ehemann in jener Vorabendstunde in einer schier endlosen Autoschlange wiederfand und dem Krankenwagen hinterher blickte, der sich mit Sirenengeheul und Blinklicht am Seitenstreifen seinen Weg bahnte. So weit das Auge reichte herrschte auf der Hauptstraße in dem sonst so beschaulichen Ort das totale Verkehrschaos und durch das geöffnete Autofenster drang ihnen das Geschrei der allseits hitzig debattierenden Passanten ans Ohr. „Sei nicht albern,“ entfuhr es ihrem Ehemann beinahe unwirsch, und er konnte sich seinerseits trotzdem einer gewissen unangenehmen Vorahnung nicht erwehren, „überall kann unser Sohn schließlich doch auch nicht sein!“ Dann drückte er die Hand seiner Frau, die sich, trotz der unerträglichen Hitze im Fahrzeug, eiskalt anfühlte.
     Stunden später, als die Vorladung in der örtlichen Polizeistation schon längst hinter ihnen lag, die Mutter dem Mofafahrer kurz vor seinem Abtransport mit der Ambulanz noch einmal mitfühlend den alten Gipsarm geschüttelt hatte, und der Vater seinen gesamten mitgeführten Vorrat an Visitenkarten an die stattliche Anzahl von  Autofahrern verteilt hatte, die bei der Havarie zu Schaden gekommen waren, saß die Familie wieder vollzählig vereint um den grünen Kunststofftisch auf der Terrasse. Es herrschte allgemein brütendes Schweigen und ziemlich dicke Luft. Der hochgewachsene, kräftige Körper des Blondschopfes schien in den vergangenen Stunden sowohl an Volumen als auch grundsätzlich an Lebendigkeit verloren zu haben und er strich sich lediglich von Zeit zu Zeit mit einer fahrigen Bewegung die schweißnassen Locken aus der Stirn. Hinter dieser sich jedoch bereits die wildesten Gedanken überschlugen und er fieberhaft damit beschäftigt war, wenigstens die ungefähre Richtung einer halbwegs akzeptablen Entschuldigungsrede festzulegen. Schließlich, als er trotz seines gesenkten Hauptes spürte, wie ihn die Blicke der anderen zunehmend noch feindseliger durchbohrten, pustete er plötzlich mit einem zischenden Laut die angehaltene Luft aus seinen Backen, zog seine breiten, braungebrannten Schultern bis hinauf an die Ohrläppchen, ließ sein stoppeliges Kinn kraftlos noch tiefer auf sein ölverschmiertes T-Shirt sinken, blickte trübe auf seine schwarzumränderten Fingernägel und sagte „Warum?“. Dann jedoch versagte dem jungen Riesen die sonst so kräftige Stimme, er lauschte schweigend eine ganze Weile erneut der vorherrschenden Stille, die nun noch spürbarer geworden war, bevor er sich einen Ruck gab und endlich aussprach, was ihn schon seit langem beschäftigte. „Warum gerade ich?“, hauchte er, „warum nur trifft es bei solchen Sachen immer ausgerechnet mich?“ Und kaum hatte er damit die geballte Ungerechtigkeit seines persönlichen Schicksals offengelegt wurde ihm allerdings auch schon klar, dass dieser Ansatz in jenem Moment vielleicht doch nicht ganz der richtige gewesen sein könnte. Ratlos, auf welche Weise er sonst mit einem solch ausgeprägten Übermaß an Unverständnis seiner Blutsverwandten umgehen solle, senkte er schließlich ergeben den Blick seiner blauen Augen, blies sich noch einmal die wirren Locken aus der Stirn und machte sich somit bereit für die nun unvermeidbar bevorstehende Flut an wohl nicht mehr zu verhindernden Anschuldigungen.
 
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anita Voncina).
Der Beitrag wurde von Anita Voncina auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Anita Voncina als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Federleicht & Kunterbunt: Anthologie von Doris E. M. Bulenda



Wie wird man ein erfolgreicher Autor oder Schriftsteller oder am besten beides? Ist ja eigentlich auch egal, wie man sich nennt, Hauptsache man schreibt ein Buch. Wie ist eigentlich das Leben eines Schriftstellers? Was trennt die Erfolglosen von den Erfolgreichen? Diese kleine Anthologie erfolgreicher Autoren und Schriftsteller lüftet einige dieser Geheimnisse, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wahre Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Anita Voncina

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Von einer, die auszog, ein Landmensch zu werden von Anita Voncina (Autobiografisches)
Erlebtes von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)
Frankreich sollte ein neuer Anfang sein...Teil.3. von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen