Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-2. Kapitel - Erste Schritte - Seite 48-71

Der Nächste, der mich aus dem Schlaf riss, war erfreulicherweise mein Wecker. Ich machte ein Kreuz, als ich aufstand und machte mich fertig für die Schule. Victoria fuhr mich dieses Mal hin. Vermutlich, weil sie verhindern wollte, dass so etwas, wie gestern, so schnell nicht mehr passierte. Das konnte ich ihr garantieren. Als sie mich aus dem Wagen aussteigen ließ, wünschte sie mir viel Spaß und wies auf einen Jungen, der ein paar Meter entfernt auf einem Stein saß und in unsere Richtung sah. Als er sie sah, winkte er ihr zu und sie lächelte zurück. Ich wusste nicht, was das sollte und war etwas überfordert, die Andeutungen zu verstehen, die sie mir versuchte in schlechter Zeichensprache zu vermitteln. Ehe ich mich versehen konnte, fuhr sie ab und ich stand völlig ahnungslos da und starrte auf den Jungen, der mir entgegenkam. Ich wusste nicht, was er von mir wollte oder was Victoria von ihm wollte. Ich wartete auf das Unbekannte - und das machte mich nervös. Er sah ein bisschen aus wie Sam. Er hatte kurze, dunkelblonde Haare, etwas heller als Sam, war groß und schlank und etwa zwei, drei Jahre älter als ich. Seine Augen glänzten in violetten Tönen, wie auch bei Matt, nur waren sie ebenfalls etwas heller, mit einem Tick strahlendem Blau. Als er sich mir näherte, breitete sich auf den letzten Metern ein ebensolches Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„Hallo.“
„Hi“, gab ich unsicher von mir.
„Du bist also Katrin…“
„Ja … und wer bist du?“, wollte ich wissen.
 „Ich bin Kyran. Kyran Cabot. Du hattest gestern schon das Vergnügen mit meinem Bruder gehabt“, stellte er sich vor und erinnerte mich gleichzeitig an das, was ich völlig vergessen hatte. Natürlich! Matt hatte mir gestern in der Schule doch erzählt, dass sein Bruder erst heute käme. Darum kannte ihn Victoria auch.
„Oh, stimmt ja. Ja, Matt hat mir gestern gesagt, dass du heute kommen würdest“, hetzte ich.
„Und warum hast du mich gerade angeschaut, als wäre ich ein Verbrecher?“, wollte er wissen.
Sein Lächeln verschwand aber nicht, egal was ich tat und sagte.
„Ich habe es vergessen“, gab ich deprimiert zu.
„Ach ja. Dann wollen wir das mal schnell ändern. Die meisten Leute vergessen mich nämlich nie, wenn sie erst einmal mit mir zu tun haben“, gab er amüsant zurück.
„Nein nein, du verstehst nicht. Es war nicht meine Absicht, aber ich hatte gestern alle Hände voll zu tun, dass, was mir Matt gesagt hat, zu verarbeiten und …“
„Katrin, es ist alles gut!“, beruhigte er mich. „Ich bin doch nicht beleidigt! Ganz im Gegenteil. Ich kann verstehen, wenn dich all das ein bisschen aus der Bahn wirft.“
„Ein bisschen ist gut“, gab ich zurück. „Hast du eine Ahnung, wie lange ich heute geschlafen habe?“
Er schüttelte den Kopf, aber nicht zu mir, eher zu sich selbst. „Matt, Matt, Matt. Da erzählst du ihr grausame Geschichten und nimmst überhaupt keine Rücksicht darauf, ob sie dadurch Albträume haben könnte. Wie habe ich mich nur in dir getäuscht.“
Ich musste augenblicklich anfangen zu lachen und machte mich, an ihm vorbei, auf den Weg zum Schulhof. Als ich merkte, dass er mir nicht folgte, drehte ich mich um. Er stand noch immer an derselben Stelle und sah mir nach.
„Wohin gehst du?“, rief er irritiert.
Dass er das nicht selber wusste, überraschte mich. „Ich gehe zur Schule, bevor es klingelt. Und wenn du an deinem ersten Tag nicht zu spät sein willst, würde ich dir raten, mir zu folgen.“
Sofort, als er sich in Bewegung setzte, drehte ich mich um und ging weiter. Aber etwas langsamer, bis er neben mir auftauchte.
„Jetzt mal im Ernst“, sagte er ernst, „Hattest du wirklich Albträume?“
Ich schüttelte den Kopf, damit er sich keine weiteren Sorgen machen musste. „Im Prinzip weiß ich gar nicht mehr, was ich geträumt habe. Ich bin nur ein paarmal orientierungslos aufgewacht.“
„Aha.“
„Ja. Er hat sicher keinen schlechten Einfluss auf mich.“
„Na, dann bin ich ja beruhigt.“
Wir gingen über den Schulhof und nahmen Kurs auf den Haupteingang, vor dem sich schon Sam, Emma und Chris versammelt hatten, und zu meiner Verwunderung auch Simon Thorpe und Todd Campbell. Gegen Todd hatte ich ja nichts aber Simon hatte, außer, dass er ein relativ guter Kumpel von Chris war, nicht viel mit uns am Hut. Damals, als wir hier eingeschult worden waren, konnte ich ihn noch gut leiden aber dann hatte er sich negativ verändert. Keinen blassen Schimmer warum. Jedenfalls bemerkte Kyran meinen feindseligen Blick und folgte ihm.
„Was ist los?“
„Simon Thorpe steht da.“
„Und wer ist das?“
„Jemand, der es genießt, wenn ihm die Mädchen zu Füßen liegen, aber sein komplettes Umfeld mit Füßen tritt.“
Kyran ließ einen kleinen Pfiff von sich hören. „Und ich dachte schon, ich könnte mich hier auf die Schule freuen.“
„Das kannst du auch. Er ist das einzige Problem hier, zumindest für mich. Aber wenn man ihn nicht beachtet, lässt er einen in Ruhe. Vorausgesetzt man ist ein Junge.“
„Also muss ich ihn dazu bringen, dass er mich mag? Denn die Grundvoraussetzung ist, dass ich hier schnell angenommen werde, von den Lehrern sowie den Mitschülern.“
Ich lachte. „Da mach dir mal keine Sorgen. Die wichtigsten Personen, mit denen du dich anfreunden musst, sind Emma, Sam und Chris. Das sind meine besten Freunde. Um Todd musst du dir gar keine Sorgen machen. Wenn du so bleibst, wie jetzt, wird er dich sehr schnell mögen.“
„Ok.“
„Bleib einfach hinter mir“, gab ich ihm Anweisung, die er auch befolgte.
Als wir zu ihnen stießen, waren schon alle Augen auf uns gerichtet, oder besser gesagt, auf ihn. Anscheinend erwartete man ihn schon.
„Das ist Kyran “, stellte ich ihn allen vor, „Ich habe ihn auf dem Weg hierhin kennengelernt. Er wird die meisten Kurse mit uns teilen.“
Emma zeigte ihr spezielles Grinsen, was nur ich kannte. Das hieß, dass sie sich gut vorstellen konnte, ihn als Mitschüler zu haben.
„Ich bin Emma“, stellte sie sich vor und schüttelte ihm die Hand.
„Hallo Emma“, gab er lächelnd zurück.
„Todd Campbell“, meldete sich Todd beim Namen und streckte ihm auch die Hand aus. Nur den drei Jungen, die rechts von mir standen, fehlten die Worte, dafür aber nicht der nötige missbilligende Blick. Bei Simon war mir das absolut egal aber mir war schon wichtig, dass sich zumindest Sam mit ihm gut verstand.
„Und das sind Sam und Chris“, stellte ich die beiden selbst vor.
„Und Simon“, ergänzte mich Simon.
 Zu meinem Glück kehrte er uns, mit einem letzten feindseligenden Blick auf Kyran, den Rücken zu und verschwand irgendwo im Gebäude. Das konnte mir nur recht sein. Sam gab sich einen Ruck und stellte sich noch einmal persönlich vor, während ihm Chris einen heftigen Schlag auf die Schulter verpasste.
Jeder soll seine eigene Art haben, dachte ich.
Dann aber, in der ersten Stunde, als ihn Mr. Bates offiziell dem ganzen Kurs als neues Mitglied vorstelle, hatte Kyran die ganze Aufmerksamkeit seiner Mitschüler. Allerdings kamen schnell Gerüchte auf, da er nicht die Stadt nennen wollte, aus der er hergezogen war. Diese verflogen aber im Handumdrehen wieder und so konnte ich ihm einen guten Start in der Schule garantieren. Während der Schule drehten wir den Spieß um, indem ich die ganze Zeit extra nicht von seiner Seite wich. Allerdings nicht, um ihn zu beschützen, sondern um ihm alles zu zeigen und so gut wie möglich zu erklären. Als die Schule aus war, setzten wir uns schnell noch auf eine Treppe in der Eingangshalle, und ich erklärte ihm seine Hausaufgaben. Zwar konnte ihm die Schule so ziemlich egal sein, da er sicher schon alles erreicht hatte, was man nur erreichen konnte, aber er spielte die Rolle des Schülers, um in der Schule bei mir sein zu können und da gehörte es auch dazu, seine Aufgaben zu machen.
Als er es einigermaßen verstand, verließen wir das Schulgebäude und schlenderten zu seinem Auto. Es standen nicht mehr sehr viele Wagen auf dem Parkplatz. Die meisten gehörten den Lehrern. Er setzte mich zu Hause ab und meinte, dass Matt in gut einer halben Stunde hier auftauchen würde.
Diese Zeit nutzte ich voll und ganz aus, um mich selbst meinen Aufgaben zu widmen, bis es klingelte und ich schnell runter düste.
Als ich die Tür öffnete stand er zwar vor mir aber mit einem Accessoire, was ich mir nicht hätte träumen lassen. Das hieß, nicht gleich am zweiten Tag. In seiner Hand hielt er einen Blumenstrauß mit lila Orchideen. Er lächelte mich an und gab mir die Orchideen behutsam entgegen. Voller Bewunderung begutachtete ich die kräftige dunkle Farbe.
„Lila. Ich dachte Blumen in dieser Farbe gibt es nur sehr selten.“
Vorsichtig schnupperte ich an ihnen und ließ meine Hand über die kühle weiche Oberfläche der Blätter gleiten. Sie waren einfach bildschön. Erst wo ich sie mir so richtig ansah und ihren Anblick genoss, fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr in Berührung mit Blumen gewesen war.
„Zumindest nicht so selten, dass ich keine großen Mühen brauchte, um sie zu finden“, entgegnete Matt aber ich hörte ihm nicht richtig zu. Ich war wie gefesselt von der starken Farbe, die sich um die Blätter schlang mit weißem Ansatz. Den dunkleren Fäden, die von der Knospe aus elegant über die Blätter verliefen und am Blattrand verstummten, als wären es Adern.
„Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“
Ich wandte mich wieder ihm zu. Ich verstand zwar nichts von Blumen aber wenn er so unglaubliche Pflanzen mit anschleppte, musste es dafür einen bestimmten Grund geben. „Ich habe gehört, du hast für diese Farbe eine Leidenschaft. Und gerade im Herbst passt lila, finde ich.“
Ja, das stimmte, ich besaß für lila eine unglaubliche Leidenschaft, wenn ich diese auch im Hintergrund behielt. Victoria hatte eine Leidenschaft zu edlen, eleganten Farben. Welche, die sich gut kombinieren ließen. Lila gehörte auch dazu aber ging mehr in die Richtung Lavendelfarben. Eine Farbe, die ich nicht ausstehen konnte. Für mich waren kräftige bis dunkle Töne ideal. Falls die Blumen also nicht für mich bestimmt sein sollten, hatte er ein Problem.
„Der Herbst ist schließlich für seine besonderen Farben bekannt“, stimmte ich ihm zu. ,,Eine besondere Farbe, für einen besonderen Menschen“, sagte er schmeichelnd. Andere wären jetzt sicher gerührt gewesen aber ich wusste nicht, ob ich es als Kompliment nehmen sollte, oder einfach nur wegsteckte. Einen Grund es weckzustecken, war die Erinnerung an damals, vor etwa acht Jahren, als wir die Wände im Wohnzimmer neu anstrichen, oder besser, anstreichen ließen. Der Maler hatte damals drei ganze Tage unter unserem Dach verbracht, und sich von Victoria wohl mehr erhofft. Als das Wohnzimmer dann endlich in Beige strahlte, hatte er ihr genau dasselbe gesagt. Ein Schauer lief mir über den Rücken und mir wurde etwas kalt. Und gerade Matt musste mich daran wieder erinnern. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen.
„Danke.“
Ich nahm die Orchideen entgegen und versuchte geschmeichelt zu klingen aber es gelang mir nicht so wirklich.
„Habt ihr eine passende Vase?“
„Ja, in der Küche. Ich hole sie schnell.“
Vorsichtig legte ich die Blumen auf die Ablage und kramte in einer der oberen Küchenregale nach einer Vase oder etwas ähnlichem. Im zweiten Regal befanden sich, neben Alufolie und Geschenkband, zwei Vasen. Ich nahm beide in die Hand und präsentierte sie ihm. „Welche findest du besser?“
Diese Frage hätte ich mir auch sparen können. Eine schlichte röhrige Vase aus schimmerndem Glas und eine kugelförmige aus blauem Glas mit einem goldenen Vogel. Als er die beiden miteinander verglich, hob er seine Brauen und musste kurz husten.
„Ich wäre für die schlichte Vase“, quietschte er.
Erleichtert stellte ich die normale Vase auf die Ablage und das schreckliche Geschenk unserer Nachbarin fand wieder im Regal seinen Platz. Aus einem Fach unter der Ablage kramte ich ein Geschirrhandtuch heraus und fuhr schnell nochmal über die Vase. Dann hielt ich sie unter den Wasserhahn und ließ sie zur Hälfte volllaufen.
„Wie schön, dass wir uns da einig sind. Um ehrlich zu sein bin ich verwundert, dass Victoria sie noch nicht entsorgt hat. Sie war ein Geschenk von unserer Nachbarin, nachdem man beim Sperrmüll vergessen hat, sie mitzunehmen“, erklärte ich Matt die Vorgeschichte. „Wen hat man vergessen, eure Nachbarin oder die Vase?“
Ich kicherte, während ich die Vase wieder auf die Ablage stellte. Matt hatte also Humor, und dazu noch sehr guten. Für mich ein weiterer Grund dafür, ihm letztendlich doch zu vertrauen.
„Beide“, antwortete ich gut gelaunt und steckte die Stiele der Orchideen vorsichtig in die Vase.
„Du wohnst wenigstens in einem Ort, in dem Nachbarn einen respektieren oder hallo sagen, wenn man an ihnen vorbeigeht“, sagte er.
Er hatte zwar immer noch ein Grinsen im Gesicht aber wäre mir dieser Satz zugeteilt gewesen, wüsste ich nicht, ob ich auch so positiv darauf reagiert hätte.
„Wo wohnst du denn?“
„Brockence.“
Mir blieb die Spucke weg. Automatisch löste ich meine Hände von der Vase, sonst wäre sie vielleicht noch runtergefallen. Brockence. Von den drei Orten, aus denen Warden Springs bestand, war Brockence der schlimmste, zumindest von den Gerüchten her. Es wurde als grauenvoll und dunkel bezeichnet. Nur Betrüger, Spieler und Trinker sollten sich dort aufhalten. Schon wenn man die Luft einatmete bekam man angeblich eine Lebensmittelvergiftung. Die Leute, die dort hausten, waren unterste Schiene. Und unter allen ausgerechnet Matt mit seiner Familie. 
„Oh. Du kommst mir aber nicht gerade wie jemand vor, der in seinem Leben nichts erreicht hat oder aus schlechten Familienverhältnissen stammt“, drückte ich mich vorsichtig aus.
„Danke“, entgegnete er. Er wies auf einen Stuhl neben ihm und warf mir fragende Blicke zu. Zustimmend, dass er sich setzten durfte, nickte ich. Matt zog den Stuhl vom Tisch weg und setzte sich, die Augen immer noch in die Küche wandernd.
„Jetzt mal im Ernst. Wieso ausgerechnet da?“
Während er erzählte, griff ich wieder zu den Orchideen und platzierte sie in der Mitte des Tisches. Als ich mich zu ihm wandte um ihm zuzuhören, zwinkerte er mir zu und hob den Daumen.
„Ich habe dir gestern erzählt, dass mein böser Onkel dich umbringen will.“ Er brachte diesen Satz eher mit Ironie rüber, als ernst. „Da er nicht gerade dumm ist und in seiner Familie nicht der einzige ist und damit meine auch vom Charakter her, wird er wohl schon mitbekommen haben, dass wir in der Stadt sind oder schon Kontakt zu deiner Mom aufgenommen haben. Das heißt, wir dürfen nicht so stark auffallen, denn wenn sie unser Quartier finden, haben wir ein Problem. Wir hatten zwar Brington im Visier aber Brockence hat uns doch mehr angesprochen.“
Für mich ließ sich nicht im Geringsten entschuldigen, wie man sich, nur um sich zu tarnen, für Brockence entscheiden konnte. Wenn man zumindest den kleinsten Funken Anstand besaß, wovon ich bei Matt ausging, ergaben sich weitaus mehr Alternativen als direkt dem Tod ins Auge zu sehen. Brington wäre der perfekte Ort gewesen … jeder andere Ort auf Erden wäre perfekter als Brockence.
„Und da musstest ihr euch für Brockence entscheiden. Da geht es doch auch kriminell zu. Was meinst du, wieso Sams Bruder dahingezogen ist“, sagte ich mit etwas gedämpfter Stimme.
Die Leute hielten immer einen möglichst großen Abstand zu der Grenze dieses Gebietes. Allein Sams Bruder war der Mensch, dem ich es am meisten wünschte, dorthin zu verschwinden.
„Wer ist Sam?“
Davon hatte ich ihm ja noch überhaupt nichts gesagt. Von Sam, meinem praktischen Seelenverwandten.
Ich grinste. „Mein Freund und gefühlsmäßig mein Bruder.“
Es war komisch jemandem von Sam zu erzählen. Nicht, dass ich nie von ihm sprach, ganz im Gegenteil. Ich sprach fast ununterbrochen über ihn. Kaum einer, der mich kannte, kannte nicht Sam oder hatte noch nie etwas von ihm gehört.
„Also ein alltäglicher oder fester ein Freund oder eine Beziehung?“
Diese Frage wurde mir häufig gestellt. Durch mein Schwärmen von ihm, kam man leicht in den Glauben, ich würde auf ihn stehen und mir von ihm mehr erhoffen. Dabei bereitete es mir nur Freude, mich mit ihm zu befassen.
„Glaubst du, ich würde mit meinem sogenannten Bruder eine Beziehung führen?“
Untröstlich hob Matt beide Arme.
„Es war nur eine Frage. Außerdem, wieso denkst du von dem Bruder deines angeblichen Bruders, dass er, nur weil er dahingezogen ist, ein Verbrecher sei?“
Das wollte ich ihm nicht sagen. Es war für ihn besser so. Und wenn, würde ich das Wort unberechenbar für eine Kurzbeschreibung seiner Person verwenden. Knapp ausgedrückt. „Weil er das komplette Gegenteil von Sam ist!“
Jeder Gedanke an seinen Bruder machte mich krank und ich war nicht in der Lage, das zu verbergen. Matt schien auch ohne weitere Worte zu verstehen, dass ich nicht weiter darüber reden wollte und fing sofort an mich, damit zu verschonen.
„Ist ja gut. Warst du schon mal in Brockence?“
„Wieso sollte ich dahinfahren. Ich will noch meine Wertsachen haben, wenn ich den Ort verlasse.“
Ein Lächeln glitt ihm über die Lippen.
„Ich wohne dort seit eineinhalb Wochen und habe bis jetzt noch nichts vermisst.“
Es war verständlich, dass er sich über mich lustig machte. Dafür durfte man ihn und mich aber nicht direkt vergleichen.
„Du kannst dich ja auch wehren“, argumentierte ich.
„Denkst du ich kann Karate?“, fragte er fassungslos.
Anscheinend glaubte er, dass ich ihn unterschätzte. Das tat ich aber mit Sicherheit nicht.
„Nein, aber du kannst beißen.“
Er weitete seine Augen und blickte mich überfordert an.
„Katrin, aus unserer Familie hat bis auf meinen Dad noch nie jemand einen Menschen umgebracht. Geschweige denn ein Lebewesen. Ok, im Sommer ein paar Mücken, aber das hast du doch auch schon gemacht.“
Naja, wenn ich es mir recht überlegte, waren mir bisher bei ihm keine herausragenden Zähne aufgefallen. Aber das musste ja nicht für jeden gelten.
„Ihr habt also alle keine spitzen Eckzähne bis auf deinen Dad.“
Er schüttelte rasch den Kopf.
„Mein Dad hat auch keine spitzen Eckzähne und den Menschen, den er umgebracht hat, hat er nur das Leben gekommen, weil er keine andere Wahl hatte, aber ich will dir das jetzt nicht erzählen. Wenn überhaupt, brauche ich die Zustimmung meines Dads.“
Mein Kommentar dazu war zwar fies, aber wenn sein Dad tatsächlich einen Menschen ermordet hatte, passte er ja wie angegossen in den Ort. Andererseits brachte es mir nicht viel, wenn ich ihm langfristig Vertrauen schenken sollte.
„Kein Problem, ich habe dafür Verständnis. Wie ist es denn in Brockence?“
Er zuckte die Schultern.
„Ich glaube, die meisten Gerüchte wandern schon von den Häusern aus. Es sind zwar nicht die neusten und schönsten, aber das muss noch lange nicht heißen, dass die Bewohner Verbrecher sind. Aufgrund des Zustandes der Wohnungen, ist dort die Miete sehr billig, und das müssen Leute, die nicht sehr viel Geld haben, eben ausnutzen. Wir haben uns dort ein Einfamilienhaus gekauft, welches umgeben von Mehrfamilienhäusern ist. Zwar gibt es dort auch noch andere Einfamilienhäuser, aber die meisten können sie sich nicht leisten. Durch die weißen Wände, deren Farbe langsam abblättert, fällt das Haus nicht sehr auf. Aber Sein und Schein ist ja bekanntlich etwas anderes. Innen sieht es bei uns genauso aus, wie bei euch. Nur haben wir noch ein paar Details dazu.“
Details? Das klang spannend.
„Das hört sich ja vielversprechend an.“
„Ist es auch. Wobei ich nicht prahlen will.“
„Tust du nicht. Wann kann ich es mal sehen?“, fragte ich neugierig.
„Du bist dir sicher, dass du nach Brockence willst?“
Nein, ganz im Gegenteil. So unsicher war ich noch nie gewesen aber es brachte nichts. Außerdem hatte ich ja ihn und seine Familie. Mehr musste ich, glaube ich, auch nicht sehen.
„Ich hab das Gefühl, dass ich daran sowieso nicht vorbeikomme.“
„Stimmt“, bestätigte er mich. „Nun, ich dachte so an morgen oder übermorgen.“
Zufrieden nickte ich. „Dann ich bin dabei! Wenn Victoria meint, es wäre das Beste für mich, dann wird es das auch sein!“
Wie aus dem Nichts erhellte sich sein Gesicht wieder.
„Das heißt du willigst ein?“
„Ja“, bestätigte ich ihn.
„Gute Entscheidung!“
Lächelnd kam er auf mich zu, legte seine Hände über meinen Rücken und zog mich an sich. In dem Moment konnte ich das Glück mit ihm teilen aber gleichzeitig hatte ich auch riesen Bammel davor. Gerade, weil ich jetzt, wo ich eingewilligt hatte, nicht mehr entfliehen konnte.
Er ließ mich wieder los und blickte aus den Augenwinkeln in Richtung oberes Stockwerk. „Ich habe noch nicht dein Zimmer gesehen.“
„Dabei bleibt es auch besser“, versicherte ich ihm.
„Selbst wenn es so schlimm ist, ich wohne in deinem Lieblingsort. Ich glaube, schlimmer als da kann es nicht kommen.“
Da hatte er keine Ahnung.
„Na gut, ich zeige es dir aber hör ja auf mein Zimmer mit diesem Kaff zu vergleichen“, warnte ich ihn.
„Ich kann nichts vergleichen, wenn ich es noch nicht gesehen habe. Ich habe nur gesagt, schlimmer als in Brockence kann es nicht werden.“
„Das werden wir ja sehen.“
Ungern ging ich an ihm vorbei, die Treppe hoch und warf ihm einen kurzen Blick nach hinten zu, um sicherzugehen, dass er mir auch folgte. Hätte er mich nicht zuerst zu sich mitnehmen können? Dann hätte ich wenigstens gewusst, welche Details er meinte und wäre nochmal schnell in die Stadt gefahren um die gleichen Details zu kaufen. Dann würde er zumindest in etwa die Begeisterung teilen, die ich bei ihm sicherlich hatte. Aber jetzt war es zu spät. Ich ging über den Flur, von seinen Schritten dicht gefolgt, bis ich an meiner Zimmertür angelangt war. Ich atmete tief durch und öffnete sie. Ohne einen Blick auf Matt zu werfen, trat ich in mein Zimmer und stellte mich an mein Bett, um ihm den Freiraum zu lassen, sich alles in Ruhe anzuschauen.
Im Gegensatz zu anderen Menschen, die dieses Zimmer bisher betreten hatten, wirkte er fast fasziniert. Andere mussten nur auf die Wand, die parallel zur Tür lag schauen, um zu wissen, dass es nicht das neueste war. Ihn hingegen, schien es gar nicht zu stören. Er blieb an der Tür stehen, und ließ seine Blicke in aller Ruhe durch den ganzen Raum gleiten. Er musterte die hellen Wände, an denen Fotos von mir, Emma, Sam, Chris, Victoria und noch mehr Leuten mit Klebeband befestigt waren. Darunter hingen ein paar Glücksbringer, die ich von den wichtigsten Personen in meinem Leben, an besonderen Anlässen und Geburtstagen bekommen hatte. Zum Beispiel ein kleines Herz von Chris, was er mir damals, vor gut fünf Jahren, schenkte, eine weiße Kristallkugel von Emma und eine kleine Fledermaus von einem Unbekannten. Victoria hatte sie mir zu meinem sechsten Geburtstag geschenkt, mit der Erklärung, es käme von einem guten Freund. Das ich diesen nicht kannte, hielt mich noch lange nicht davon ab, ihn auch zu den restlichen Glücksbringern zu hängen. Verschämt zog es ihn zu der Fledermaus. Er nahm sie sanft von einem kleineren Haken ab, so sanft, als würde sie zwischen seinen Fingern schweben.
Jetzt wurde es mir klar, warum er sich von ihr so angezogen fühlte.
„Gibt es da, wo ihr herkommt auch solche Tiere?“
Als er mir antwortete, war sein Blick immer noch dem kleinen, weichen Stofftier zugewandt. „Wir haben sogar welche mitgenommen.“
Erstaunt sah ich das Tier an. Dann viel mein Blick auf die weißen Eckzähne, die bei diesem Exemplar, wie auch der ganze Körper sehr weich waren und stark biegsam. Doch würde man sich überlegen, welchen großen Unterschied ein kleines Stofftier und ein echtes Lebewesen hatten, traf mich der Schlag.
„Und was ist, wenn die Viecher Hunger haben?“
Er wandte mir den Blick zu. „Dann brechen wir nachts in Häuser ein und sie können sich bedienen.“
Ich war geschockt und konnte nicht erkennen ob er log oder die Wahrheit sagte. Er hatte keine Mimik, nur ein leeres Gesicht. Anscheinend wartete er auf etwas. Als er sichergehen konnte, dass ich den Schock noch etwas länger tragen würde, würde er in den nächsten Sekunden nichts sagen, was auf das komplette Gegenteil deutete, hängte er die Fledermaus wieder so sanft, wie er sie abgenommen hatte, an den Haken und stöhnte auf.
„Denkst du wirklich, wir würden so etwas tun?“
Der Schock ließ etwas nach. Stattdessen trat Verwunderung ein. „Aber von etwas müssen sie sich doch ernähren.“
„Dachtest du wirklich, wir würden solche Tiere bei uns haben oder hätten sie gehalten?“ Ich zögerte. Man konnte ja nie wissen. Zum Glück ersparte er mir eine Antwort und winkte einfach nur ab.
„Vom wem hast du sie?“, fragte er stattdessen.
Ich überlegte, ob ich es ihm wirklich sagen sollte, dass mit dem Unbekannten. Um ehrlich zu sein, schenkte ich Victorias Geschichte selbst nicht so viel Glauben, denn wer würde sich bitte mit einem Unbekannten zufrieden geben?
„Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein.“
Er hob die Augenbrauen in meine Richtung.
„Victoria hat sie mir geschenkt“, gab ich das preis, was ich wusste.
„Es war dein sechster Geburtstag, oder?“, fragte er und runzelte dabei die Stirn.
„Ich habe gar nichts von meinem Geburtstag erzählt.“
Verwirrt sah ich ihn an.
Verheimlichte er mir etwa etwas? Oder kannte er den Unbekannten? Im Gegensatz zu mir behielt er die Fassung und stupste die Fledermaus lächend an einem Flügel.
„Ich weiß. Ich weiß auch noch, wie meine Mom die Fledermaus von deinem Dad bekommen hat und sie sie zu Victoria geschickt hat.“
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ich war nach seinen Worten fasst den Tränen nahe. „Also ist mein Dad der Unbekannte?“
„Ja.“
„Und die Fledermaus hat er mir geschenkt?“
„Ja, sie kommt von ihm.“
Ich riss sie vom Haken ab und kippte nach hinten auf mein Bett. Ich hielt das Tier in meinen Händen wie ein rohes Ei und streichelte der Fledermaus über die Flügel. Beim Gedanken daran, dass mein Dad sie vor ungefähr neun Jahren auch in den Händen gehalten hatte, kribbelte meine Haut unter dem schwarzen Stoff. Ich zog das kuschelige Tier oberhalb meines Brustbeins an mich heran und hielt es einfach nur fest. Auch wenn es nur durch die Fledermaus war, fühlte ich mich meinem Dad noch nie so sehr verbunden wie jetzt, außer durch Matts Familie.
„Fünfzehn Jahre“, flüsterte und hauchte ich zugleich, „Andere sehen ihren Vater von der ersten Sekunde an, bis zu seinem Tod. Mir fehlen ganze fünfzehn Jahre mit ihm, die wir nicht mehr nachholen können. Das ist so ungerecht.“
„Naja“, räusperte sich Matt, „Diese fünfzehn Jahre sind nicht ganz verloren. Immerhin stammt er auch von Vampiren ab, so wie du.“
Meine Augen weiteten sich nicht so wie ich es vorgehabt hatte. Sie vielen eher zu. So wie du. Was wollte er damit sagen. Es war mir in diesen Momenten egal. Er hatte dasselbe vor wie immer. Mich zu verunsichern oder mir das Gefühl des Niederschlags geben. Oder auch nicht? Vorsichtig herantasten, hieß es als ich klein war immer. Aber was war das Gegenteil von vorsichtig herantasten? Das was ich immer tat. Alles wissen, möglichst schnell.
„Matt, ich bin kein Vampir und ich lebe auch nicht übernatürlich lang. Ich bin wie jeder normale andere Mensch.“
„Und genau da liegt dein Problem. Du hörst auf deinen Kopf. Du hast dir aus Angst vor der Wahrheit immer wieder einen Faden gesponnen und das so oft gemacht, bis sich daraus ein festes Netz entwickelt hat, in dem du ohne die Angst sitzt, in die Tiefe und damit auch in die eigentliche Realität zu stürzen.“
Seine Stimme klang ungeduldig. Aber er hatte keine andere Wahl. Er musste auf mich aufpassen, wie auf ein kleines Kind. Das eigentliche Problem bestand darin, dass er seit unserem ersten Gespräch nicht wie ein einfacher Betreuer wirkte. Nicht richtig. Er war mehr als einfach nur ein Beschützer, der einem jede Sekunde die rechte Hand bieten sollte. Obwohl ich ihn erst seit gestern kannte, kam es mir vor, als wären wir uns schon seit Jahren vertraut. Er hockte neben mir und wartete auf eine positive Antwort. Zu gerne hätte ich ihm eine solche gegeben. Nur wusste ich nicht welche richtig war. Ich legte die Fledermaus neben mir aufs Bett ab und sah ihn an.
„Was ist meine eigentliche Realität?“
„Du stammst von Zauberern ab.“
Ich wollte meine Augen schließen, aber ich konnte es nicht. Der Gedanke in mich zu versinken und zu weinen, ließ mich zurückschrecken. Dieses Mal sollte ich ihn nicht enttäuschen und mich selbst noch dazu. Und dann spürte ich es. Wie er es beschrieben hatte. Um mich, alles Schwarz. Kein Boden, keine Decke, keine Wände. Unter mir ein dünnes weißes Labyrinth - dünn aber doch so fest. Doch blickte ich hinter mich, spannten sich weiße Fäden immer mehr und ließen mich tiefer sinken. Kaum war das halbe Netz gerissen löste sich die andere Seite. Ich starrte nicht auf die vielen, immer dünner werdenden, Fäden oder auf das große Nichts über mir. Mein Blick war einzig und allein auf den Abgrund gerichtet. Das Letzte was ich hörte war das Reißen der letzten Fäden. Dann sah ich nur noch Schwarz und wurde von einem hohen Druck in das nie endende Nichts gedrückt. Bevor ich überhaupt die kleinste Panik bekommen konnte, blickte ich in ein Gesicht. Es war mir sehr vertraut, was wahrscheinlich daran lag, dass es sich seit unserem letzten Sehen nicht stark verändert hatte. Im Gegenteil. Es sah immer noch so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Es war Matt. Immer noch vor meinem Bett hockend, in meinem Zimmer. Seinem Blick nach war ich nicht bewusstlos gewesen oder schien gedanklich abwesend zu sein.
„Wird es viel in meinem Leben verändern?“
„Nein.“
„Kennst du noch andere außer mir?“
,,Deine Mom.“
,,Außer sie.“
Er zögerte. „Der Vater von einer wollte mich mit ihr, aufgrund des Vermögens unserer beider Familien, verheiraten.“
Ich schluckte.
Wir hatten dieses Thema in Geschichte schon öfter durchgekaut und immer wieder stieß es bei mir auf Abscheu.
„Also wäre es nicht aus Liebe geschehen.“
Es war keine Frage sondern eine Feststellung und selbst wenn er sie geliebt hätte, wäre dies nur Manipulation der Gefühle gewesen. Ich selbst hätte mir nicht vorstellen können ihn so zu täuschen. Er war vielleicht mal nervig, aber er gehörte auch nicht zu der Sorte Mensch wie Simon.
,,Nein. Ich habe mich zwar hin und wieder mit Frauen getroffen, die sich danach mehr erhofft hatten“, er schmunzelte wieder, „Manche offenbarten mir sogar ihre Gefühle, aber so richtig verliebt war ich noch nie.“
Er tat mir leid. In fünfzehn oder achtzehn Jahren war es normal noch keine Gefühle zu erkennen aber in zwei, drei Jahrhunderten? Dazu musste man bedenken, dass er sich für sein Alter noch ziemlich gut gehalten hatte. Aber es kam bei echten Gefühlen ja auch nie auf das Äußere an. Ich konnte die Frauen verstehen, die sich damals mit ihm trafen. Mich hätte zu gerne interessiert, wie er damals ausgesehen hatte. Dabei konnte man es sich sehr gut vorstellen. Bestimmt gegelte Haare, eine helle Krawatte, ein weißes Hemd und einen grauen oder schwarzen Anzug. Bei dem gedanklichen Bild reagierte meine Hand zu langsam um sie noch rechtzeitig auf den Mund zu pressen, so erklang ein lautes Grunzen. Schlagartig schaute ich ihn an. Man sah ihm an, dass er versuchte meine scheinbare Freude zu teilen, jedoch brachte er es nur zu einem bitteren Lächeln. Dann erhob er sich langsam und ging wieder einen Schritt auf mich zu.
„Ich kann verstehen, wenn du das komisch findest. Schließlich entstehen an deiner Schule täglich neue Paare. Aber für mich ist Liebe, wenn man wirkliche Gefühle für den anderen hat und nicht nur damit angeben will. So etwas gab es nämlich vor hundertdreißig Jahren noch nicht, außer Leute, die in der Öffentlichkeit stehen und dazu gezwungen werden, aber diese müssen für ihre Karriere sowieso mit ihrem Leben bezahlen.“
„Aber ich habe doch nicht gelacht, weil ich es komisch finde, dass du noch niemanden geliebt hast.“
„Ist schon in Ordnung.“ Ich stand auf und griff nach seinem Arm. „Ich habe darüber wirklich nicht gelacht!“
„Wie schon gesagt“, er fasste nach der Hand, die seinen Arm umklammerte und löste sie. „Es ist in Ordnung.“
Er warf mir noch einen lächelnden Blick zu, danach ging er auf die Tür zu. Kurz nachdem er seinen Kopf auf die Tür gerichtet hielt, drehte er sich nochmal zu mir um.
„Über was hast du denn gelacht?“
Ich lächelte ihn leicht an. „Erzähl ich dir ein anderes Mal.“
Dann wandte er sich wieder der Tür zu und brachte das Holz der Treppe zum Knarren.
Der nächste Tag brachte schon morgens ein frostiges Klima mit sich. Victoria war damit beschäftigt, ihr Auto von einzelnen Eiskristallen zu befreien und kaum hatte sie das geschafft, waren die Türen eingefroren. Ich hoffte eine halbe Stunde, dass sich der Bus durch die frostige Gegend kämpfen konnte. Mit Erfolg. In der Hoffnung, er würde aus genügend Polstersitzen bestehen, um sich dort etwas aufzuwärmen, rutschte ich gleich auf den ersten freien Platz, der mir ins Auge viel. Doch vergebens. So kam ich zu spät zu Geschichte, fühlte mich ähnlich wie ein Eiswürfel und hatte überhaupt kein Gefühl in meinen Fingern, sodass ich die Notizen für den Vortrag mit Chris, der erklären sollte, was die Pest eigentlich war und woher sie kam, ständig fallen ließ und nur durch Handzeichen von Emma darauf aufmerksam gemacht wurde. Der Vortrag an sich verlief problemlos, nur fand es Mr. Bates nicht komisch, als die Gruppe am Ende des Vortrags völlig begeistert war und ein Junge in der hintersten Reihe, eine Kassette aus seiner Tasche nahm, um diesen als kleines Beispiel zu dem Vortrag zu verwenden. Diesmal durfte der Junge Chris beim Nachsitzen Gesellschaft leisten. Ich fand es bemerkenswert, dass das Thema Pest Leute so sehr beanspruchte und mal nicht ein reiner Fantasiefilm mit unrealistischem Inhalt im Vordergrund stand. Als die Stunde mit den Streitigkeiten von Mr. Bates endlich beendet war, raste ich förmlich aus dem Raum, nahm schnell meine Jacke vom Kleiderständer und machte mich auf den Weg zur Eingangshalle. Ich wollte nichts anderes als die kalte Spätherbstluft spüren. Ich setzte mich auf eine Bank und starrte nur ins Gebüsch. Nach einer Weile erschien Kyran und setzte sich zu mir.
„Deine Freunde vermissen dich. Sie lassen dir von mir ausrichten, dass du, wenn möglich, bitte sofort in die Cafeteria kommst“, berichtete er.
„Botschaft angekommen“, sagte ich etwas rau und erschreckte mich vor mir selbst, dass meine Stimme so klang.
„Hey, was ist los“, fragte er sanft und beugte sich zu mir.
„Ich habe noch nicht mal Sam erzählt, was überhaupt mit mir los ist, nur Emma weiß es. Wie soll ich ihr bitte noch jetzt erklären, was mir Matt gesagt hat“, sagte ich betrübt.
„Das wird schon“, meinte er aufbauend und tätschelte mir die Schulter. Dankbar wandte ich mich zu ihm. Mein Blick ruhte aber nur kurz auf ihm, denn hinter ihm kam auf einmal Sam zum Vorschein. Sofort rutschte ich auf der Bank zurück, sodass wir genügend Abstand voneinander hatten aber Sam hatte schon bemerkt, wie nah wir uns einen Moment lang waren. Verwundert, dass ich hinter ihn blickte und so viel Abstand von ihm genommen hatte, drehte sich Kyran um und sah genau in seine Augen.
„Störe ich“, fragte er hysterisch.
Innerlich hätte ich mir einen deftigen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Es war ihm anzumerken, dass er nicht gerade erfreut darüber war, mich mit ihm, einem neuen Schüler, so nah zu sehen. Ich ertrug es nicht, ihn eifersüchtig zu sehen. Wenn es bewusst war, was zum Glück noch nie der Fall war, sicherlich schon, aber dieser eine Moment, könnte mit ein bisschen Pech, der Anfang vom Ende gewesen sein. Denn Sam kannte Kyran überhaupt nicht und schon gar nicht die Gründe, weshalb er und ich privat eine engere Verbindung hatten, die aber rein gar nichts mit Gefühlen zu tun hatte. Aber Kyran würde wohl noch etwas länger in meiner Nähe bleiben und somit, da ich fast immer bei Sam war, war es nicht gerade positiv, wenn er ihn nicht leiden konnte. Zum Glück wusste sich Kyran leicht rauszureden.
„Ganz im Gegenteil. Wir wollten gerade zu euch aufbrechen.“
Sam grinste ironisch und wank uns rein.
„Wie schön … na dann kommt.“
Für den Rest der Schulzeit nahm Kyran extra eine Meile Abstand von mir, damit Sam seine Eifersucht schnell vergessen konnte. Ich hoffte, dass das Thema spätestens Morgen für ihn erledigt war und er ihm noch eine Chance gab. Ansonsten würde alles noch komplizierter werden. Ich wartete extra, bis Sam weggefahren war, um dann unbemerkt bei Kyran einzusteigen. Hätte er das gesehen, hätte er ihm sicher für immer den Krieg erklärt. Um die Stimmung etwas aufzulockern, riss er während der Fahrt ein paar Witze und fragte mich, wie er am besten eine Mappe für Physik anfertigen konnte. Ich hatte Mr. Reymond auch in Physik, daher konnte ich in etwa einschätzen, was er gut bewertete.
„Viel Spaß mit meinem Bruder“, rief er mir noch hinterher, als wir bei mir ankamen. Und den hatte ich in der Tat, wenn auch nicht von Anfang an. Als ich das Haus betrat, schrie ich sofort auf und ließ die Schlüssel fallen. Matt stand vor mir … und zwar genau vor mir. Vielleicht zehn Zentimeter Abstand hielten unsere Nasenspitzen voneinander. Er bückte sich, um das Schlüsselbund aufzuheben und legte es auf die Kommode.
„Habe ich dich erschreckt?“
„Ja!“, schrie ich ihn verärgert an.
„Das war nicht ganz meine Absicht“, grübelte er, „Ich wollte dich eigentlich nur überraschen.“
„Wie bist du überhaupt reingekommen?“
Ich wandte mich der Treppe zu und blieb noch stehen, um ihn anzuhören.
„Victoria hat mir einen Schlüssel nachmachen lassen“, gab er zu.
Was hatte sie gemacht! Wie konnte sie nur? Er konnte jetzt also zu jeder Zeit das Haus betreten. Super. Dann konnte ich mich ja demnächst auf noch mehr Überraschungen freuen.
„Wohin gehst du?“, wollte er wissen, als ich die Treppe hochstapfte.
„Ich mache meine Hausaufgaben“, erklärte ich ihm.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“ Er meinte sicherlich meine hysterische abweisende Art. Tja, dass kam davon, wenn man mich so überraschte.
„Ich sage nur, Überraschung“, giftete ich ihn an.
Nachdenklich sah er sich um. Damit, dass ich so auf seine Überraschung reagierte, hatte er wohl nicht gerechnet. Das passierte eben mit mir, wenn man mich erschreckte.
„Magst du Schokolade?“, fragte er schließlich.
Unschlüssig über seine plötzliche Frage, die rein gar nichts mit dem hier und jetzt zu tun hatte, gab ich nur zurück. „Ich finde sie lecker.“
Dann verschwand ich in meinem Zimmer und machte mich an die Hausaufgaben. Ich wusste nicht, wie lange ich daran saß, aber ich machte extra etwas langsamer. Zwischenzeitlich hörte ich ein paar Geräusche von unten, aber ich konnte mir im Allgemeinen gut vorstellen, dass er sich dort unten langweilte und was hätte er auch schon großartig machen können? Als ich mit allem fertig war, kam ich endlich runter (vielleicht waren zwei oder drei Stunden vergangen), und traute meinen Augen nicht. Die ganze Küche war voll von Mehl und Eierschalen und Backpulver und Formen, und der Herd, sowie der Backofen waren benutzt worden. Entsetzt sah ich der großen Unordnung entgegen. Aber das Resultat war das, was auf dem Esstisch stand. Ich näherte mich der riesigen Köstlichkeit und atmete den nun unverwechselbaren Duft von Schokolade ein. Der Kuchen stand auf der Tischkante, mit der Zuckergussaufschrift: Überraschung. Ich musste schmunzeln. Das war wahrhaftig eine Überraschung und diese ließ mich auch sein plötzliches Auftauchen am Nachmittag schnell wieder vergessen. Plötzlich hörte ich hinter mir Schritte und als ich mich umdrehte, stand er wieder vor mir.
„Ist diese Überraschung mehr nach deinem Geschmack?“
„Ja, allerdings“, strahlte ich.
„Schön“, grinste er, „Ich hoffe, er schmeckt dir.“
Er ging an mir vorbei in die Küche und fing an, alles aufzuräumen.
Eine Hand wäscht die andere, dachte ich. Er hatte mir eine relativ angenehme Überraschung bereitet und ich half ihm dafür jetzt beim Aufräumen. Davon mal ganz abgesehen, war es erstens ein Akt der Höflichkeit und zweitens konnte ich es nicht ertragen, wenn Leute hinter mir herräumen mussten.
„Kann ich dir helfen?“, fragte, oder besser gesagt, bat ich.
„Klar“, meinte er und wusch das Handrührgerät und die Springform aus, bevor er sie in die Spülmaschine tat. Ich beseitigte die Reste der verbrauchten Lebensmittel und fuhr mit einem nassen Tuch über die Ablage. Relativ zügig war alles blitzeblank und die Spülmaschine lief. Ich nahm jeweils zwei Teller und kleine Gabeln heraus, um den Kuchen zu essen aber er bremste mich sofort.
„Du kannst einen Teller wieder ins Regal stellen. Ich habe keinen Hunger.“
Ach, stimmte ja! Vampire aßen und tranken ja nichts … abgesehen von Blut.
Ich stellte Teller und Kuchengabel wieder zurück und stellte mir in der Zwischenzeit vor, wie er das Blut wohl trank oder es sich überhaupt beschaffte, wenn er noch nie jemanden umgebracht und keine speziellen Eigenschaften, wie die langen Eckzähne, geerbt hatte. Aber Blut und Schokolade trafen sich nicht besonders gut, deshalb verwarf ich den Gedanken schnell und schnitt mir ein Stück Kuchen ab und tat es auf meinen Teller.
„Ich hoffe er schmeckt“, meinte Matt.
In seiner Stimme lag ein Hauch von Nervosität. Doch ich zögerte nicht und nahm ein kleines Stück in den Mund. Gebannt wartete er auf meine Meinung, wohlhoffend, dass es mir schmeckte. Das tat es, und wie!
„Schmeckt lecker“, grunzte ich, während ich mir das zweite Stück reinschob. Erleichtert atmete er auf.
„Gut, denn ich habe schon eine halbe Ewigkeit keinen Kuchen mehr gebacken“, gab er zu. „Dafür schmeckt er aber absolut super“, schwärmte ich.
Er lachte. Es dauerte nicht lange, bis der Teller leer war. Ich packte den Rest in Frischhaltefolie und stellte ihn in den Kühlschrank.
„Meine Mom wird mir sicher nicht glauben, dass ich dir einen Kuchen gebacken habe und, dass du ihn lecker fandest“, lachte er, als ich aus der Küche kam.
„Warum? Weil du ein Mann bist?“
„Nein. Weil meine vorherigen Koch- und Backerlebnisse nichts für schwache Nerven waren“, gab er zu.
Also hatte ich Glück, dass dieser Versuch gelungen war. Aber es konnte eigentlich kein Zufall sein, dass er gerade heute, gerade jetzt mit einem Mal, einen solch vorzüglichen Kuchen zauberte.
„Brauchst du eigentlich immer so lange für deine Hausaufgaben?“
Ich schüttelte ehrlich den Kopf. „Manchmal trödele ich ein bisschen.“
„Ah ja, manchmal, ein bisschen“, bohrte er nach.
„Sei doch froh. Schließlich wäre der Kuchen ansonsten keine richtige Überraschung gewesen.“
„Wenn man es so sieht …“, gab er mir recht, „Kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Klar.“
„Ich mache mir etwas Sorgen um Kyrans Abschlusszeugnis. Ich weiß zwar, wie viel er lernen kann und auch wird aber es wäre schön und es würde meine Eltern freuen, wenn er am Ende des Schuljahres ein sehr gutes Zeugnis bekommt, damit er auch noch eine Weile in der Schule bei dir bleiben kann. Deshalb ist es wirklich wichtig, dass er eine gute Mappe in Physik abliefert, weil er trotz seines eigentlichen Alters eine wahre Niete in diesem Fach ist, sowie fast alle aus meiner Familie. Könntest du mir da vielleicht weiterhelfen? Sagen wir, als kleine Gegenleistung für den Kuchen?“
Dann sollte der Kuchen ein einfacher Bestechungsversuch gewesen sein? Vielleicht hatte er sich auch deshalb beim Backen mehr Mühe gegeben, als sonst. Aber im Prinzip, obwohl Kyran die Schule theoretisch sowieso nicht ernst nehmen musste, saßen wir im selben Boot und hatten dasselbe Ziel: Wir beide wollten, und brauchten, ein gutes Zeugnis.
„Natürlich. Komm einfach mit.“
Ich ging die Treppe hoch in mein Zimmer, er folgte mir.
„Kyran hat so etwas ähnliches auch schon auf dem Weg nach Hause erwähnt“, berichtete ich ihm. Er nickte verständlich und blieb kurz hinter mir stehen, als ich auf meinem Schreibtisch alles für Physik aus einem Stapel von Heften, Büchern und Blöcken, heraus kramte. Als ich mein Heft gefunden hatte, schlug ich es kurz auf um die Themen, die die Mappe beinhaltete (denn ich sollte auch eine machen), auf ein Blatt zu schreiben, das ich in der Mitte durchriss. Matt beobachtete mich dabei. Als ich fertig war, drehte ich mich um und drückte ihm den Zettel in die Hand. Er machte große Augen, als er sich alles durchgelesen hatte. Man musste dabei bedenken, dass es Stichpunkte waren!
„Wow! Das ist ja ganz schön viel“, räusperte er sich.
Ich seufzte. „Ja, ich weiß. Aber dafür haben wir ja auch über drei Monate Zeit und die Note macht sechzig Prozent der Gesamtnote aus.“
„Gütiger Gott“, schnaufte er, „Ich bin froh, dass ich das nicht machen muss!“
Für diese Anmerkung, schlug ich ihm so heftig auf den linken Oberarm, wie ich nur konnte. Er zuckte sofort zusammen und umklammerte die Stelle, mit seiner rechten Hand.
„War das nötig?“, fragte er und schob den Zettel zusammengeknüllt in seine Hosentasche. „Ja“, sagte ich genugtuend und ließ mich am Fußende meines Betts nieder. Er setzte sich neben mich.
„Vielen Dank auch!“
„Bitte! Wenn du dich über das lustig machst, was dein Bruder machen muss, und ich nebendrein auch. Ich kann ja mal fragen, wenn ich bei dir bin, ob ihr die Rollen tauschen könnt.“
Ich lachte in mich hinein. Sam und Matt? Ich glaube, dass würde nie klappen.
„Jeder hat sich seinen Part selbst ausgesucht. Und ich mache mich nicht darüber lustig. Ich helfe ihm sogar, bei allem was er nicht auf die Reihe kriegt an Schule.“
„Wie ist eigentlich deine Familie?“
Das interessierte mich blendend. Gerade, da sich Victoria offenbar sehr gut mit ihnen verstand und sie mir ja Sicherheit garantierten. Überhaupt, welche Familie machte so etwas schon.
Er grinste. „Sie ist sehr nett und aufgeschlossen. Wir unterscheiden uns zwar sicher etwas von deinen Nachbarn, aber nicht so, wie du denkst. Wir funktionieren sehr gut zusammen aber vielleicht sieht du das ja anders.“
Ich schüttelte den Kopf. „Sicher nicht. Kyran kenne ich ja schon. Er ist witzig, sehr witzig.“
Er ließ sich nach hinten auf das Bett fallen.
„Dann hat er das, was er vor hatte ja erreicht. Er will nicht, dass du nur wegen Tyrece denkst, dass dein Leben jetzt vorbei sei und du dich bis zu deinem bitteren Ende verstecken musst. Wir wollen es dir so bequem wie möglich machen aber auch nicht so bequem, dass du den Ernst der Lage vergisst.“
Ich sah ihn ausdrucklos an. „Glaub mir, den vergesse ich nicht. Alleine Victorias besorgte Art lässt mich spüren, dass da was ist.“
Er nickte und sah nach rechts auf meinen Nachttisch, auf das Bild mit den Personen, die mir am meisten etwas bedeuteten.
„Sie war immer schon etwas besorgt. Besonders, als sie schwanger wurde, aber das zeigt doch nur, wie wichtig du ihr bist.“
Wie kam ein Mann freiwillig auf das Thema Schwangerschaft zu sprechen? Selbst wenn es dabei nicht um sein Kind ging.
„Wie kommst du auf die Schwangerschaft?“
Er erklärte. „Jede Mutter baut während der Schwangerschaft eine Bindung zu ihrem Kind auf. Sie muss neun Monate auf gleichzeitig zwei Menschen aufpassen. In dieser Zeit ist man von seinem ganzen Leben am vorsichtigsten.“
Konnte es sein, dass ihn das Thema emotional mehr beschäftigte?
„Hört sich an, als ob du dieses Gefühl kennst.“
Er bestätigte meinen Verdacht.
„Das tue ich auch, obwohl ich noch nie schwanger war, aber in meinem Umfeld hatte ich schon so viele Frauen. Bei einer Geburt habe ich sogar einmal geholfen.“
Dass er mal bei einer Geburt dabei gewesen war, hätte ich aber trotz allem nicht erwartet. „Wie kam es dazu?“
Er räusperte sich. Hinter der Geburt steckte sicherlich etwas Unschönes.
„Ich war mit einer Hochschwangeren in der Nacht in einem kleinen Wald spazieren. Sie konnte vor lauter Schmerzen nicht schlafen. Ich wollte sie von Anfang an ins Krankenhaus bringen aber sie meinte, das einzige, was ihr im Moment guttun würde, wäre die Natur, die Luft und die Nacht. Nach nicht mal zehn Minuten war ihre Fruchtblase geplatzt und Hilfe zu holen hätte zu lange gedauert. Die Geburt war nicht das größte Problem. Ich hatte große Hemmungen die Nabelschnur zu durchtrennen. Am Ende habe ich mein Taschenmesser nehmen müssen.“
Auch wenn es kein alltägliches Erlebnis war, war ich tief beeindruckt.
„Das klingt echt brutal. Ich würde nicht wissen wollen, wie ich mich in so einer Situation verhalten könnte. Hast du die Frau danach in ein Krankenhaus gebracht?“
„Es war keine Frau“, korrigierte er mich. „Es war ein junges Mädchen, nicht viel älter als du. Ich habe das Kind zu ihrer Familie gebracht und diese haben sich dann um ihren Körper gekümmert.“
Ich glaubte, ich hatte ihn gerade falsch verstanden. „Ihren Körper?“
„Die Schmerzen waren zu stark für sie. Ihr Kopf ist nach der Entbindung senkrecht auf den Boden gefallen und ihre Hände, mit denen sie sich vor lauter Schmerzen an den Haaren gezogen hatte, sind neben ihren Kopf gefallen. Danach hat sie sich nicht mehr bewegt.“
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Vom Beginn der Geschichte, hatte ich mit einer glücklichen Geburt gerechnet, etwas, das man nie vergaß. Dies vergaß man ganz sicher nicht aber eher aufgrund des Schocks.
