Das zierliche, blonde Mädchen aus der 7b war auf dem Weg zum Direktoriat. Es fühlte wie sein Herz raste, seine Wangen glühten und der Magen zu rebellieren begann. Die eiskalten Hände hatte es in den tiefen Taschen seines roten Trägerkleides aus Cord vergraben und es mühte sich vergeblich damit ab, die Gedanken zu ordnen, die wie aufgeschreckte Bienen in seinem Kopf herumschwirrten.
“Roswita umgehend ins Direktoriat”, hatte die Kleine aus der fünften Klasse gesagt, nach dem sie zuvor zaghaft an der Klassentüre geklopft hatte. Dann, sichtbar erleichtert darüber den Auftrag erledigt zu haben, hatte sie danach den Kopf wieder aus dem Türspalt zurückgezogen und die Türe hinter sich geschlossen. Für Roswita jedoch schien mit diesem kurzen Moment die Uhr stehengeblieben zu sein, sie hatte sich wortlos von ihren Platz in der vordersten Bankreihe erhoben, war mit gesenktem Kopf am Pult vorbeigestolpert, ohne der überraschten Lehrerin auch nur einen Blick zuzuwenden, hatte dann beinahe den Papierkorb neben dem kleinen Waschbecken bei der Tür umgeworfen und war dann so rasch wie möglich aus dem Klassenzimmer gehuscht.
Und nun war Roswita auf ihrem Weg zum Direktoriat, vorbei an den Türen zu den anderen Klassenräumen der Unterstufe, bis ganz hinten zum Treppenhaus, das die vier Stockwerke des Schulgebäudes miteinander verband.
Dort angekommen erfasste sie mit der linken Hand den hölzernen Handlauf und begann dann langsam die breiten Steinstufen hinaufzusteigen. Dabei brannte die Erkenntnis, doch ganz genau schon jetzt zu wissen, weshalb man sie im Direktoriat zu sprechen wünschte, wie ein übermächtiger Feuersturm in ihrer Seele.
“Ja”, sagte sie kaum hörbar zu sich selbst, “ja, ich habe die Unterschrift meines Vaters auf dem Zwischenzeugnis gefälscht, und, ja, ich weiss auch, dass man dafür einen verschärften Verweis bekommt. Und dieser Verweis wird in der Schulakte eingetragen, auch das ist mir klar.”
Und dann dachte Roswita an die Eltern, denen sie nun nicht nur die Fünf in Latein, sondern jetzt auch noch den Verweis zu erklären haben würde. Bei diesem Gedanken füllten sich ihre Augen mit heissen Tränen, die sich dann wie Sturzbäche ihren Weg über die bleichen Wangen hinab, über den Kragen der weissen Bluse und das Vorderteil des Trägerkleides bahnten.
Und dann stand das Mädchen schliesslich vor der schweren Eichentüre des Direktoriats und klopfte zaghaft mit eiskalten Fingern an. Das wilde Pochen ihres Herzschlages übertönte das andere Geräusch, und so erschrak Roswita, als sie die tiefe Stimme der Direktorin aus dem Inneren des Raumes hörte.
“Komm´ herein und schliess´ die Tür”, sagte die Schulleiterin knapp und durchbohrte das aufgelöste Mädchen mit strengem Blick.
“Du weisst, weshalb ich dich rufen liess?” fragte die Direktorin sofort, ohne Roswita zuvor aufzufordern, auf dem leeren Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Und als das Mädchen verschüchtert nickte, fuhr die Nonne fort, ohne von den abermals herabstürzenden Tränen ihres Gegenübers Notiz zu nehmen.
“Und du weisst auch, was es bedeutet, eine Unterschrift zu fälschen, nehme ich an”, setzte die Direktorin die Befragung fort. Und wieder nickte das Kind wortlos.
“Nun, Roswita, dann erkläre mir bitte, warum du das dann überhaupt getan hast”, fügte die Nonne hinzu und lehnte sich in ihrem ausladenden Sessel abwartend zurück, ohne ihr Gegenüber aus den Augen zu lassen.
“Ich habe mich einfach nicht getraut meinen Eltern das Zeugnis mit der Fünf darin zu zeigen, Mater Maria, und ich hatte deshalb so grosse Angst.”
Die Direktorin schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, um die Antwort des Kindes in Ruhe zu überdenken, und als sie sie wieder öffnete, blieb ihr Blick ganz ungewollt an der zierlichen Marienstatue auf ihrem Schreibtisch hängen.
“…ich hatte so grosse Angst, Mater Maria..” wiederholte da eine Stimme im Kopf der Nonne,
“Mater Maria, Mutter Maria, …gegrüsst seist du Maria voll der Gnade …”, kam ihr die erste Zeile des Gebetes in den Sinn, und je länger die Direktorin das gütige Porzellangesicht der Madonna vor sich betrachtete, desto klarer, ja zweifellos und unumgänglich erschien ihr die Botschaft, und desto einfacher fiel ihr damit die Lösung des Problems.
