Anita Voncina

Der Schwimmbalken

Wir hatten das Strandbad am See am späten Nachmittag erreicht, die Autos in der kleinen Seitenstrasse zum Waldweg geparkt und waren dann, eine bunt gemischte, ausgelassene Truppe in Feierabendstimmung, durch das Eingangstor gestürmt. Nachdem wir bei der Frau am Kiosk unseren Eintritt, ein paar Erfrischungsgetränke und eine ganze Menge kleiner Süssigkeiten bezahlt hatten. Danach waren die Handtücher schnell ausgebreitet und die spontane Idee, sich nach einem langen Arbeitstag doch noch dieses gemeinsame Vergnügen zu gönnen, somit in die Tat umgesetzt.
Wärend die Jugend, eine ganze Anzahl halbwüchsiger Mädel und Jungen und einige jüngere Kinder, sich sofort daran machte als johlende Horde ins tiefgrüne Wasser zu stürzen, machten wir Älteren es uns erst einmal auf den Handtüchern bequem, fingerten nach den erstandenen Knabbertüten und verteilten die Getränke untereinander. Wir schwatzten gut gelaunt durcheinander und liessen dabei doch immer wieder unsere Blicke zu dem schwimmenden Baumstamm weit draussen im Wasser wandern. Dieser war dort mit zwei starken Ketten am Seegrund befestigt und die eigentliche Attraktion des kleinen Strandbades, mit seinen etwas angestaubt wirkenden, muffigen Umkleidekabinen aus Holz und der verrrosteten Dusche in der Mitte der Liegewiese. Das Gelächter der schwimmenden und plantschenden Jugendlichen, denen unsere Aufmerksamkeit galt, war in unserem Handtuchlager noch immer gut zu vernehmen, und es war auch unschwer zu erkennen, dass sie ihr angesteuertes Ziel, den Schwimmbalken, bald erreicht haben würden.
      Die Julisonne vergoldete mit ihrem Nachmittagslicht das dicht bewaldete gegenüberliegende Ufer so verschwenderisch wie auch die Oberfläche des Seewassers, und ich sog diesen optischen Balsam für meine etwas ausgelaugte Seele dankbar ein, als mein Blick auf das mollige Mädchen unserer Nachbarn fiel, das, anstatt mit den anderen im Wasser herumzutollen, träge am äusseren Rand unseres Handtuchlagers hockte und in der Gummibärchentüte herumfingerte.
“Julchen”, fragte ich, “warum bist du denn nicht bei den anderen im Wasser?” und sah, wie das Mädchen errötete und sogleich die Schultern in Richtung Ohren hochzog.
“Ach,” antwortete seinerstatt Julchens Mutter und schenkte mir ihr strahlendes Lächeln, “unser Julchen fühlt sich im tiefen Wasser nicht so sicher, und wartet deshalb immer lieber auf die Begleitung eines Erwachsenen.”
Dann öffnete unsere Nachbarin ihre eisgekülte Coladose, bot ihrem Ehemann einen ausgepackten Schokoriegel an und beteiligte sich danach gleich wieder unüberhörbar am allgemeinen Gespräch.
      Ich betrachtete Julchen, die nun mit vollgestopften Backen ruhig vor sich hinkaute, und bedauerte das Kind ein wenig für all die äusseren Werte, die es ganz ohne Zweifel nicht hatte, und auch für all jene Gaben und Geschicklichkeiten, die ihr ein ungünstiges Schicksal bisher ebenso verwehrt hatte. Und dann hatte ich eine blendende Idee.
“Julchen,” fragte ich und blickte dem Mädchen voller Tatendrang ins gelangweilte Gesicht, “wollen wir beide vielleicht gemeinsam zum Balken  schwimmen? Jetzt?” Und ich staunte dann nicht schlecht, als Julchen sich danach langsam erhob, den letzten Bissen hinunterschluckte und ergeben grunzte, was ich sogleich als Zustimmung deutete.
