Ich wachte mit einem mulmigen Gefühl auf. Mir war die ganze Zeit über gar nicht richtig bewusst geworden, dass ich heute mit zu Matt fahren würde. Ich grübelte. Sollte ich ihnen vielleicht ein Geschenk mitbringen? Dafür, dass sie sich so um mich sorgten? Oder reichten ein paar nette Worte? Nicht nur zu Hause, auch während der Schule machte ich mir darüber Gedanken. Und mit jeder weiteren Minute, wurde ich nur noch nervöser. So atmete ich tief durch, als ich nach der Schule Matts Auto sah und schnell einstieg.
Es kann losgehen.
„Hi.“
„Hi.“
Leicht angespannt sah ich ihn an. Er grinste bei meinem Anblick nur und fuhr los.
„Endlich schaust du mich mal wieder an. Das hatte ich schon vermisst.“
Als ich leicht schmunzelte, redete er weiter.
„Gestern ist anscheinend viel passiert. Kyran hat mir von Emmas Gedanken erzählt.“
Sofort fuhr ich hoch und unterbrach ihn. „Hat er etwa über sie gelästert?“
Sofort schüttelte Matt den Kopf. „Kyran würde nie über jemanden lästern. Was heißt nie? Vielleicht hin und wieder aber sicher nicht in diesem Fall. Über Personen die mit dir in Verbindung stehen. Im Gegenteil. Er findet sie echt nett und kann sich vorstellen, dass ihr beide beste Freundinnen seid. Über Chris sagt er überhaupt nichts, weil er ihn noch nicht so gut kennt aber wenn Sam das Wort verliebt, das aus seinem Mund kam im Bezug auf dich, vergisst, dann könnte er sich vorstellen mit ihm befreundet zu sein.“
Ich fing bei der Vorstellung an zu lachen.
„Ja. Die beiden sind echt auf einer Wellenlänge. Wenn man sie braucht, sind sie für einen da. Das ist auch der Grund wieso ich mit Sam so gut befreundet bin. Aber das Beste ist immer noch, dass man keine Komiker braucht, wenn sie in der Nähe sind.“
Er schien meine Vorstellung zu teilen.
„Ja ich weiß welche Sorte von Menschen du meinst. Auch wenn es nicht so wirkt aber in meinem Umkreis, Freunde sowie Familie, bin ich von solchen Leuten nur umgeben. Das merkt man auch in meiner Familie. Du hast Kyran und mich ja noch nie zusammen gesehen.“
Als wir an eine Kreuzung kamen und wir geradeaus weiterfuhren, anstatt nach links, in meine Richtung abzubiegen, erschrak ich.
„Stopp!“
Matt fuhr weiter geradeaus.
„Sorry aber wenn ich hier direkt auf der Straße halten würde ... ich glaube damit wären die Leute in den Autos hinter uns nicht so einverstanden. Was ist denn los?“
Ich schaute auf die vor uns liegende Straße.
„Wir hätten links abbiegen müssen, wenn wir zu mir wollen.“
„Richtig, aber wir fahren jetzt nicht zu dir sondern zu mir“, korrigierte er mich.
Stimmt. Das hatte ich total vergessen. Als er mein Gesicht etwas musterte, stellte er eine Frage, die ich leicht beantworten konnte.
„Wovor hast du eigentlich am meisten Angst? Vor meiner Familie oder vor dem Ort, in dem wir wohnen.“
Diese Antwort konnte ich so schnell beantworten wie keine andere je zuvor.
„Vor dem Ort. Ich müsste es normalerweise auch vor deiner Familie haben, aber ich kenne dich jetzt und habe auch Kyran einigermaßen kennengelernt. Außerdem vertraut euch Victoria und ich vertraue ihr.“
Nun stellte er mir eine noch bessere Frage, auf die ich aber leider gar keine Antwort wusste.
„Wenn du deiner Mom traust, wieso glaubst du ihr dann nicht die Gründe, weswegen sie dir Sachen über deinen Dad verschweigt?“
Dies war eine wirklich gute Frage. Zu gut für mich.
„Soll ich darauf lieber später zurückgreifen?“, fragte er, als ich nicht antwortete.
„Lass mich zuerst mal deine Familie kennenlernen. Du willst ja, dass ich dir vertraue und wenn ich deine Familie kennenlerne, weiß ich, dass man auf jeden Fall deinem Umfeld vertrauen kann.“
Auf einmal stand auf dem Straßenschild der Name Brockence. Also ging es los in den Ort des Grauens, zumindest von den Gerüchten her.
„Du gehörst auch zu meinem Umfeld. Und wo wir gerade bei Umfeld sind, wie findest du es hier? So schlimm?“
Von schlimm konnte keine Rede sein. Die Häuser sahen aus wie die aus Kells, nur dass sie sicher nichts gegen einen neuen Putz haben würden. Dass man hier nur wenig Miete zahlen musste war mir klar. Würde man hier das gleiche wie in der Stadt bezahlen müssen, würde ich sofort vor Gericht gehen. Wir fuhren noch einige Straßen weiter, bis wir in eine der breitesten Straßen des Ortes kamen, welche in der Mitte durch eine Allee aus Wiesenstreifen und Bäumen getrennt war. Er fuhr in den linken Straßenabschnitt und hielt einige Häuser vor einem weißen Mehrfamilienhaus an.
„Steig doch schon mal aus“, sagte er und kramte nach etwas in seiner Hosentasche.
Unverzüglich stieg ich aus und trat vor das Haus. Es unterschied sich nicht von den umliegenden Häusern, es war das Ebenbild eines jeden. Ich begann mich zu fragen, ob er mir mit der Beschreibung seines Hauses doch zu viel versprochen hatte. Auch wenn es das erste Mal gewesen wäre. Langsam ging ich vor, um die Namen auf den Haustürschildern lesen zu können. Insgesamt acht Namen. Von unten nach oben Gilbert, Coman, Lulla, Gubbins, Cabot, Parton, Preston und Saunders. Demnach musste Matt im zweiten Stockwerk links wohnen. Dass eine sechsköpfige Familie darin Platz fand! Als ich seine Schritte hinter mir hörte, brauchte ich nur noch eine Bestätigung.
„Ihr wohnt also im zweiten Stock links.“
Neben mir fing er an zu lachen. „Für unsere Nachbarn und die Außenwelt tun wir das. Aber für uns wohnen wir im ganzen Haus“, korrigierte er mich.
Ich war leicht irritiert. „Dann habt ihr durch Zauberei sieben Klone von euch erschaffen, die jeweils eine Wohnung bewohnen oder was?“
Das Lachen wurde immer lauter und amüsanter.
„Nein, das haben wir auch ohne Zauberei hinbekommen. Als sechsköpfige Familie ist es klar, dass wir mehr Wohnraum gewöhnt sind, und wir hatten genügend Geld um das ganze Haus zu kaufen. Aber den Verkäufern ist es egal was wir hiermit anstellen, Hauptsache sie bekommen ihr Geld. Also haben wir alle Wände rausgerissen und die Treppe und haben aus dem Inneren ein großes Einfamilienhaus gebaut. Die vielen Nachnamen sind nur da, um nach außen hin den Anschein zu erwecken, dass das hier ein normales Mehrfamilienhaus ist. Die Namen haben übrigens nichts zu bedeuten. Sie sind frei ausgedacht. Aber hier interessiert sich sowieso jeder nur für sich selbst, und so bemerken sie noch nicht einmal, dass hier sieben Familien fehlen.“
Langsam verstand ich es. Fragte sich nur was sich Vampire und Zauberer zusammen einfallen lassen würden.
„Also soll ich welche Klingel benutzen?“
Matt winkte ab. „Ich schließ schon auf, aber für den Fall, dass du uns in Zukunft besuchen möchtest, kannst du jede drücken. Sie funktionieren alle.“
Gut zu wissen. Als wir das Haus betraten, war ich endlos begeistert und fasziniert. Alles was man aus einem alten, vergammelten Mehrfamilienhaus machen konnte, war gemacht worden. Wenn nicht sogar noch viel mehr. Wenn man reinkam, ging links eine breite Treppe zu einem Gang hoch, der hinter der Wand nach rechts verlief. Auf der rechten Seite, also praktisch geradeaus, ging ein Flur rein mit einer Tür links, einer am Ende des Flurs und zwei rechts. Plötzlich tippte mich Matt von hinten an.
„Dreh dich mal um“, sagte er.
Als ich mich umdrehte sah ich etwas, was gar nichts anderes als Zauberei sein konnte. Die hohe Wand um die Eingangstür bestand, wie die Eingangshalle unserer Schule, nur aus Glas. Nicht nur, dass es mich wunderte, dass man hindurchsehen konnte, obwohl man von draußen nur leicht verschmutzten weißen Stein sah. Sondern auch, weil dort eine völlig andere Umgebung zu sehen war als draußen. Was hieß völlig anders? Es war soweit ich es beurteilen konnte die gleiche Umgebung, nur strahlte sie förmlich und ging nicht in Müll und Schatten unter. Ich war schon jetzt mehr als beeindruckt.
„Wow. Matt, das ist ja unglaublich!“
Er legte seine Hand auf meine Schultern.
„Wieso wusste ich, dass dir das gefallen wird.“
Ich riet einfach. „Weil ich den Herbst mehr mag als den Sommer und durch das Glas eine saubere Atmosphäre anstatt düster und schmutzig herrscht?“
Er seufzte. „Auch das, jetzt wo du es sagst, aber der eigentliche Grund ist: Weil du genau wie deine Mom bist und sie das erschaffen hat.“
Wieso hatte ich nur mit einer Sache, die Victoria betraf, gerechnet? Wahrscheinlich, weil er bei jeder Gelegenheit versuchte, sie ins Gespräch mit einzubeziehen. Aber wenn man das schon einige Tage am Stück ertragen musste, fing man an nachzudenken.
„Ja, das stimmt“, bestätigte ich ihn. Verwundert und freudig, dass ich ihm endlich mal recht gab, was ich immer tat, ich zeigte es nur nie, grinste er und räusperte sich stark. Ich wollte gar nicht wissen, warum er es tat, sondern einfach das sich bewegende riesige Bild begutachten.
Doch dann bemerkte ich erst, dass wir nicht die einzigen in diesem Haus waren.
„Matthew?“
Eine zarte Stimme drang aus dem Zimmer am Ende des Flurs. Matt warf seine Jacke über einen hölzernen Stuhl, welcher in einer Ecke neben der Treppe stand.
„Ja, Mom.“
Sein Blick wandte sich einer, etwas durchschnittlichen Frau zu, welche aus dem gleichen Zimmer kam, in dem ich ihre Stimme vermutet hatte. Durchschnittlich, weil sie weder dünn noch dick war. Sie hatte wie Victoria braune Haare, die in den Spitzen etwas heller waren. Um ihren Hals hing eine einfache, silberne Kette, die einen kleinen Kreis hielt. Es sah aus, wie eine Art Münze, vielleicht mit einer Gravur versehen, ich konnte es aber nicht genau erkennen. Mir war bewusst, dass sie auch schon mehr als ein paar Jahrzehnte erlebt hatte, doch hätte ich nicht einschätzen können, nach welchem Alter sie nicht mehr gealtert war. Meine Vermutung lag bei dreiunddreißig. In der Richtung von Victoria. Sie hatte ihre Hände ineinander geschlagen und lächelte mich an.
„Du bist also Katrin“, sie musterte mich von Kopf bis Fuß, ungläubig darüber, dass ich wirklich vor ihr stand. „Ich freue mich so, dass du da bist. Victoria hat mir zwar ein paar Bilder von dir gezeigt aber die sind schon ein paar Jahre älter, wenn ich dich so anschaue. Ich bin übrigens Charlene Cabot, Matthews Mutter.“
Sie drängte sich an ihm vorbei und streckte mir mit einem freundlichen Lächeln die Hand aus. Ohne zu zögern erwiderte ich ihre Bewegung und musterte Matts Mimik. Scheinbar war ihm diese aufrichtige Begrüßung gegenüber mir nicht peinlich, erweckte aber auch nicht den Anschein der Freude.
„Hallo. Es freut mich auch Sie kennenzulernen. Leider habe ich noch nicht viel über Sie erfahren, dafür aber eine Menge über die Familiengeschichte.“
Charlene drehte sich zu Matt. „Da bin ich auch sehr froh drüber. Ich kann zwar viele Sachen aushalten aber solche ernsthaften Dinge überlasse ich lieber meinen Männern.“
Ich sagte nichts, lächelte nur.
„Du kannst mich ruhig Duzen“, sagte sie. „Um ehrlich zu sein, bitte ich dich darum. Aber am besten lasse ich euch mal allein. Dann zeigt dir Matthew sicher auch noch den Rest des Hauses.“
„Sicher“, meldete sich Matt. Auf dem Weg wieder zu mir legte er aber noch einmal Klage gegen Charlene ein. „Und Mom, wie oft habe ich dir gesagt, dass du mich Matt nennen sollst.“
„Tut mir leid mein Sohn aber als Matthew wurdest du geboren.“
Matt nahm meine Hand und wir gingen die Treppe hoch. Im Hintergrund hörte ich nur noch eine Tür sich schließen. Als wir im Korridor ankamen, vielen mir als erstes die Rottöne an den Wänden auf. Nur in ungefähr der Mitte waren an beiden Wänden eine andere Farbe benutzt worden. Als wir den Korridor langsam entlang gingen, konnte ich nicht erkennen um was es sich handelte. Ich vermutete in die Richtung grau. Auf dem Weg zu der dunklen Fläche kamen wir an zwei Türen vorbei, jeweils auf jeder Seite eine. Hinten sah ich auch nochmal zwei Türen und dazwischen noch eine.
„Hier wohne ich mit meinen Geschwistern“, verkündete Matt.
Alle Geschwister auf einen Korridor zu verteilen war sehr mutig. Wobei ich nicht aus Erfahrung sprechen konnte, da ich ja Einzelkind war, aber nach dem, was man in der Schule so hörte, ging ich davon aus, dass jeder so viel Freiraum wie möglich brauchte.
Naja, dachte ich mir, wenn sie sich schon seit Jahrhunderten da durchkämpfen, werden sie es wohl gelernt haben.
Ich hielt an, weil ich inzwischen knapp die Mitte erreicht hatte. An beiden Seiten hingen um die sechs Bilder. Ein Bild zeigte ein wunderschönes schwarzhaariges Mädchen mit einem langen weißen Gewandt. Neben ihm stand Matt. Ich versuchte mir dieses Mal das Kichern wirklich zu verkneifen. Er sah genauso aus, wie auf meinem gedanklichen Bild. Die gleichen Haare, der gleiche Anzug, das gleiche Hemd. Der Unterschied bezog sich nur auf eine Fliege anstatt der ersehnten Krawatte. Er hatte seine rechte Hand um ihre Hüfte geschlungen und sie ihren Kopf leicht an sein Kinn gedrückt. Sie wirkte sehr glücklich, genoss es buchstäblich diesen Moment für immer auf einem schwarz weißen Blatt festzuhalten. Er blickte eher gequält drein, was ich nicht verstehen konnte. Er hatte ein bildhübsches Mädchen an seiner Seite. Was wollten Jungen im Allgemeinen mehr?
„Ein schönes Mädchen.“
Als ich mich zu ihm umblickte, war er schon einige Meter weiter gegangen. Er drehte sich nur ungern um. Trotzdem stellte er sich angespannt neben mich und musterte das Bild mit einem Auge. Eigentlich versuchte er jeden Augenkontakt mit ihr zu vermeiden.
„Ja, das ist sie.“ Er nuschelte mehr als das er sprach.
Eine Art, die ich von ihm so gar nicht kannte.
„Stimmt mit ihr etwas nicht?“
Er strich mit seinem linken Mittelfinger über das alte Gold, welches mit kleinen Verzierungen den Rahmen des Bildes bildete.
„Das ist das Mädchen von dem ich dir erzählt habe, das Mädchen deiner Art. Es war das letzte Foto was wir vor unserer nie stattgefundenen Verlobung gemacht hatten. Wäre es ein paar Tage später gemacht worden würde sie genauso aussehen wie ich. Da dachte sie noch, dass ich ihre Gefühle erwidern würde. Ich glaube sie hat es schon von Anfang an geahnt. Erst Wochen nachdem sich unsere Wege getrennt hatten erzählte man mir, ihr Vater habe schon anderen Männern, die Hand seiner Tochter angeboten. Nur der Unterschied zu mir war, dass ich der Einzige war, für den sie Gefühle hatte. Sie war danach zwar sehr niedergeschlagen und enttäuscht aber letztendlich war sie auch froh, dass ich mit offenen Karten gespielt und sie nicht ausgenutzt habe. Mein Dad wollte das Bild hier hängen haben. Er dachte dabei nicht an das, was geschehen war, sondern an sie. Schließlich konnte sie nichts dafür, dass ihr Vater so war und sie war einfach nur das, was man sich unter einer netten, wohlerzogenen Tochter vorstellen kann.“
Ich wandte mich dem Bild ab und ging den Flur langsam rauf. Er folgte mir sofort, erleichtert darüber, dass er nicht länger mit Stücken aus seiner Vergangenheit zu kämpfen hatte. „Ich finde den Entschluss deines Vaters richtig.“
„Ich auch“, stimmte er mir mit einem nicht überzeugenden Lächeln zu.
Aber ich fing gar nicht erst an ihn zu fragen was er von ihr hielt. Stattdessen folgte ich ihm über den restlichen Flur bis hin zu einem Zimmer. Er öffnete die dazugehörige Tür. Sein Gesicht spannte sich an und ließ erst Erleichterung von sich sehen als er den Raum betrat und sich schnell umschaute.
„Ich dachte schon sie hätten es vergessen.“
Sein Zimmer war eigentlich sehr leer. Außer einem Bett rechts an der Wand und einem Schreibtisch geradeaus gab es nichts Besonderes. Aber naja, vielleicht verbrachte er hier nur seine Zeit, um zu schlafen. Dafür war auch alles ordentlich. An der linken Wand hingen an einer Art Teppich, welcher ungefähr aus dem gleichen Stoff gemacht schien, wie Fischersnetze und Kartoffelsäcke Schwerter, Pistolen, Dolche und noch einige kleine scharfe Gegenstände. Sie waren bestimmt Jahrzehnte und Jahrhunderte alt und würden heute ein echtes Vermögen kosten. Durch ihr schwaches aber doch gut zu sehendes Glänzen, wirkten sie nur wenige Jahre alt. Ich spürte, wie Matt hinter mich trat, achtete aber durch den Anblick der Waffen nicht auf ihn. Nur auf seine Stimme.
„Das wollte ich dir eigentlich später zeigen, aber je früher du alles erfährst desto besser.“ Ein kurzes Schweigen trat durch den Raum. Anscheinend wartete er auf meine Zustimmung. Aber als ich nichts sagte, fing er von selbst an. „Die Schwerter und Dolche sind von vielen damaligen Schlachten. Die Vorfahren meines Dads und Tyrece bekämpften sich damit. Der Dolch dort“, er wies mit seiner Hand auf den einzigen Dolch, an dessen Spitze noch etwas Blut zusehen war, „ mein Vater hat ihn selbst benutzt. Das Blut an ihm ist von seiner Freundin. Als mein Dad und Tyrece fünfzehn wurden, schenkte ihre Mutter meinem Dad diesen Dolch. Er verstand schon in jungen Jahren, dass dies kein Spielzeug war und benutze ihn kaum. Tyrece hatte damals keine Waffe bekommen. Ich weiß nicht was er bekommen hatte aber was es auch war, es hat ihn nicht befriedigt, eher verärgert. Er stahl den Dolch und lernte mit ihm immer mehr das Töten. Zuerst nur an kleinen Tieren wie Vögeln, aber dann nahmen seine Opfer immer mehr die Gestalt von Menschen an. Da mein Dad den Dolch zu selten benutzte, viel ihm erst ein Jahr nachdem ihn Tyrece an sich genommen hatte auf, dass er fort war. Nach einigen Versuchen schaffte er es, dem Dolch seinem richtigen Besitzer wiederzugeben. Als Tyrece davon erfuhr, packte ihn der Zorn und er sollte für alles büßen. Alles was er ihm angetan hatte. Angefangen mit der Liebe seiner Mutter, welche ihn all die Jahre nur verachtet hatte, weil er seine Familie verachtet hatte. Als Rache wollte er das tun, was er am besten kann. Töten. Die beste Freundin meines Dads. Als seine Mutter davon erfuhr, wollte sie sich nicht einmischen und sagte meinem Dad, dass er vorhat, sie umzubringen. Da er nicht wollte, dass sie als letztes Gesicht das ihres Mörders und Feindes sieht, tötete er sie selbst. Das Blut von ihr wusch er nicht ab sondern behielt es bei sich, damit er sie immer bei sich hat. Eine der schlimmsten Sachen an die er sich erinnert.“
Schluckend drehte ich mich zu ihm um, den Tränen nahe. Rechtzeitig drückte er mich an sich damit ich mich beruhigen konnte.
„Und trotz allem hat er sie nie geliebt.“
Wie du! , dachte ich, in verschwommenen Gedanken.
„Wie weit man allein für eine Freundschaft geht ist unglaublich.“
Seine Worte beruhigten mich, munterten mich aber auch nicht auf. Es lies mich alles vergessen, die Geschichten, seine Worte, meine eigentliche Realität.
„Am besten du verweinst jetzt deine ganze Trauer, denn für das was noch vor dir liegt, brauchst du eine hohe Belastbarkeit und du darfst keinerlei Schwäche zeigen.“
Er löste seine Hände von meinen Rücken und Kopf und wischte mir schnell eine Träne aus dem Gesicht.
„Ich werde mein Bestes geben.“
Dann schaute er mir in die Augen. Anders als sonst schaute er mich zornig an und das nicht wenig.
„Dein Bestes zu geben reicht aber nicht. Du musst immer damit rechnen, bedroht oder gar getötet zu werden. Du darfst dich nicht schwach zeigen oder deine Schwachstellen bemerkbar machen. Denn dann hast du schon so gut wie verloren und damit meine ich dein Leben.“
„Du meinst es wartet da draußen ein Krieg?“
Er lachte sarkastisch, torkelte zu den Waffen und zog den blutigen Dolch aus einer silbernen Schlaufe. In seiner Hand wirkte der Dolch leicht. Das Eisen glänzte fast ein wenig mehr als es an der Wand. Das rostige Metall am Anfang des Griffs wirkte wie aufgelöste Spinnenweben.
„Es gibt noch viele weitere Geschichten. Erst wenn du sie alle verstehst und damit deren Zusammenhang wirst du verstehen, welche Rolle du in dieser Geschichte spielst. Aber alles zu seiner Zeit. Ich glaube nicht, dass Victoria will, dass ich als dein Mentor, dich zu überanstrenge. Wärst du ein Junge könnte ich dich sicher mehr einweihen aber bei einem Mädchen ist es besser man bleibt vorsichtig. Für den Anfang reicht es ja schon mal, dass du endlich mit dir selbst klarkommst.“
Was redete er da? Wollte er mich etwa herausfordern oder provozieren? Wenn ja, hatte er das geschafft. Aber ich durchschaute ihn leider immer mehr und wusste welches Spiel er mit mir spielte. Ich sollte ihm nicht meine Schwäche zeigen. Nicht das ich leicht verärgerbar war, was nur selten auftrat aber immerhin konnte man es trotzdem als Schwäche deuten. Er wollte es, er konnte es haben.
„Und was steckt hinter dem Wort Zauberer?“
Aus einem tiefbraunen Regal, welches unter den Waffen stand, zog er aus der obersten Schublade die Scheide des Dolches heraus. Auf dem dunklen Eisen umkreisten sie mehrere kleine weiße Fäden, vom Einstieg bis zur Spitze. Wenn man genau hinsah, sah man wie sie sich kräuselten. Um den Einstieg war ein schmales dunkelblaues Band gebunden, mit einer silbernen eingravierten Schrift. Doch sie war zu klein um sie aus einer zwei-Meter-Entfernung zu lesen. Vorsichtig schob Matt den Dolch in sie.