Anschliessend erhob sich die Nonne gemächlich von ihrem Sessel, verschwand für eine ganze Weile durch die Verbindungstüre im Sekretariat, kehrte schliesslich mit einem weissen Blatt Papier mit blauer Tintenschrift und dem Schulstempel, über dem mit grossen, schwarzen Lettern ZWISCHENZEUGNIS stand, in ihr Büro zurück, und setzte sich erneut an ihren Schreibtisch.
Das Mädchen sah, wie die Direktorin ihren Federhalter umständlich begann aufzuschrauben, bevor diese dann das Blatt an jener dafür gekennzeichneten Stelle unterschrieb und abschliessend mit der schweren Löschpapierschaukel trocknete.
“Nun geh, Kind, und bring es mir morgen unterschrieben zurück”, sagte diese dann und übergab Roswita eine neue Ausfertigung des Zeugnisses.
Noch immer liefen dem Mädchen die Tränen unvermindert über das Gesicht, als es danach die Türe des Direktoriats hinter sich geschlossen hatte, das Treppenhaus hinunter und den endlos langen Gang zurück zu ihrem Klassenzimmer ging, und dabei immer wieder ungläubig auf das neue Zwischenzeugnis starrte, auf dem zwar noch immer die schreckliche Fünf im Fach Latein zu lesen war, jedoch der Platz für die Unterschrift des Vaters wieder frei war.
Die Schulleiterin stand inzwischen am Fenster ihres Büros und schaute nachdenklich auf den dick verschneiten Schulgarten. Sie dachte an das Gespräch zurück, das sie vor einer knappen Stunde mit Roswitas Vater am Telefon geführt hatte, an die anfängliche Sprachlosigkeit des Mannes über das, was die Tochter getan hatte, und an dessen Scham darüber, die sie im Verlauf des Gespräches immer deutlicher aus seinen Worten herausgehört hatte.
Als die Direktorin schliesslich das Gespräch beendet und den Hörer danach zurück auf die Gabel gelegt hatte, musste sie plötzlich und ganz unerwartet an den Tag denken, an dem sie damals, eine Siebzehnjährige, die Schule hatte umgehend verlassen müssen, und damit auch alle ihre Träume von einem anschliessenden Studium für immer begraben waren. Es war der Tag, an dem sich ihre Lehrerin an der ungewohnt schwungvollen Unterschrift gestört hatte, die unter der dicken roten Sechs auf der Mathematikarbeit des Mädchens gestanden hatte. Und obwohl jener Tag nun schon fast ein halbes Jahrhundert zurücklag, so war die Erinnerung an diese grenzenlose Hilflosigkeit und die tiefe Verzweiflung, die sie damals darüber empfunden hatte, für die Schulleiterin von heute noch immer lebendig. Als niemand damals verstanden hatte, was alles mit jenem, ihrem ganz eigenen “…ich hatte solche grosse Angst…” eigentlich hätte erzählt und erklärt werden können. Von all den Erwartungen, die der erfolgreiche Professor, der ihr Vater war, damals auf sein einziges Kind gesetzt hatte, all die unerbittlliche Strenge, wenn sie wieder einmal in der Schule versagt hatte oder zumindest nicht erfolgreich genug gewesen war, und all die Kälte, die Verbote und die Missachtungen, die sie als Konsequenz daraus dann jedesmal in ihrem Elternhaus erfahren hatte.
Lange war die Schulleiterin noch am Fenster gestanden und hatte daran gedacht, welchen grundlegenden Einschnitt diese ebenso verzweifelte wie unbedachte Tat von damals dann für ihr ganzes weiteres Leben bedeutet hatte. Den Verweis von der Schule, den endgültigen Bruch mit dem Elternhaus, den erzwungenen Eintritt in dieses Kloster. Doch dann, als sich die Direktorin eingestehen musste, dass diese Erinnerungen noch immer nicht aufgehört hatten sie zu quälen, wandte sie sich vom Fenster ab und dabei fiel ihr Blick erneut auf die zierliche Porzellanmadonna auf ihrem Schreibtisch.
“Gegrüsset seist du Maria voll der Gnaden” sagte sie leise zu der Figur, schenkte jener ein kaum sichtbares Lächeln, und war mit dem, was aus ihr selbst im Laufe der vielen Jahre dann doch noch geworden war, ganz plötzlich im Reinen.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anita Voncina).
Der Beitrag wurde von Anita Voncina auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2015.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Anita Voncina als Lieblingsautorin markieren
Regina Mundis - Königin der Welt. Buch 1: die Berufung
von Jürgen Berndt-Lüders
Agnes, die Tochter des Markgrafen vertritt bei einer Konferenz König Otto II, der ein Kindskopf ist. Während dieser Zeit ist sie die mächtigste Frau der Welt.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: