Christiane Mielck-Retzdorff

Welt der Illusionen


 
Eine der beiden Verkäuferinnen schenkte Joe einen Kaffee-to-go ein, während dieser sich ein halbes, mit Mettwurst belegtes Brötchen griff. Dann verabschiedete sich der junge Mann  und ging zu seinem betagten Kleinwagen. Genauso wie den Führerschein verdankte er diesen seiner Bereitschaft, jeden Job anzunehmen, und so arbeitete er in den Sommerferien, ein Jahr vor seiner Abiturprüfung morgens von fünf bis acht Uhr für eine Bäckerei und lieferte in einem Transporter vorgefertigte Teigwaren in deren Filialen. Ab 12 Uhr würde er dann in einem Bahnhofskiosk aushelfen.
Von seinen Eltern konnte er keine finanzielle Unterstützung erwarten, denn beide brachten gerade genug Geld nach Hause, um die kleine Familie über die Runden zu bringen. Auch wenn sie stolz auf ihren intelligenten Sohn waren, hatten sie wohl nicht damit gerechnet, dass er ihnen so lange auf der Tasche liegen würde. Wollte sich Joe etwas Luxus leisten, musste er selbst Geld verdienen. Während der Schulzeit gelang ihm dieses mit Nachhilfeunterricht, denn er war ein guter Schüler und bei allen sehr beliebt. Doch nun machten all die anderen Urlaub mit oder ohne ihre Eltern.
Joe hatte schon gestern Abend sein Smartphone, auch so ein Luxus, ausgestellt, doch nun trieb ihn, während er im Auto frühstückte, die Neugier dieses wieder zu aktivieren. Erwartungsgemäß zeigte es den Eingang von unzähligen SMS und E-Mails an. Joe ahnte deren Inhalt. Es würden wie gewohnt Nachrichten aus dem Urlaub von Freunden, Bekannten und selbst Fremden sein ergänzt um etliche Selfies. Fröhliche Gesichter vor den Wahrzeichen weit entfernter Städte, Badevergnügen an endlosen Sandstränden, waghalsige Gipfelstürmer vor malerischen Panoramen und die Beweise ausschweifender Nächte in Diskotheken.
Joe empfand keinen Neid für die Glücklichen, doch die Fotos zu betrachten, ließ ein Gefühl von Unzufriedenheit in ihm keimen. Zwar war er sicher, dass er eines Tages auch die Welt bereisen würde, aber bis dahin lag noch viel Arbeit vor ihm. Einige seiner Freunde hatte sogar Mitleid mit Joe, was sie nur schwer verbergen konnten. Immerhin sollte er sich freuen, dass er dank des Internets an den Erlebnissen teilhaben durfte, doch das Gegenteil war der Fall.
Gerade als er sein Smartphone, ohne die Nachrichten anzuschauen, wieder ausstellen wollte, klingelte es. Es war sein Freund Juan, der ebenfalls nicht in der Ferne weilte. Joe nahm den Anruf an.
„Guten Morgen, Joe, ich dachte mir, dass Du schon wach bist. Hast Du Lust auf einen Kaffee vorbeizukommen?“
„Na klar, ich bin gerade fertig mit der Arbeit und habe noch etwas Zeit. Bin gleich bei Dir.“
Bis vor einem Jahr hatten die beiden jungen Männer die gleiche Klasse am Gymnasium besucht, doch dann verließ Juan die Schule, weil er etwas Geld von seiner Oma geerbt hatte und sich seinen Traum, als Fotograf zu arbeiten, erfüllen wollte. Etwas versteckt in einem Hinterhof hatte dieser einen Raum mit hohen Wänden gemietet, der als Fotostudio dienen sollte. Nachdem Juan sein ganzes Equipment zusammen hatte, war das Geld fast verbraucht. Dann wollte er als Fotograf richtig loslegen, doch musste bald erkennen, dass er einen steinigen Weg gewählt hatte. Der erhoffte Erfolg und die damit verbundenen Einnahmen blieben aus. Stattdessen lebte der junge Mann in der ehemaligen Werkstatt ohne Dusche von der Hand in den Mund. Aber Joe mochte diesen kreativen und stets gut gelaunten Freund.
Dieser bekannte gleich zu Beginn des Treffens lächelnd mit dem Geständnis:
„Mir geht es beschissen. Ich weiß kaum noch wie ich die Miete für mein Atelier zahlen soll. Wenigstens habe ich heute Nachmittag einen Auftrag für ein Shooting vor dem Eifelturm. Eine Frau will damit ihrem Lebensgefährten zeigen, wie sehr sie ihn liebt. Vermutlich erwartete sie anschließend einen Heiratsantrag von ihm.“
„Vor dem Eifelturm?“ fragte Joe erstaunt. „Willst Du mit der Frau nach Paris fliegen?“
„Das kann ich mir doch gar nicht leisten und sie wohl auch nicht. Nein, aber ich musste erstmal einen  mit diesem Motiv bedruckten Stoff kaufen, der nun von der Decke an der Wand baumelt. Mit der richtigen Beleuchtung sieht das total echt aus. Willst du es dir ansehen?“
Beide gingen in das Fotostudio, Juan betätigte die aufwendige Lichtanlage und schon erstrahlte der Eifelturm vor ihren Augen.
„Das sieht ja wirklich täuschend echt aus“, bestätigte Joe beeindruckt.
„Toll nicht, aber der Fotodruck war auch sehr teuer.“
Joe kam eine Idee. Er zückte sein Smartphone, stellte sich vor den Eifelturm, machte ein Selfie und verschickte es sogleich an all seine Kontakte. Es dauerte nicht lange und er bekam begeisterte Kommentare, meist auf wenige Silben beschränkt.
„Nun denken alle, ich sei in Paris“, sinnierte Joe.
„Denkst Du, was ich denke?“ sagte Juan mit einem listigen Grinsen. „Das ist doch eine echte Marklücke. Wer sich keine Reisen leisten kann, keine Abenteuer erlebt oder seinen Freunden etwas vorgaukeln will, kommt in mein Atelier und sucht sich einfach aus, vor welchem Hintergrund er ein Selfie machen möchte.“
Joe war zurückhaltend darin, jeden Plan gleich für genial zu halten, doch Juans Idee gefiel ihm. Damit konnte selbst er der Internetgemeinschaft Erlebnisse zeigen, die nur in seiner Phantasie stattfanden.
„Das Problem ist nur, dass die Leute bei diesen Lügen nicht ertappt werden wollen. Zwar werden sie kaum von Freunden nach Details gefragt, weil Selfies meist sofort wieder vergessen werden, aber Werbung darfst du für so ein Geschäft nicht machen. Wie sollen die Kunden dann zu Dir finden?“
Dieser Einwand dämpfte Juans Euphorie. Dann antwortete er etwas zaghaft:
„Es sind doch gerade Geheimnisse, die sich schnell herumsprechen. Wichtig ist doch nur, dass wir die Anonymität unserer Kunden bewahren. Und mein Atelier liegt sehr versteckt. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.“
 
Nach einem Jahr konnten Juan und Joe, der sich an dem Geschäft finanziell beteiligt hatte, ihre Geldsorgen vergessen. Zu ihren Kunden zählten Unternehmer, Hausfrauen, Angestellte, Schüler und Studenten. Dabei achteten sie sorgfältig darauf, dass diese sich nie trafen. Es war eine Frage des geschickten Timings. Mittlerweile konnten die Kunden zwischen hunderten von Motiven, die von einem HD- Beamer auf die Leinwand prodiziert wurden, auswählen. Außergewöhnliches wie die Begegnung mit hohen Politikern oder wilden Tieren waren besonders gefragt. Eifelturm war out und gammelte in einer hinteren Ecke vor sich hin.
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

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Die Töchter der Elemente: Teil 1 - Der Aufbruch von Christiane Mielck-Retzdorff



Der Fantasie-Roman „Die Töchter der Elemente“ handelt von den Erlebnissen der vier jungen Magierinnen auf einer fernen Planetin. Die jungen Frauen müssen sich nach Jahren der Isolation zwischen den menschenähnlichen Mapas und anderen Wesen erst zurecht finden. Doch das Böse greift nach ihnen und ihren neuen Freunden. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, um das Böse zu vertreiben. Das wird ein Abenteuer voller Gefahren, Herausforderungen und verwirrten Gefühlen.

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