      Am kleinen Steinmäuerchen angekommen, das die etwas höher gelegene Liegewiese vom Wasser trennt, musste ich dann doch noch eine ganze Weile auf meine kleine Begleiterin warten, denn sie wollte sich zuvor noch sehr ausgiebig von ihrer Mama verabschieden, aber irgendwann war auch dies dann abgeschlossen und sie machte sich in meine Richtung auf den Weg. Ein wenig erleichtert hatte ich entdeckt, dass sich in Zwischenzeit auch mein Ehemann von seinem Handtuch erhoben hatte und nun standen wir also zu dritt im flachen Wasser, das unsere Fussknöchel erfrischend umspielte, und machten uns bereit.
      Die ersten Meter legten wir drei noch zu Fuss zurück, zwischen uns beiden Erwachsenen die 10-Jährige, die mir selbst bis zu den Schultern reichte und meinem Ehemann nicht bis zur Brust, mit ihrem Körpergewicht jedoch dem meinen nicht merklich nachstand. Julchen hatte gleich zu Anfang ihre beiden Hände nach uns ausgestreckt, und so führten wir sie über den sanft abfallenden, steinigen Untergrund und den Seegrasbereich.
Danach, als das Wasser schliesslich so tief war, dass wir schwimmen mussten, hatte Julchen eingesehen, dass man dies nur mit freien Händen berwerkstelligen konnte, und so hatten wir bereits eine ganz beträchtliche Strecke in Richtung Balken zurückgelegt, als das Mädchen plötzlich unruhig zu werden begann. Und da halfen dann auch keine beschwichtigenden Worte mehr und auch nicht das Versprechen, dass uns ja auch nur noch ein paar wenige Meter zum Holzbalken fehlen würden, an dem schon alle anderen auf Julchen warten würden.
      Mein kurzer, abschätzender Blick zu jenem Balken bestätigte mir allerdings sogleich, dass ich in Bezug auf die Entfernung zweifellos nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte, und auch mit meiner Aussage über das bereits erwartet werden lag ich ganz offensichtlich vollkommen daneben; keiner der zahlreichen, fröhlich herumalbernden Jugendlichen, die dort in der Ferne rittlings auf dem Balken sassen, hatte überhaupt mitbekommen, dass wir drei uns auf dem Weg zu ihnen befanden.
      Was auch immer dann Julchens Vertrauen zu ihren Schwimmkünsten endgültig hatte schwinden lassen, und damit eine heftige Panik bei dem Mädchen ausgelöst hatte, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. So begann es urplötzlich wild um sich zu schlagen und laut zu schreien, schluckte dabei immer wieder eine ganze Menge Wasser, das sie dann mit grossem Getöse wieder heraushusten musste, und hatte damit im Handumdrehen eine relativ schwierige Situation für uns drei geschaffen.
Mein Versuch, dem Kind meine Hände entgegenzustrecken, damit es sich daran festhalten könne, schlug vollkommen fehl, vielmehr packte es mich an den Armen und grub dabei verzweifelt ihre Fingernägel in meine Haut. Dann versuchte Julchen, mit ihren Füssen an meinem Körper Halt zu finden und auf meine Schultern zu klettern. Dass ich bei diesen artistischen Übungen jedoch meinen Kopf nicht lange über Wasser zu halten vermochte und somit selbst auch eine ganze Menge Wasser schluckte, machte meinem ersten Rettungsversuch dann ein schnelles Ende. Und meinem zweiten ebenso.
      Danach griff mein Ehemann ins Geschehen ein, erfasste die Taille des wild um sich schlagenden Kindes und hielt es , mit den Beinen dabei kräftig  ins dunkelgrüne, nasse Bodenlose tretend, auf diese Weise zumindest eine Zeit lang über Wasser. Bis Julchens rechtes Knie ihn schliesslich unvermittelt und heftig am Kinn traf , ihr linker Fuss in seiner Magengrube landete, und sie seinen Kopf mittels ihrer Fäuste in Angriff nahm. Sein anschliessender Versuch, die kleine strampelnde Furie zu beruhigen und sich selbst etwas mehr Bewegungsfreiheit durch ein kurzes Abtauchmanöver zu verschaffen, schlug absolut fehl und endete damit, dass das Mädchen seinen Hals anschliessend mit der ganzen Kraft seiner beiden Arme in den Würgegriff nahm und ihn unter Wasser drückte.
Julchens Geschrei und die gut sichtbaren Wasserfontainen, die immer dann entstanden, wenn Auf- und Abtauchen angesagt waren, waren bei den noch immer ausgelassen herumtollenden Jugendlichen am Balken ebenso unbemerkt geblieben wie auch meine flehentlich dorthin gesandten Blicke voller Hoffnung auf schnelle Unterstützung in einer so völlig ausser Kontrolle geratenen Situation.
      Nur wenige Augenblicke bevor sich mein Ehemann dazu durchgerungen hätte, das panische Kind durch einen entsprechend dosierten Kinnhaken irgendwie ausser Gefecht zu setzen, verliessen Julchen ganz unerwartet und urplötzlich ihre Kräfte. Und so nutzten wir die Gunst des Augenblicks, erfassten das nun völlig ermattete Mädchen von beiden Seiten und schwammen mit unserer bewegungslos erstarrten kleinen Raupe in unserer Mitte, so schnell wir selbst dazu noch in der Lage waren, ans Ufer zurück. Dort blieb ich, vollkommen ausser Atem, im knöcheltiefen Wasser einfach bäuchlings liegen, während mein Ehemann das nun wieder zu Kräften gekommene, jedoch uns zu tiefst beleidigte Mädchen hinter sich her zurück bis zum Handtuchlager zog. Er selbst liess sich dann anschliessend erschöpft daneben ins Gras fallen.
      Während ich noch immer, nun mit dem Gesicht nach oben, im flachen Wasser dümpelte und dabei nach ruhigerer Atmung und stabilerer seelischer Verfassung suchte, musste ich erkennen, dass niemand, weder die noch immer johlende Gruppe am Schwimmbalken draussen im Wasser, noch die unverändert munter schwatzenden Nachbarn auf dem Handtuchlager, auch nur das Geringste von unserem Kampf in den Fluten mitbekommen hatte. Und als ich gerade dabei war darüber nachzudenken, ob ich darüber frustriert oder vielleicht sogar erleichtert sein sollte, vernahm ich die wohlwollend säuselnde Stimme von Julchens Mutter.
“Du musst aber wirklich mal ein bisschen an deiner Kondition arbeiten, Nachbarin, du bist ja ganz ausser Atem und auch ziemlich blass um die Nase! Sooo weit ist es ja wohl auch wieder nicht bis zu dem Balken dort draussen -  schau, sogar unser kleines Julchen hat die Strecke mit links gemeistert.” Danach bedachte sie ihre Tochter, die sich gerade mit einer Leberwurstsemmel vom Kiosk beschäftigte,  mit einem ersichtlich stolzen Blick, stand schwungvoll auf, schüttelte ihr schulterlanges Haar mit einer gekonnten Kopfbewegung, und schritt mit sportlich wippendem Gang und eingezogenem Bauch zum Wasser.  
  
 
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anita Voncina).
Der Beitrag wurde von Anita Voncina auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Anita Voncina als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das Vermächtnis des Fremden von Marcel Ohler



DAS VERMÄCHTNIS DES FREMDEN – Gott Hades hat ein Problem: Um seinen perfiden Plan, Bruder Zeus zu stürzen, ungehindert durchführen zu können ist er gezwungen die Treue seiner friedliebenden Frau Persephone auf eine harte Probe zu stellen …

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Anita Voncina

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Und darum prüfe, wer sich für ewig bindet von Anita Voncina (Wie das Leben so spielt)
Socken von Christiane Mielck-Retzdorff (Wie das Leben so spielt)
A Tear von Sara Puorger (English Stories)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen