Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-11.Kapitel-Mom-Seite 224-232

Der nächste Tag ging überraschend schnell vorbei und brachte auch seine Überraschungen mit sich. Wir bekamen Mathe zurück und das erste, was Chris tat war, sie auf den Boden seiner Tasche zu knüllen und sofort alle Bücher drauf zu stellen, damit man sie auch ja nicht sah. Ich machte es ihm gleich - aber nur, dass ich nicht reinschaute. Denn mein Gefühl, dass sie ein Erfolg werden würde, war von Tag zu Tag gesunken. Aber die Ungewissheit über die Note wurde fast unerträglich und so war ich sehr froh, als die Schule fertig war und ich - zu meiner Verwunderung von Charlene Cabot - abgeholt wurde.
Sie erklärte mir, während wir zu meiner nächsten Verwunderung zu ihnen, anstatt zu Victoria fuhren, dass sie mit ihr gesprochen hatte und Victoria wortwörtlich meinte: „Lass sie heute noch bei euch. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an und ich möchte, dass sie sich noch ein bisschen beruhigt. So, dass wir vernünftig miteinander sprechen können, wenn sie wieder da ist.“
Für diese Aussage gab es nur eine Erklärung. Ich war für sie im Recht. Sie konnte mich verstehen. Sie dachte sogar, ich wäre so sehr mitgerissen, dass ich noch eine Weile brauchte, um wieder klar zu denken. Es war ein sehr genugtuendes Gefühl, diese Erkenntnis von ihr zu bekommen. Das erste Mal, fühlte ich mich von ihr wirklich verstanden, dass sie voll und ganz Rücksicht auf mich nahm - obwohl sie das vorher auch tat.
Gegen Nachmittag wandte ich mich dann Mr. Cabot zu, meinem sogenannten Ersatzvater und gab ihm die Arbeit. Ich wollte nicht die genaue Note wissen aber zumindest eine Meinung haben. So verstand er es auch, schlug das Heft auf um sie sich anzusehen und schlug sie dann sofort wieder zu und drückte sie mir wieder in die Hand.
„Ist in Ordnung.“
Erleichert atmete ich auf und erledigte meine restlichen Aufgaben.
Diese Nacht träumte ich einen sehr erstaunlichen Traum. Ich redete mit Victoria über ganz alltägliche Dinge, über die wir sonst auch redeten. Das war ja auch nicht der Punkt. Der Punkt war, dass ich sie immer mit Mom ansprach. Ich ging mir im Kopf hunderte von Fragen und Antworten durch, die das Wort Mom enthielten, um mich auf meinen morgigen großen Auftritt vorzubereiten. Victoria war durch meine lange, nun vier Tage dauernde Abwesenheit sicher verunsichert, was mich betraf. Wie ich reagieren würde, wenn ich wieder vor ihr stand. Somit hatte ich das Vorhaben, mir einen Ruck zu geben und häufiger zu versuchen, sie, sobald ich angekommen war, mit Mom anzusprechen oder dieses Wort in meinen Gedanken vorkommen zu lassen. Auch, wenn es sich andere gar nicht erst vorstellen konnten, war es für mich absolut neu, sie so anzusprechen.
Am nächsten Morgen brummte mir von meinen gedanklichen Selbstgesprächen der Schädel. Nachdem ich aufstand war mir etwas schwindelig und ich hatte leichte Kopfschmerzen. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, obwohl ich mit jeder weiteren Minute befürchtete, dass Charlene mich doch krankschreiben musste. Aber spätestens, als ich die kühle Morgenluft von draußen einatmete, ging es mir wieder besser.
Als ich an der Schule ankam, war ich so wach wie nie zuvor und bekam endlich mal wieder mit, was Emma mir erzählte und, das wichtigste, was ich ihr erzählte. Dennoch vermisste ich Sam und hoffte, dass es bei ihm gestern nicht wieder Sushi gegeben hatte. Ich suchte auf dem Parkplatz vergeblich nach seinem Auto, aber ohne Erfolg.
Wenn du mich heute hängen lässt, bist du mir nicht nur einmal etwas schuldig, Sam!
Doch dann sah ich seinen Wagen. Er parkte nicht mal weit weg von uns. Aber sein Auto unterschied sich etwas von den anderen. Seine Fensterscheiben waren beschlagen, und das nicht wenig. Ich entschuldigte mich bei Emma, dass ich mal nach ihm sah, während sie weiterhin auf Chris wartete. Nach ein paar Schritten winkte ich ihn zu mir aber er reagierte nicht. Verwundert sah ich zu ihm herüber und versuchte, etwas durch die Scheiben zu erkennen aber ich sah nichts. Dieses Nichts war auch das einzige was mich wunderte. Denn ich sah überhaupt nichts. Keine Bewegung, kein Geräusch. Was war, wenn es ihm nicht gut ging oder mit ihm etwas passiert war? Ich ging ein paar Meter vor, um einen besseren Blick zu bekommen. Als das aber auch nichts half, näherte ich mich seinem Auto und hoffte wieder durch die Fensterscheiben etwas zu sehen, das man auch erkennen konnte. Ich sah seine dunkelblonden Haare gegen die Fahrertür gedrückt. Sein Kopf und sein Oberkörper lagen ebenfalls gegen die Tür gedrückt und sein Gesicht konnte man nicht richtig erkennen, da sein Kopf geradeaus herunter hing. Ich trat vor die Autotür und öffnete sie vorsichtig.
Als ich sie öffnete, traf mich fast der Schlag. Sam kippte mit der Tür, kopfüber zur Seite. Schnell bückte ich mich um ihn zu stützen, bevor er auf den kalten Schotter aufschlagen würde. In dem Moment wachte er auf und sah mich müde geschockt an. Nicht das ich nicht auch geschockt war, aber viel mehr froh, dass ich ihn noch rechtzeitig erwischt hatte. Ich hievte seinen Oberkörper hoch, so dass er wieder halbwegs gerade auf seinem Sitz saß. Aber er bemühte sich sofort wieder aus dem Auto heraus zukommen. Er nahm schnell seine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Bevor er die Tür zuschlug, stützte er seine Arme auf ihr und vergrub darin sein Gesicht. Dann machte er sich daran, durch seine Haare zu streifen, die etwas verstrubbelt wirkten.
Sam drehte sich zu mir und zupfte sich seine Jacke zurecht. Sein Gesicht war bleich. Ich wollte nicht wissen, wie lange er in diesem Auto geschlafen hatte. Gerade bei diesen kühlen Temperaturen am Morgen.
„Ich sehe nicht besonders gut aus, oder?“
Diese Frage verstand ich irgendwie nicht. Sam schlief in einem unterkühlten Auto vor der Schule und sah so bleich aus, wie Matt eigentlich als Vampir aussehen sollte. Und da fragte er mich, ob er gut aussah?
„Ähm.“ Ich wusste nicht genau, wie ich es beschreiben sollte. „Naja. Bis auf die Tatsache, dass du für eine Weile keine Wärme mehr an dich gelassen hast und Nosferatu persönlich sein könntest, geht es. Aber wo wir schon mal dabei sind. Wieso?“
Er knallte die Autotür zu und lehnte sich gegen den Wagen. Dass er erschöpft war, war ihm anzusehen.
„Gestern habe ich Chris, freundlich wie ich bin, beigestanden, Mathe so gut wie möglich zu verkraften und er hat so bekanntlich seine eigenen Methoden. Um es kurz zu fassen, wir haben uns über sechs Stunden Filme reingezogen und ich bin dann gegen ein Uhr nachts nach Hause gefahren. Bin dann aber noch im Auto eingeschlafen, um sieben Uhr aufgewacht und habe gedacht, ich hätte die Schule verpasst. Also bin ich sofort hierhin gefahren und bin wieder eingeschlafen, als ich bemerkt habe, dass keine Menschenseele da war.“
Er ballte seine Hand zu einer Faust. „Wenn ich Chris in die Finger kriege!“
Wir beide mussten lachen. Er fuhr sich noch einmal durchs Gesicht, dann gingen wir wieder dahin wo ich hergekommen war. Im Gegensatz zu eben war Emma aber nicht mehr allein. Neben ihr, ein Hörnchen essend essen, stand Chris. Ich schaute an Sam runter auf seine Hand, um sicherzugehen, dass er sie gelockert hatte. Er wirkte im Vergleich zu gerade sehr locker. Seine Mundwinkel zogen sich hoch, als er Chris erblickte und voller Schadenfreude immer schneller auf ihn zuging. Ich musste fast joggen um mit ihm Schritt zu halten. Als er uns beide bemerkte, winkte er uns vergnügt mit der Brötchentüte zu. Entweder er war heute sehr gut gelaunt oder er hatte zu tief ins Glas geschaut. Da er aber, zu unser aller Verwunderung, kein Alkohol trank, ging ich mehr von meiner ersten Vermutung aus. Horror schien ihm danach richtig gut zu tun.