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste wäre, du schaust in Lexiken nach, wo das steht was sich Leute seit Jahrtausenden zusammenreimen. Die zweite Möglichkeit und damit auch die, die ich vorziehen würde ist, du findest es selber heraus, indem du das tust was ich dir sage.“ Und was hätte ich davon gehabt, wenn er mich in den Tod führen würde?
„Du musst auch gar nichts tun. Außer mir zu vertrauen.“
Das, womit ich immer gerechnet hatte, bis auf jetzt. Das schwierigste überhaupt. Ihm zu vertrauen und keine andere Wahl zu haben. Am Anfang war es schon schwer gewesen, ihn als meinen Mentor anzuerkennen. Als er mich auf dem Flur angesprochen hatte, ließ er keine Gründe auftreten, ihm nicht zu vertrauen oder gar Angst vor ihm zu haben. Da wusste ich auch noch nicht was mich noch erwarten wird. Aber mir blieb nichts anderes übrig. „Du wirst es mir nicht glauben, aber ich vertraue dir schon vom ersten Tag an.“
„Wirklich?“
Seine Aufmerksamkeit galt immer noch voll und ganz dem Dolch.
„Habe ich eine andere Wahl?“
Nun zeigte er mir seine Augen. Sein Gesicht blieb jedoch ernst.
„Du hattest immer eine Wahl, daran wird sich auch nie etwas ändern.“
Er kam mir näher doch jetzt kehrte ich nicht mehr um. Ich vertraute ihm. Er fasste meine Hand, zog sie an sich und legte in sie den Dolch. Er ließ mich wieder los. Ratlos sah ich ihn an. Erneut streckte er seine Hand zu mir aus und streifte damit über meine linke Wange.
„Er gehört jetzt dir. Ich schenke ihn dir.“
Bevor ich meine Hand ausstrecken konnte um ihm den Dolch zurückzugeben, hielt er sie schon fest und drückte sie wieder an mich. Das konnte ich nicht glauben.
„Dieser Dolch gehört deinem Dad!“
„Ich weiß.“
Er drehte sich um und ging zum Regal um die noch offene Schublade zu schließen.
„Das ist seine Erinnerung an einen wichtigen Menschen in seinem Leben. Das kannst du mir nicht einfach so ...“
„…Doch, ich kann ihn dir geben“, er lehnte sich gegen das Regal und legte seine Arme ineinander. „Es ist übrigens nicht ohne Absicht. Es muss sehr wichtig sein, dass du ihn bekommst. Sonst hätte mein Dad mir nicht den Auftrag gegeben, dass du ihn bekommst. Oder dachtest du etwa, ich würde dir etwas derartiges einfach so schenken?“
Die eine Hand, die den Dolch hielt, fing an zu zittern.
„Das war es dann wohl mit dem Vertrauen“, langsam löste er seine Arme und stützte sie auf dem Regal ab.
Als sich wenige weiße Fäden zwischen dem Eisen und meiner Haut kräuselten, zuckte ich zusammen und warf einen kurzen Blick auf die Hand, dann schaute ich ihn wieder an. „Was ist das?“
Matt begutachtete noch einmal das Regal und die Waffen, dann ging er auf die Tür zu und verschwand im Flur. Mit schnellen Schritten hastete ich ihm hinterher. Die Tür ging von alleine zu. Ich hoffte auf einen letzten Anblick der so-gut-wie-frisch-Verlobten aber um mit ihm mitzuhalten, hieß jede Ablenkung einen weiteren Meter Abstand. Auf der Treppe blieb er jedoch stehen. Als ich neben ihn trat blickte ich in das Gesicht von Kyran, der am Fuß der Treppe stand. Er sah genauso aus wie ich ihn aus der Schule kannte, jetzt nur ohne Bücher und Tasche.
„Hallo Katrin, ich hatte ganz vergessen, dass du dich heute mit meinem Bruder triffst oder ist die Gefahr jetzt schon so groß, dass dich Matt rund um die Uhr beschützen muss?“
In seiner Stimme lagen keine Anzeichen davon, es wäre ironisch gemeint. Vielmehr freudig. Darüber, dass Matt mich mitgenommen hatte, war er jedoch nicht sehr erfreut.
„Ich dachte aber …“, sein Blick blieb an Matt haften, „… du und ich waren uns darüber einig, dass du sie beschützt und ich sie dafür erobere.“
Ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte. Matt sprach, genau wie Victoria, von Gefahr und dass ich Schutzbedürftig sei. Für Kyran war es scheinbar der richtige Moment um sich mit ihm über mich zu streiten. Natürlich war es immer aufmunternd eine Person zu haben, die einen in ernsten oder hoffnungslosen Momenten bei Laune hielt, um ihn für einige Zeit aus der ernsten Welt zu befreien. Aber war jetzt schon der Moment wo es ernst würde? Ohne einen Kommentar abzugeben blickte ich wartend zu Matt, denn allein seine Reaktion würde erkennbar machen, ob Kyran es ernst meinte, vor dem großen Durchbruch nochmal etwas Stimmung schaffen wollte oder es einfach nur ein schlechter Scherz war. Nach einer halben Ewigkeit, als ich es fast schon aufgegeben hatte, sprang er in großen Schritten die Treppe runter und haute Kyran, als er vor ihm stand fast um. Zu meiner Erleichterung fingen beide an zu lachen. Schnell ging ich auf die beiden zu, mein Gang verlangsamte sich jedoch, als ich aus dem gleichen Raum, aus dem Charlene kam, ein Mädchen mit schnellen Schritten kommen sah. Es musste die zweite Schwester von Matt sein, von der mir Emma erzählt hatte, Shaynia. Ihr Erkennungszeichen hätten ihre leicht gewellten Haare sein können. Sie waren wunderschön, in einem dunkelvioletten Ton. Da wie man hörte in Vampir- sowie in Zauberfamilien alles möglich zu sein schien, ließ ich es nicht ausschließen, es könnte ihre Naturfarbe sein. Es beruhigte mich zu sehen, dass sie außer ihren Haaren und den gleichfarbigen Augen, wie ein ganz normaler Mensch aussah.