„Das ist echt traurig. Gerade wenn man mit einem guten Ausgang rechnet.“
Unverständlicherweise zuckte er nur die Achseln. „Es gibt nicht immer ein Happy End und wenn man schon sehr viele Menschen auf die unterschiedlichsten Arten, ob brutal oder normal, sterben gesehen hat, findet man sich damit ab. Man kann es ja nicht ändern. Die Welt hat viele Seiten und du lernst die beiden unterschiedlichsten gerade gleichzeitig kennen. So ein Glück hat nicht jeder.“
In dem letzten Satz steckte volle Ironie. Ich sollte mich bei Matt und Kyran wohl darauf vorbereiten.
„Ok, genug über mich geredet. Jeder sollte seine Chance bekommen und du hast sie jetzt.“ Oh Gott. Mit meinem Leben konnte ich ihn echt nicht beeindrucken. Das einzige, was mir einfallen würde, war das, was mich mit Matt verband aber das wusste er ja schon.
„Außer der Schule, der Zauberei und meinem Zimmer habe ich nichts Spannendes. Und außerdem sind deine Geschichten viel interessanter.“
Was war denn bitte an einem gar endlosen Leben nicht interessant? Wenn man wusste, wie lange man lebte, und das man praktisch alle Zeit der Welt hatte, begann das Leben erst richtig Spaß zu machen. So stellte ich es mir jedenfalls vor. Schließlich gibt es für den normalen Menschen ein Durchschnittsalter, so kann man in etwa einschätzen, wie lange man es schafft und wie lange man für Dinge, die man sich in seinem Leben vorgenommen hat, Zeit hat. Durch dieses Durchschnittsalter und das Abschätzen seiner eigenen Lebenschancen, grenzt man die zu erwartende Lebenszeit ein und spielt mit Zahlen. Bei einem Leben, wie Matt es führte, zählten keine Zahlen mehr. Er konnte tun und lassen, was immer er wollte. Vorausgesetzt er brachte sich nicht in Gefahr. Da war mein Leben absolut überflüssig.
„Es geht aber um dich“, beharrte er.
„Aber nicht heute“, beschloss ich und ließ mich neben ihn auf den Bauch plumpsen, die Ellenbogen gegen meine Bettdecke stützend. Ich schaute kurz auf meinen Wecker, bevor ich ihn wieder anblickte. „Der Tag ist sowieso in dreieinhalb Stunden zu Ende und da noch mit mir anzufangen ist irrsinnig. Hast du nicht noch etwas?“
Ich malte mir aus, dass er mir den Rest des Abends noch weitere Dinge erzählte, ich betete darum, aber damit rechnen tat ich nicht mehr.
„Ich habe noch hunderte von Geschichten aber die will ich dir nicht alle auf einmal erzählen.“
Das musste er doch auch nicht. Eine einzige würde reichen, um mich in Freude, Panik oder Erstaunen zu versetzen, und um den Abend zu vollenden. Egal wie dumm oder langweilig sie auch schien, mit mir konnte sowieso niemand mithalten.
„Dann erzähl mir etwas über deine Familie“, forderte ich ihn auf.
Er hob die Brauen. „Etwa als Gutenachtgeschichte?“
Wenn diese Geschichte seinen vorherigen ähnelte, was sie sehr wahrscheinlich tat, wäre eine Vorgeschichte zur Geisterstunde besser gewesen.
„Wenn du es so nennen willst.“
Aber er schüttelte sofort den Kopf. „Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass sich deine Mom nachher beschwert, dass du Albträume bekommst.“
Ich verstand es ja, dass er Rücksicht auf mich nehmen wollte. Es war ja auch gut so, aber andererseits unterschätzte er mich dadurch ein wenig. Meinen ersten Horrorfilm hatte ich gesehen, als ich sechs war. Natürlich war mir nicht klar gewesen, dass es einer war. Ganz abgesehen davon, schien er vergessen zu haben, mit wem ich befreundet war.
„Ich bin mit Chris, dem Horrorfreak befreundet. So schnell krieg ich keine bösen Träume.“ Matt ging auf mein Argument nicht ein. Es schien ihn zwar etwas zu interessieren aber Gefallen fand er daran keinen.
„Der Inhalt der Geschichten ist ja auch nicht so schlimm, wenn man ihn von den Geschehnissen mit einem richtig guten Horrorfilm vergleicht. Das schlimme finde ich daran ist, dass diese Geschichten wahr sind und nicht in einem Büro von einem Regisseur schnell als Stichpunkte auf ein Blatt gekritzelt und dann ab in die Produktion mit so vielen Effekten wie möglich.“
Ich hätte nie gedacht, dass es sich als so anstrengend erwies, ihn von seiner Fürsorglichkeit abzubringen. Was dachte er denn von mir? Etwa, dass ich im Schlaf einen Anfall bekommen würde und mich die nächste Woche nicht mehr aus dem Haus traute? Außerdem half es mir auch, seine Vergangenheit, in die ich mitgezogen wurde, zu verstehen.
„Dann erfahre ich aber mehr über deine Herkunft und deine Familie und selbst wenn ich die Geschichte schlimm finde, weiß ich, dass trotz allem ein netter Junge entstanden ist, der neben mir liegt und dem ich vertrauen kann.“
Er drehte sich zu mir und stützte sich auf den rechten Ellenbogen.
„Katrin, ich würde nicht um den heißen Brei herum reden, wenn ich es dir wirklich abraten würde.“
Wenigstens zeigte er jetzt etwas Ergebenheit. Dennoch ließ ich nicht locker.
„Aber Tyrece gehört doch zu deiner Familie also wird er wohl auch etwas mit dem Ursprung des ganzen zu tun haben. Ich meine, irgendwo muss er ja herkommen.“
Bei dem Namen seines Onkels verzog er das Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen.
„Dass du so leicht über Tyrece reden kannst, obwohl du weißt, dass er nicht dein Freund ist oder besser gesagt, euer Freund.“
Daran konnte ich nichts ändern. Vor Tyrece hatte ich nun mal keine Angst, obwohl mich das Gefühl nicht mehr losließ, dass das falsch war. Ich wusste sogar, dass das falsch war aber ich hatte keinen Grund, vor ihm Angst zu haben. Ja, er wollte mich nicht haben aber jeder wollte jemanden nicht haben.
„Vielleicht liegt es daran, dass ich nichts über ihn weiß. Es könnte gut möglich sein, dass ich, je mehr ich über ihn erfahre, umso mehr Angst vor ihm habe aber dann weiß ich wenigstens, wer er ist und was er von mir will und am wichtigsten, warum er das von mir will.“
Eine angenehme Atmosphäre breitete sich über sein Gesicht.
„Für eine Fünfzehnjährige, die erst gerade erfahren hat, dass sie von einem …, ich sage jetzt einfach mal Tyrece, weil ich für ihn auf die Schnelle keine zutreffende Beschreibung habe. Also, du hast vorgestern erst erfahren, dass er hinter dir her ist und du schiebst überhaupt keine Panik. Du gefällst mir.“
Lobend ruhten seine Augen auf den meinen. Ich erkannte nicht, dass es etwas Gutes war, mit einem positiven Verhalten das Thema Tyrece anzugehen. Deshalb konnte ich auf seine anerkennenden Blicke auch verzichten.
„Wie schon gesagt. Ich kann keine Panik schieben, weil ich nicht weiß, was mich erwarten wird. Wenn du jetzt bitte irgendeine Geschichte erzählen würdest, wäre ich dir sehr dankbar.“
Ich drehte mich um und ließ mich auf den Rücken fallen, den Kopf in den Kissen vergraben. Dann schloss ich meine Augen, wartend auf eine Reaktion seinerseits. Von links hörte ich ein leises Seufzen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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