„Sam, ich hab dich schon überall gesucht. Wollte mich bei dir für gestern Abend revanchieren. Siehst aber nicht besonders gut aus.“
Sam stieß ihn heftig gegen die Schulter, so dass das Hörnchen, wäre es in der anderen Hand gewesen, leicht heruntergefallen wäre. Das Jungen so etwas als Spaß oder brüderlich bezeichneten war mir ein Rätsel.
„Willst du mich verarschen? Wieso um alles in der Welt, siehst du so aus wie immer? Als ob ich der einzige wäre, der die halbe Nacht durchgemacht hat.“
Chris lachte nur und biss in sein Hörnchen. „Das liegt einfach daran, dass ich das fast jeden Tag mache und mich daran gewöhnt habe. Außerdem finde ich es nur gerecht das, wenn einer von uns leiden muss, auch der andere dran ist. Ich musste in der Schule leiden und du dafür die Nacht durch. Nicht zu vergessen die knapp sechs Stunden, die du dich, mitfühlend wie du bist, für mich geopfert hast um mit mir meine Favoriten zu sehen.“
Sam zeigte mit seinem Zeigefinger auf ihn. „Du hast so sehr Glück, dass ich mir nicht noch vorgestellt habe, ich werde von Geistern verfolgt.“
Emma und ich verbargen unser Grinsen noch gerade so. Ich konnte ihn zu hundert Prozent verstehen, mir würde es nicht anders gehen aber wie er es schilderte, war einfach nur lustig.
Auch wenn es mir meine Noten sicherlich nicht dankten, verbrachte ich den ganzen Unterricht damit, mit Emma zu reden und, wenn wir nicht direkt nebeneinandersaßen, uns Zettel hin und her zu schreiben. Es gab zwei Gründe, weshalb ich das machte. Erstens, ich genoss das Gefühl, endlich mal wieder alles mitzubekommen, was außerhalb meines und Matts Haus‘ geschah. Zweitens, ich wollte wieder voll und ganz für Emma da sein. Auch wenn man es ihr nicht direkt ansah, und ich eigentlich Victoria oder Shaynia namentlich benennen sollte, war sie doch der zerbrechlichste Mensch in meinem Leben. Wenn ich eines an Menschen hasste, dann war es, dass sie eine Hülle um sich bauten, um sich vor der Realität zu schützten. Um nicht verletzt zu werden.
Und genau das tat Emma, aber genau das machte sie für mich so zerbrechlich. Und normalerweise hätte ich es ihr seit sechs Jahren übel nehmen können aber ich hatte kein Recht dazu, denn es war noch nicht so lange her, dass ich genau dasselbe Problem hatte. Ich benahm mich zwar nicht anders, als sie war. Ich aber versuchte alles, um das zu verbergen, was ich war und was ich nicht an mir akzeptierte, weil es so anders war, als alle anderen. Ich wusste nicht, wie ich es genau anstellen wollte, aber ich hatte das Ziel, irgendwie an sie heranzukommen, dass sie sich mir öffnete, wenn auch nur mir, für ein paar Sekunden. Denn alles in sich rein zu fressen, war auch keine Lösung. Also tat ich das Beste, was ich ihr tun konnte und verabredete mich für den nächsten Tag mit ihr. Ich tat es aber nicht per Zettel oder flüstern, sondern, als die Schule vorbei war. Ich dachte mir, wer auch immer mich abholte, fünf Minuten länger könnte er auch warten, denn in diesem Moment ging mir Emma über alles.