Ihrem Blick zufolge beachtete sie mich gar nicht und schritt auf Kyran und Matt zu.
Sie wirkte höchst angespannt.
„Ich dachte ihr seid vernünftig genug um zu wissen, dass das hier kein Spiel ist! Hier geht es höchstens Tyrece und vielleicht auch noch Salomé um ein Spiel, aber bis heute lebte ich noch im Glauben unsere Familie würde das ernst nehmen!“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Kyran düster an. Dieser versuchte sie schnellstmöglich zu beruhigen.
„Ich weiß, dass es hier um weitaus mehr als nur ein Spiel geht aber gerade in solchen Situationen ist die beste Methode, die Nerven zu behalten.“
Sie sah ihn ungläubig an. „Bei dir kann ich es ja noch verstehen aber bei dir …“, ihr Blick wanderte zu Matt, „… wer sagt denn die ganze Zeit, dass er verantwortungsvoll ist und die Dinge öfters ernster nimmt als sie sind? Nur deshalb hat dich Mom überhaupt ausgewählt, sie zu beschützen.“
Obwohl sie mit sie bestimmt mich meinte, wechselte sie den Blick nicht mit mir. Stattdessen wartete sie auf eine richtige Antwort von ihm, wie er sie immer von mir erwartete. „Natürlich passe ich auf sie auf Shaynia! Mit allem was ich habe! Aber die ganze Zeit mit einem ernsten Gesicht rumzulaufen und sich deswegen Vorwürfe anzuhören, darauf hat wohl keiner Lust, außer dir.“
Nun warf sie mir einen hastigen Blick zu, klammerte sich aber sofort wieder an Matt. „Falls du es noch nicht verstanden hast …“, jetzt sah sie mich länger an und zeigte auf mich, „… dieses Mädchen hat ihr Leben zu verlieren, wenn wir auch nur einen kleinen Fehler machen. Da du ihr Mentor bist, setzte ich das Wir in die Einzahl. Ich weiß nicht ob du weißt, wie groß deine Verantwortung hierbei ist. Denn machst du auch nur einen Fehler oder übersiehst etwas, erzählst ihr einige Sachen nicht, die sie wissen muss, oder bist nur in einer falschen Sekunde nicht bei ihr, könnte das ihr Ende sein.“
Das war ja eine echt freundliche Begrüßung. Vielleicht hatte mir Matt deswegen so wenig von ihr erzählt. Shaynia kam plötzlich auf mich zu. Ich rechnete schon mit dem Schlimmsten, als sie mit mir doch ein vernünftiges Gespräch führte.
„Hallo Katrin. Bitte nicht schreckhaft, weil du mich das erste Mal in dieser Situation erlebt hast aber manchmal lassen mir meine Brüder keine Wahl. Wie du schon mitbekommen hast, bin ich Shaynia. Keine Angst, ich werde dich definitiv anders behandeln, als Kyran und Matt. Wenn du Fragen an mich hast oder die beiden wieder Misst machen, kannst du einfach zu mir kommen. Du findest mich oben im ersten Raum rechts in meinem Zimmer oder wenn du unten den Flur entlanggehst, im Wohnzimmer. Ich habe noch ein paar Sachen zu tun also hoffe ich, dass Matt dich noch lebend zu Victoria bringen kann. Wir sehen uns ja dann in den nächsten Tagen. Bis dann.“
Sie stieg hinter mir die Treppe hoch und verschwand hinter der Wand. Völlig überrumpelt blieb ich dort stehen und schaute dann an den Fuß der Treppe zu Matt und Kyran.
„Und das war unsere Schwester Shaynia“, meinte Kyran mit einem breiten Grinsen.
Matt setzte sich auf die Treppe. Ich kam runter und setzte mich neben ihn, schaute aber Kyran an.
„Ist sie immer so?“
„Nein“, übernahm Matt das antworten und schüttelte den Kopf als ich mich zu ihm drehte. „Das war nur eine Ausnahme. Ich kenne Shaynia, sie wird sich sicher in ihrem Zimmer den Kopf darüber zerbrechen warum du sie gerade in diesem Aufzug sozusagen kennengelernt hast.“
„Dann sollte ich am besten zu ihr gehen und ihr sagen, dass es mir nichts ausmacht. Ich meine wir alle sind doch nur Menschen.“
Ich wusste nicht was ich mit dem Wort Mensch bei beiden verursacht hatte, obwohl mir Matt doch gesagt hatte, dass er sich mehr als Mensch sah. Aber teilte Kyran da dieselbe Meinung?
Aber er grinste nur. „Genau, wir sind alle nur Menschen. Ich darf aber im Unterschied zu Milliarden anderer mit einem Herz angeben, was praktisch nie versagt.“
„Oh du Glücklicher“, triumphierte Matt über ihn.
Das amüsieren der beiden konnte ich aber nicht teilen, da ich mir immer noch Gedanken um Shaynia machte.
„Ich gehe dann mal zu ihr“, sagte ich den beiden und war gerade halbwegs aufgestanden, als mich Matt am Arm packte und wieder runterzog.
„Bleib hier. Wenn du jetzt zu ihr gehst und sagst, dass sie sich darüber keinen Kopf zerbrechen soll, denkt sie automatisch du hast Mitleid mit ihr und als letztes auf der Welt will sie Mitleid … Davon hat sie schon zu viel bekommen.“
Wozu brauchte Shaynia Mitleid, sie sah nicht gerade aus, als ob es ihr an irgendetwas mangelte.
„Warum haben Leute mit ihr Mitleid?“
Fragend sah ich von Matt zu Kyran und wieder zurück. Die beiden warfen sich vereiste Blicke zu, was mir doch den Grund zur Angst gab. Dann brach Matt endlich das Eis und meinte nur: „Das wirst du schon früh genug mitkriegen.“
Er stand auf und ging zum Stuhl neben der Treppe um sich seine Jacke zu holen. Kyrans Blick folgte ihm. Dass mir ein dickes Fragezeichen im Gesicht klebte, interessierte offenbar keinen. Als Matt seine Jacke angezogen hatte, ging er auf die Haustür zu und öffnete sie für mich, wie gestern Morgen.
„Es ist schon spät. Ich würde dich jetzt gerne nach Hause fahren.“
Erst als er an der Tür stand, viel mir die Wand im Hintergrund wieder auf. Der wolkenbedeckte Himmel war durch Sterne auf schwarzem Hintergrund ausgetauscht worden. Ich verabschiedete mich von Kyran und trat ins Freie. Im Übrigen hatte ich mich bei Matt dieses Mal für die geöffnete Tür bedankt. Als ich auf die andere Häuserseite schaute, sah ich der Realität ins Auge. Es sah so schmutzig und verfallen wie heute Nachmittag aus, nur in Dunkelheit getaucht. Ich stieg ins Auto und Matt fuhr los. Jetzt aber schneller als vorhin. Aber er bog eine Kreuzung zu früh ab. Als er wieder mein geschocktes Gesicht sah, erklärte er es mir sofort.
„Keine Angst, wir fahren dieses Mal wirklich zu dir. Das ist nur eine Abkürzung.“
Da war ich ja beruhigt. Doch dann kam ich ganz langsam nochmal auf Shaynia zurück. „Sagst du mir jetzt was mit deiner Schwester los ist?“
Seine Hand am Lenkrad ballte sich zu einer Faust und er atmete tief aus.
„Schließen wir einen Pakt. Du musst mir nicht sagen, warum du deiner Mom wegen deines Dads nicht traust und ich muss dir nichts über Shaynia sagen.“
Dass ihn dieses Thema so sehr aufzuregen schien, hatte ich nicht erwartet. Da ich mich durch diesen Pakt nicht vor ihm rechtfertigen musste, nahm ich ihn aber an.
„Abgemacht“, brachte ich leise hervor.
Den Rest der Fahrt verbrachten wir im Schweigen, welches ich dazu nutzte, um mir einige infrage kommende Sätze einfallen zu lassen, die ich dann Victoria über Matts Familie erzählte. Das hieß Charlene und Shaynia.
„Wo war eigentlich dein Dad?“, wollte ich wissen und er wurde tatsächlich nochmal gesprächig.
„Sieh ihn jetzt bitte nicht als unhöflich, denn er wollte dich sehr gerne mal sehen. Er hatte aber heute auf seiner Arbeit viel Stress. Um ehrlich zu sein, den größten Stress seit Jahren, aber du wirst sicherlich in den nächsten Tagen die Gelegenheit dazu haben, ihn kennenzulernen.“
„Was sagen denn seine Mitarbeiter dazu? Haben die nicht Angst vor ihm? Immerhin, könnte er sie beißen.“
Matt lachte. „Also erstens, sie wissen nichts von seinen familiären Hintergründen, und zweitens, hat er nichts vererbt, um das Beißen überhaupt möglich zu machen.“
„Also könnt ihr gar nicht Menschen mit einem Biss auch in Vampire verwandeln?“
Er stöhnte genervt. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir keine Vampire sind! Ok in gewisser Hinsicht sind wir es, wenn man von dem unsterblichen Herz ausgeht, wodurch der Vampir ja erst richtig populär wurde, aber sonst verfügen wir über keinerlei Eigenschaften mehr, die Vampire ausmachen. Wodurch wir auf den Biss zurückkommen. Da, wie ich schon sagte, nichts anderes als die Unsterblichkeit bleibt, haben wir auch keine spitzen Eckzähne, mit denen wir Leute beißen können. Außerdem bin ich um die Eckzähne richtig froh“, er fing an zu lachen, „Ich wüsste nämlich nicht, wo ich die in meinem Mund hintun sollte und ich würde mich damit garantiert mehr verletzten als die Menschen in meinem Umfeld.“
Anhand der Vorstellung musste ich mit lachen. Jedoch nicht mehr lange, da wir mein Haus erreicht hatten. Ich stieg aus und wünschte ihm eine gute Nacht. Gerade als ich die Autotür schließen wollte, hielt er dagegen.
„Was ist denn aus meinen Orchideen geworden. Sind sie noch ganz?“
Ich beruhigte ihn mit den Worten: „Sie bekommen mit jedem Tag mehr Farbe.“ und ging ins Haus, als er abgefahren war.
Victoria stand in der Küche und schnitt Ananas. Dafür, fand ich, roch es hier auch nach exotischen Früchten. Der Herd und Backofen sah aber unbenutzt aus. Was mich wunderte, denn sie hatte noch nie den Nachtisch vor der Hauptspeise bereitet. Als sie mich sah, steckte sie sich gerade ein Stück Apfel in den Mund. So viele Früchte und Gerüche waren noch nie auf einmal in diesem Haus gewesen.
„Hallo Katrin. Und wie war es bei Matt zu Hause?“
Ich stellte meine Tasche neben der Tür ab und kam auf sie zu.
„Gut“, dadurch, dass ich auf das Schlimmste vorbereitet war, was sich hinter der Küchenablage befand, sprach ich automatisch langsamer. „Seine Mom ist sehr freundlich und seine Schwester Shaynia … naja, ich muss sie einfach besser kennenlernen. Aber das Haus, soweit ich es gesehen habe, ist ein echter Traum. Gerade die Wand um die Haustür.“
Begeistert sah sie mich an, schaute dann aber wieder schnell auf die Küchenplatte um sich ja nicht zu schneiden.
„Freut mich, dass es dir so gut gefällt. Demnächst wirst du sowieso eine Menge Zeit dort verbringen. Was ist denn mit Matts Dad?“
„Der war nicht da, weil er Stress auf der Arbeit hatte“, erklärte ich ihr.
Sie nickte nur und schnitt weiter. Als ich sah was sie schnitt, stockte mir der Atem. Die ganze Küchenplatte war voll mit Ananas, Bananen, Melonen, Äpfeln, Birnen, Weintrauben, Pflaumen und Nüssen, Radieschen, Tomaten, Möhren, Gurken und grünem Salat. Mir war neu, dass sie sich schon einmal so gesund ernährt hatte.
„Was bitte machst du da?“
Ich erkannte Victoria nicht mehr wieder. So viel Mühe machte sie sich noch nicht einmal bei besonderen Anlässen.
„Mir ist klar geworden, dass ich mich die letzten Jahre nicht sehr gesund ernährt habe und dass man mir das nicht anmerkt ist wahrlich ein Wunder! Ich habe vorhin die ganze Obstabteilung leergemacht und koche heute Abend nicht warm sondern mache stattdessen einen Obstsalat. Morgen Mittag gibt es dann auch Salat aber mit anderen Zutaten.“
Ich hätte sie dafür umbringen können. Wer war die Frau, die da vor mir stand und was hatte sie mit Victoria gemacht!?
„Ich bin hier noch eine Weile beschäftigt. Du hast noch bis neun Uhr Zeit, also knapp zwanzig Minuten um nach oben zu gehen und deine Hausaufgaben zu machen. Ich rufe dich dann zum essen.“
Sofort nahm ich meine Tasche und düste nach oben.
Ok Katrin, was auch immer gerade da unten passiert ist, ist nur Einbildung!, redete ich mir ein aber ich wusste, dass es Wirklichkeit war.
Ich hoffte Victoria machte nur Scherze, denn sonst war sie wirklich ausgetauscht worden. Nichts desto trotz machte ich mich an meine Hausaufgaben. Nicht nur, dass ich mich so auf die Aufgaben konzentrierte, damit ich das Thema Abnehmen mal für eine Viertelstunde vergaß. Ich verstand dadurch auch besser den Inhalt der Aufgaben und konnte sie dadurch schneller erledigen. Aber nach einer Zeit rief sie mich dann doch. Ich klappte die Schulbücher zu und packte meine Schultasche für morgen. Dann ging ich widerwillig in den Flur, die Treppe runter und setzte mich schräg gegenüber von Victoria auf die Couch. Sie nahm einen Löffel, tauchte diesen in eine große Schüssel mit Obstsalat und schenkte ihn in eine kleine Schale. Sie überreichte sie mir mit den Worten: „Guten Appetit.“ „Gleichfalls“, erwiderte ich es mit einem gespielten Lächeln. Der Obstsalat war an sich köstlich, und ich hatte auch nichts gegen ihn oder im Allgemeinen gegen Obst oder Gemüse. Aber der Gedanke daran, dies jetzt vielleicht jeden Tag essen zu müssen war schwer zu verkraften. Ungefähr so, wie sich jeden Tag eine Pizza zu bestellen, nur das Salat nicht so dick machte. Als ich den letzten Löffel Obstsalat verzehrt hatte, sah Victoria zu der großen Schale auf den Tisch und dann zu mir.
„Keine Angst, du kannst dir davon so viel nehmen, wie du willst. Davon wirst du nicht dick.“
Victoria zu liebe aß ich noch eine weitere kleine Schüssel. Den Rest aß sie leer. Als nichts mehr übrig war, verabschiedete ich mich von ihr und ging wieder in mein Zimmer, wo ich mich sofort auf mein Bett fallen ließ. Dann schloss ich die Augen und schlief ein. Nach ungefähr einer halben Stunde wachte ich wieder auf, zog mich um und machte mich nun vollständig bettfertig. Das Einschlafen viel mir dieses Mal aber schwerer. Ich lauschte im Hintergrund. Victoria saß immer noch unten und hatte den Fernseher an. Ich vermutete einen Krimi. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlief ich endlich wieder ein. Doch nach einiger Zeit wachte ich wieder auf. Ich lauschte. Der Fernseher war aus. Dann viel mir ein, dass ich von schnellen Schritten und einer laut zugeschlagenen Tür aufgeweckt worden war. Plötzlich hörte ich Geräusche. Sie kamen aus dem Bad. Ich stand auf und öffnete meine Zimmertür. Es hörte sich an, als würde sich Victoria übergeben. Dann wurde mir klar, dass es sich nicht nur so anhörte. Die Toilettenspülung wurde bedient und danach lief das Wasser im Waschbecken ungefähr eine Minute. Als schließlich alles verstummte, öffnete sich die Tür und Victoria stand vor mir. Schuldbewusst sah sie mich an.
„Es war der Obstsalat. Vielleicht habe ich es mit der gesunden Ernährung etwas übertrieben.“
„Etwas?“
Ich wusste, dass man das nicht tun sollte aber ich war froh, dass es ihr von den ganzen Früchten schlecht geworden war. Jetzt wusste sie wenigstens, dass eine Essensumstellung von null auf hundert auch ihre Konsequenzen hatte.
„Morgen gibt es dann wohl keinen Salat zum Mittagessen.“
Jetzt übertrieb sie aber. „Wir können morgen ruhig Salat essen. Dann eben als Beilage.“ Sie lächelte mich an. „Ich würde dich jetzt liebend gern in den Arm nehmen, aber …“
Sie wies auf ihren Mund.
Kein Problem“, sagte ich und legte mich wieder in mein Bett. Da mich in meinen Gedanken das Obst nicht mehr förmlich anlachte, schlief ich schnell ein und bis morgens durch.
Das Wochenende verlief absolut stressfrei, im Vergleich zum Rückblick. Matt wich zwar nicht von meiner Seite aber das wollte ich auch nicht. Es war angenehm und ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Er gewehrte mir zwei Tage Auszeit, in denen ich bestimmten durfte, was wir machten. Wir verbrachten die meiste Zeit außerhalb, hielten uns tagsüber im Park auf und schlenderten bei Dämmerungsbeginn durch die Straßen, bis wir, meist gegen acht Uhr, bei mir ankamen und er nach Hause fuhr. Es war noch schöner, ohne die Sorgen im Hinterkopf, mit ihm Zeit zu verbringen.
So schön, dass es mir am Montagmorgen wie ein Traum vorkam, aus dem ich erwachte. Ich sah dem Stress der kommenden Tage schon entgegen und betete, dass ich nicht wieder so viel auf einmal erfuhr, wie letzte Woche, falls überhaupt. Kyran war heute anderweitig beschäftigt, darüber hatte mich Matt gestern noch informiert. Das hieß also, ich konnte mich voll und ganz Sam und Emma widmen, und am wichtigsten, der Schule.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2015.
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