Marc Schmidt

Viral gehen

»Das nächste Video muss einfach viral gehen! Sorgen Sie dafür! Wofür um Gottes Willen bezahlen wir Sie und Ihre Abteilung denn, Halberström?«
Es war Montagvormittag und mein Chef hatte bereits eine fabelhafte Laune. Er hatte gerade die Marktanalyse von unseren Statistikern reinbekommen und mich direkt zu sich bestellt. Wir hatten jüngst einige Flops hinnehmen müssen und nun ja, die Konkurrenz schläft eben nicht. Unsere Position als Marktführer schien ernsthaft in Gefahr zu sein. Besonders in den heutigen Zeiten, Sie wissen schon. Das Internet, der alte Datenelefant, vergisst zwar nie etwas, in Vergessenheit gerät etwas bei diesen aberwitzigen Content-Strömen aber umso schneller. Was nicht direkt nach Release massenhaft verbreitet wird, also viral geht, wird von diesem Bit-Mahlstrom einfach weggesogen, irgendwo in die Tiefen der Bedeutungslosigkeit des Webs gespült und verrottet dort als Datenmüll. Passiert so etwas mit unseren Inhalten, schrillen in der Chefetage direkt alle Alarmsirenen auf. Und das ist der Punkt, an dem alles auf mich zurückfällt. Einen muss es schließlich treffen, nicht wahr?
 
Der Montag war an sich gelaufen, dabei hatte er noch nicht mal begonnen. Kaum hatte ich das Büro vom Chef verlassen, wurde ich schon angesprochen.
»Halberström! Wusste nicht, dass Sie beim Chef waren. Ich suche Sie schon überall.«
Ben Benson, mein persönlicher Assistent, kam in seinem typischen Entengang auf mich zu gewatschelt. Sein mintfarbenes Button-Down Hemd war zerknittert und trotz der Vollklimatisierung bei uns durchgeschwitzt.
»Es gibt ein Problem«, sagte er schnaufend und stach mit dem Smartphone in seiner Hand in die Luft.
Wann gibt es das mal nicht, dachte ich mir und fragte: »Wo brennt’s denn?«
»Max ist am Durchdrehen. Er ist heute extrem gereizt und hat sich an Mindy vergangen.«
Ich atmete tief durch und rieb mir mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel.
 
Max ist einer unserer Stars. Mit ihm haben wir einige erfolgreiche Episoden gedreht, die aber mal so richtig viral gegangen sind. Außerdem ist Max ein Bonobo und auch unter dem Namen Büroaffe-mit-sehr-schlechtem-Benehmen bekannt. Wilkins vom Editing hat ihn für uns aufgetrieben. So halblegal, wie er zugegeben hat, aber die Generierung von Klickzahlen erlaubt keine Skrupel. Wilkins hat Connections zum Zoll und die greifen manchmal ein paar Irre auf, die exotische Tiere illegal ins Land oder aus dem Land heraus schmuggeln wollen. Die genauen Hintergründe der Story kenne ich nicht, aber Wilkins hat uns Max über irgendwelche alten Gefälligkeiten besorgt und wir haben wie gesagt ein paar erfolgreiche Videos mit ihm produziert (weil er total auf Nikotin abfährt, macht er die verrücktesten Sachen für einen Zug). Als dann aber die Klick-Rate seiner Videos gesunken ist, haben wir Max aus dem Programm gestrichen und eigentlich nicht mehr gebraucht. Losgeworden sind wir ihn aber nicht. Wir wollten ihn über das Internet verkaufen und beinahe hätte ihn auch ein Sohn eines Ölscheichs gekauft, aber der Deal platzte in letzter Sekunde. Also richteten Anita und Mindy für Max ein altes Studio ein, in dem er jetzt wohnt und ab und zu etwas von dem nicht mehr gebrauchten Equipment kaputt schlägt - wenn er nicht mit seinen Fäkalien um sich wirft. Seitdem ist es Aufgabe unserer Praktikanten, Max drogenversetztes Futter durch eine Katzenklappe zu schieben, damit sie nach ein paar Minuten Wartezeit sein Reich oberflächlich säubern können.
 
Letztens ist dem Chef Max wieder eingefallen: »Wir hatten doch so einen Affen, der alles für eine Zigarette gemacht hat. Sau komisch! Was ist eigentlich mit dem? Steht er zur Verfügung, Halberström?«
Da Max ein unangenehmer Zeitgenosse ist und ich keine Lust auf Eskapaden mit einem eingesperrten Bonobo verspüre, hätte ich mir besser eine Ausrede einfallen lassen, aber leider war ich nicht schlagfertig genug gewesen. Und so war eins zum anderen gekommen. Unsere Jungs vom Storytelling hatten Extra-Schichten eingeschoben und heute war der erste Drehtag für eine neue Folge mit Max angesetzt. Die Idee dieser geisteskranken Möchtegern-Schreiberlinge war, Max Russisch Roulette spielen zu lassen. Für jedes Klicken vom Revolver sollte er ein paar Mal an einer Kippe ziehen dürfen. So zumindest mein letzter Stand.
 
Ich folgte dem Schwabbelpo von Ben Benson und fragte ihn, was zur Hölle denn in Max gefahren sei.
»Puh, das reinste Chaos«, sagte Ben Benson. »Zunächst wusste keiner, was eigentlich los war. Wir konnten ja nicht mal mit dem Drehen anfangen. Aber inzwischen haben wir es rausgekriegt.«
»Die Kurzfassung bitte.«
»Na gut«, sagte Ben Benson. »Affenpornos.«
»Affenpornos?«
»Naja, also Clips, auf denen eben bumsende Affen zu sehen sind. Wie soll ich sie sonst nennen?« Ben Benson klang verlegen.
»Und was ist mit den Affenpornos?«
»Okay, ich sollte weiter ausholen«, sagte Ben Benson aufgeregt. »Also, Jeremy hat ihm diese Clips über den alten Beamer in sein Zimmer gespielt. Der funktioniert wohl noch und Jeremy hats spitz gekriegt.«
»Jeremy?«
»Du weißt schon, der neue Praktikant.«
»Der Asiate, der an seinem ersten Tag Anita sexuell belästigt hat?«
»Genau der. Mann, der ist drei Tage lang mit ner roten Backe rumgelaufen, so eine hat ihm Ani geklebt.« Mein Assistent lachte und sein Schwabbelkinn wackelte wie eine Hüpfburg beim Kinderfest.
Wir bogen um eine Ecke und waren fast beim Studio angelangt.
»Naja auf jeden Fall war Max dann wohl so richtig angestachelt«, erzählte Ben Benson weiter. »Ich meine, ein nikotinsüchtiger, notgeiler Affe… Als ihn Warren Wood und Mindy holten wollten, ist er natürlich direkt auf Mindys Reize abgegangen. Aber das erzählt sie dir besser selbst. Da hinten sitzt sie.«
 
Tatsächlich saß unsere wasserstoffblonde Sexbombe völlig aufgelöst auf einem Stuhl zwischen der großen Topfpflanze und dem Wasserspender und wurde von Anita beruhigt. Daneben stand Jeremy, der Praktikant lässig an die Wand gelehnt und schien sich diebisch zu freuen. Auch Warren Wood, der glatzköpfige Produktionsleiter, war anwesend, aber auf und ab gehend in ein Telefonat vertieft.
»Um Gottes Willen, Mindy«, entfuhr es mir als wir näher kamen. Ihre blonde Mähne stand in wilden Strähnen von ihrem Kopf ab und ihr weißes Top war dreckverschmiert. Ich wollte gar nicht genau wissen, was dort für Substanzen klebten.
Sie sah mich mit geröteten Augen an, in denen ich kurz den Wahnsinn aufflackern sah.
»Dieser Affe… Halberström, wir müssen ihn einschläfern lassen!«, schrie sie. »Oder noch besser: Erschießen!«
»Shh. Ist ja gut«, sagte Anita und tätschelte Mindy die Schulter. Warren Wood telefonierte lauter.
»Klärt mich mal einer auf?«, sagte ich gegen unseren Produktionsleiter ankämpfend, der sich gerade ziemlich in seine Tirade steigerte.
Jeremy grinste mich an. Mindy schluchzte auf, sammelte sich aber schnell und begann zu erzählen: »Als ich und Warren den Affen vorhin aus seinem Kabuff holen wollten, stand Max wild onanierend vor uns, die Unterlippe so ekelhaft nach unten gestülpt, dass man die Zähne sehen kann. Und er hat so komische Laute von sich gegeben. Dann ist er wie wild auf und ab gesprungen und hat sich auf die Brust getrommelt.« Sie schniefte. »Und an die Wand projiziert lief die ganze Zeit so ein Zusammenschnitt von wild vögelnden Affen.«
»Das Paarungsverhalten von Zwergschimpansen«, sagte Jeremy und klang mächtig stolz. »Ein Best-of.« Er zeigte mir mit einem Grinsen seine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen.
»Dann ist der Affe auf mich los und-« Mindy musste abbrechen und brach in Tränen aus.
Warren Wood beendete sein Telefonat und sagte: »Schätzchen, es ist alles eine furchtbare Tragödie.«
»Hast du das Video in den Raum von Max übertragen?«, fragte ich Jeremy.
Er zuckte mit den Schultern »Ist doch lustig«, sagte er gelangweilt.
Bevor ihm Anita an die Gurgel gehen konnte, hörten wir alle einen Knall, der uns kurzzeitig verstummen ließ.
»Der Affe«, stieß Mindy keuchend hervor.
 
Doch es war nicht der Affe. Ben Benson taumelte aus Max‘ Kabuff heraus. Sein mintgrünes Hemd hatte auf Bauchhöhe eine hässliche rotbraune Färbung angenommen – und ein kleines Loch. Er fiel mir praktisch in die Arme.
Ich bemerkte wie die Mädels uns kreidebleich anstarrten. Auch Jeremy glotzte mit aufgerissenen Augen. Aus dem Studio konnten wir Max hören, wie er irgendetwas herunterfallen ließ und laut rumbrüllte.
»Benson, was hast du getan?«, schrie ich.
»Keine Ahnung, ich wollte… Max… da lag diese Waffe auf dem Boden«, brabbelte Ben Benson vor sich hin.
»Ups, die muss mir vorhin entglitten sein als der Affe auf Mindy losgegangen ist«, sagte Warren Wood und strich sich über seinen glattrasierten Schädel.
»Wieso war die Knarre denn geladen?« hauchte mein Assistent. »Da sollten doch nur Platzpatronen rein…«
»Benson, du liest aber schon deine Mails, oder?«, sagte Warren Wood vorwurfsvoll. »Wir waren uns doch alle einig, den Affen loszuwerden und haben nochmal das Konzept geändert.«
Warren Wood schüttelte ungläubig den Kopf und blickte mich fragend an.
»Davon weiß ich nichts«, sagte ich.
»Aber...« Benson hustete Blut und ich konnte ihn nicht mehr festhalten. Er rutschte an der Wand entlang auf den Boden.
Mindy fing zu schreien an. Anita rief irgendwas von Notarzt und Erste-Hilfe-Koffer. Jeremy machte sich aus dem Staub, und Benson, Benson lag im Sterben. Wegen einem Revolver mit einer Kugel, die für unseren Büroaffen gedacht gewesen war.
Wir konnten wirklich nichts mehr für ihn tun.
 
Als unsere Büroflure von Polizisten und Leuten der Spurensicherung wimmelten und sie gerade Max‘ Leiche vom Gelände schafften, nahm mich Warren Wood zur Seite, bevor die Cops uns mit ihren Fragen löchern konnten: »Du, sag mal, laufen die Überwachungskameras im Studio von dem Affen eigentlich noch immer rund um Uhr?«
»Kann schon sein, ja.«
»Also, ich will ja nicht taktlos sein und ich weiß ja nicht, wie nahe du Benson standest, aber ein Affe, der einen übergewichtigen Bürohengst erschießt«, er holte tief Luft, »also das könnte doch viral gehen. Oder nicht?«
Scheiße, natürlich hatte er Recht.
An manchen Tagen ist mein Job wirklich beschissen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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