Und es erwies sich als ausgesprochen klug, sie erst nach der Schule darauf anzusprechen, denn kaum hatte ich den Satz beendet, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie riss mich bald nieder, als sie mich umarmte. In diesem Moment durchdrang mich vielleicht das stärkste Glücksgefühl seit eh und je. Ich hatte Emma für einige Zeit auf andere Gedanken gebracht. Das erste Mal musste sie sich keine höllischen Sorgen um ihre Mom machen. Sie war, neben Sam, der einzige Mensch, dessen Gedanken ich lesen konnte, sie praktisch neben mir flüstern hörte, und ich wusste genau, dass sie schon längst plante, was wir morgen machen sollten. Als sie mich aufgeregt fragte, stoppte ich sie sofort, sie solle sich nicht den Kopf darüber zerbrechen.
„Wir müssen ja nirgends hingehen. Wir können uns vielleicht Filme angucken oder auch nur reden“, schlug ich ihr vor, im Hinterkopf, dass ich unbedingt mit ihr reden musste.
„Ja, klar, können wir machen“, sagte sie ganz aus dem Häuschen.
Sie freute sich tierisch darüber, dass ich wieder Zeit für sie hatte und vor allem, dass es von mir kam. Ich sah ihr noch nach, wie sie strahlend bei ihrem Dad einstieg, was meine Freude darüber, sie mal wirklich glücklich gemacht zu haben, nur noch verstärkte und ich es sofort Matt erzählte, als ich bei ihm einstieg. Aber aus irgendeinem Grund war er angespannt und konnte meine Freude nicht teilen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er darauf wartete, dass ich im Thema Victoria endlich nachgab und freiwillig wieder zu ihr wollte. Da würde ich ihn dieses Mal nicht enttäuschen.
„Fahr mich bitte zu Victoria“, bat ich ihn und es half tatsächlich … etwas.
Aber als ich den Satz ausgesprochen hatte, schwieg er nur noch. Ich wusste nicht, was das sollte und wollte ihn gerade fragen, als er ruckartig bremste. Entgeistert über seine Vollbremsung, sah ich mich in der Gegend um. Es war schon meine Straße. Wie schnell war er um Himmels willen gefahren? Und warum hatte ich davon nichts bemerkt? Ich musterte das Haus, das links neben uns lag und ich erkannte es sofort. Die vielen unterschiedlichen Blumen im Vorgarten, die Holzbank neben der Tür und den gläsernen Balkon unter dem Dach. Dort wohnten Mr. und Mrs. Hunter, ein älteres Ehepaar. Mr. Hunter hatte ein Familienunternehmen, das sich auf Baumärkte bezog. Alle unsere Bäume und Pflanzen und der Dünger für den Rasen und die Gebüsche, stammten von ihm. Vor ein paar Monaten ging er in Rente und sein Sohn Jonas übernahm die Leitung. Sie wohnten nur drei Häuser von unserem weg, also hätte Matt es sich theoretisch auch sparen können, hier zu parken.
„Steigst du bitte aus“, sagte er kühl.
So kühl, dass ich mich fast erschrak. Was war nur mit ihm los?
„A a b e r  du kannst doch noch die paar Meter fahren.“
„Steig aus!“, befahl er mir.
Auch wenn ich nicht gehorchen wollte, tat ich es. Denn was für eine andere Wahl hätte ich denn schon gehabt? Mich etwa mit ihm streiten, gerade, wo er doch so super gelaunt war? Garantiert nicht. Ich stieg aus und ging vorne um das Auto herum, auf den Bürgersteig. Sofort, als ich mich nicht mehr auf der Straße befand, düste er ohne ein weiteres Wort oder einen weiteren Blick davon. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Gerade eben, war alles noch ok. Emma war glücklicher denn je und ich freute mich, Victoria wiederzusehen. Wieso musste er jetzt alles komplett auslöschen? Klar, bei Emma blieb alles unverändert, aber seine schlechte Laune wirkte sich auch auf mich aus, und auf einen Schlag freute ich mich zwar schon noch meine Mom wiederzusehen, aber nicht mehr so wie vorher. Innerlich freute ich mich schon, aber das war mir von außen nicht mehr ganz anzusehen, das merkte ich.
Mit schnellem Gang überquerte ich den restlichen Weg und stand plötzlich vor unserer Tür. Aus meiner Tasche zog ich den Schlüssel und schloss die Tür auf. Letztendlich musste ich doch schmunzeln, als ich meine Mom auf der Couch entdeckte und mich auf ihr verdutztes Gesicht freute. Sie las in irgendeiner Zeitschrift und hatte ihre Lesebrille aufgesetzt.
„Hallo Mom“, begrüßte ich sie.
„Ist mit dir alles ok?“ Entgeistert nahm sie ihre Brille ab und beäugte mich.
„Ja, was sollte sein“, sagte ich und zog meine Jacke aus.
„Du hast gerade Mom zu mir gesagt!“
Völlig überrumpelt von meinen Worten folgten mir ihre Augen auf Schritt und Tritt.
„Bist du das nicht auch?“, fragte ich.
„Natürlich bin ich deine Mom! Aber wieso sagst du das zu mir?“
„Ich dachte ich probiere mal was Neues aus.“
Ich schnappte mir meine Tasche und begab mich in Richtung Treppe.
„Das freut mich“, sagte Victoria leicht gerührt.
Eigentlich war meine Absicht gewesen, ihr Freude zu bereiten und nicht, dass sie in Tränen ausbrach.
„Aber gewöhn dich nicht dran“, fügte ich hinzu, um es etwas zu glätten.
„Garantiert nicht!“, lächelte sie.
Dann machte ich mich die Treppe hoch um mich wieder in meinem Zimmer zurechtzufinden. Die Tür ließ ich extra auf, denn ich hatte auf dem Weg hierhin Schritte aus dem Wohnzimmer gehört und rechnete damit, dass Victoria wohl in nicht mal mehr zehn Sekunden im Rahmen stehen würde. Rasant griff ich mein Biologiebuch vom Schreibtisch, ließ mich auf mein Bett fallen und schlug einfach eine Seite auf, so dass es aussehen würde, als ob ich lernte, wenn sie reinkam. Keinen weiteren Augenblick später hatten mich ihre Blicke schon erfasst. Ich saß im Schneidersitz in der Mitte meines Bettes und betrachtete eine große Zeichnung auf einer der Seiten, die aufgeschlagen auf meinen Knien lagen. Der Nahrungskreislauf war darauf abgebildet.
War nur noch die Frage, wer gleich von wem gefressen würde.
„Katrin“, bat sie um meine Aufmerksamkeit. Diese hatte sie, als ich meinen Kopf zu ihr wandte. Ich hoffte, sie würde diese Gelegenheit mal nutzen und mich nicht wieder enttäuschen. „Ich wollte mich für mein Benehmen dir gegenüber in den letzten Wochen und Jahren entschuldigen. Du hast ja recht. Ich gebe nie sehr viel über deinen Dad preis“, sie stockte, „Weil bei mir dann alle Erinnerungen wieder hochkommen. Aber bitte denk nicht, dass ich das nur mache, um dir wehzutun. Das war nie meine Absicht.“
„Schon ok“, wollte ich das Gespräch abbrechen, weil ich wusste, dass es sowieso nichts änderte. Und ich wollte Veränderungen. „Vergessen wir das Thema einfach.“
„Nein Katrin. Ich will es nicht nur bei einer Entschuldigung belassen. Ich will meine Worte in Taten umsetzen. Sonst wäre ich wirklich keine gute Mutter.“
„Dann sag bitte“, hetzte ich sie, „Mach mir bitte keine zu großen Hoffnungen.“
„Das tue ich nicht.“
Ich ahnte, dass da nicht mehr viel kommen würde. Gerade, wenn es um dieses Thema ging, galt es bei ihr immer, große Worte und nichts dahinter. Daher hatte ich mich schon bei dem Gedanken, ich würde nach Hause kommen und sie würde mir eine Predigt halten wollen, daran gewöhnt, nichts Neues oder Hilfsreiches zu erfahren.
Aber dann lief es anders als erwartet.
Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu zögern, brachte Victoria einen Namen hervor. „Anthony.“
Perplex blickte ich sie an. Jetzt musste dieses Wort nur noch einen, für mich erkennbaren Sinn ergeben. Dann wäre ich sicher so glücklich über diese eine Information, auch weil sie von Victoria höchstpersönlich war und nicht von Matt, dass ich ihr das Schweigen der letzten Jahre verzeihen würde. Aber ergab es überhaupt einen Sinn?
„Anthony?“, ich starrte sie argwöhnisch an und sie nickte. „Wer oder was ist Anthony?“ Die Antwort kam überraschend schnell und mit ihr wurde eine weitere Karte im Spiel, was ich mein Leben nenne, aufgedeckt. Eine von tausenden Karten, von denen erst ein paar hundert aufgedeckt lagen.
„Anthony, so heißt dein Dad.“
Ich musste augenblicklich lächeln. Anthony. Anthony und Victoria. Das ergab einen Sinn. Diese Namen passten zusammen, wie die Faust aufs Auge - war kein guter Vergleich aber es stimmte. Ich lächelte sie dankbar an.
„Danke … Mom.“
Sie verzog sofort den Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Weinte sie gleich wirklich oder was hatte ich falsch gemacht?
„Bitte, bitte, bitte Katrin. Ich finde es schön, dass du mich mal Mom nennst, es war ja auch mein Wunsch gewesen aber jetzt, wo es raus ist, wünsche ich mir, dass du wieder damit aufhörst oder es seltener sagst … bitte!“
Ich fing an zu lachen. „Kein Problem, Victoria!“
Sie kam auf mich zu und drückte mich ganz fest. So fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam aber das spielte jetzt keine Rolle. Es war eine Versöhnung, die schon längst überfällig war und es gab keine bessere, als diese.
Als sie mich fragte, wie es bei meiner Gastfamilie denn so war, verriet ich nicht sehr viel. Eigentlich erwähnte ich nur den Blätterkranz und, auch wenn es nicht dazugehörte, meine Klausur.
„Ich habe sie Lucan gezeigt“, sagte ich.
„Ich weiß. Er hat mich angerufen. Und ich finde es echt erstaunlich, wie wenig deine Noten bei dem ganzen Stress in letzter Zeit leiden.“
Das war ich auch. Wobei es mir nichts ausgemacht hätte, wenn ich mich etwas verschlechtert hätte, denn für mich war Schule seit zwei Wochen zweitranging geworden, auch wenn es nicht so sein sollte. Aber ich konnte zumindest froh sein, dass wir die Klausur geschrieben hatten, bevor ich Matt das erste Mal sah. Und auch, dass wir seitdem keine besonders großen Tests mehr geschrieben hatten. Ich erzählte ihr auch von meiner morgigen Verabredung mit Emma und sie war nicht nur um das tausendfache begeisterter als Matt, sondern strahlte übers ganze Gesicht und flippte vor Freude sogar fast so sehr aus, wie Emma vorhin.
Bevor sie das Zimmer verließ um mich meine Aufgaben machen zu lassen, winkte ich sie nochmal zurück.
„Victoria?“
Aufmerksam drehte sie sich nochmal zu mir.
„Danke. Danke für Anthony.“
Sie lächelte, glücklich darüber, dass wir uns wieder einigermaßen gut verstanden.
„Das ist das Mindeste.“
Dann machte sie sich wieder an ihre Arbeit und schloss die Tür hinter sich, so dass ich ganz ungestört war. Die Hausaufgaben fielen mir an diesem Tag sehr schwer. Ich wusste zwar alles was ich machen sollte, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Mir schwirrte immer nur ein Name im Kopf. Anthony. Ich war wegen diesen sieben Buchstaben so aufgebracht, dass ich einen ganzen Aufsatz in Nullkommanichts nur über diesen Namen und die Gefühle, die er in mir auslöste, hätte schreiben können.
Jetzt wird sich alles verändern, dachte ich.
Nicht, dass ich oder mein Umfeld nicht mehr dasselbe sein würden. Ich bekam andere Sichtweisen, andere Perspektiven. Mit Dad nannte fast jedes Kind seinen Vater beim Namen. Es war nichts weiter als ein einfacher Spitzname. Jetzt musste ich ihn aber nicht mehr als Dad bezeichnen, sondern wusste, wie ich ihn gedanklich und real ansprechen konnte, und wie andere es taten und getan hatten. Er war nicht mehr nur ein Dad. Er war mein Dad, Anthony Bell. Ich war den Spuren der Identität meines Dads näher gerückt. Die gewaltigste Wirkung nahm das auf meine Träume. Ich träumte diese Nacht hunderte von Träumen.
Als ich am Morgen aufwachte, konnte ich mich zwar an fast nichts mehr erinnern, aber etwas blieb. Anthony. Es war kein einziger Moment vergangen, in dem mir irgendeine Stimme nicht seinen Namen zuflüsterte. Sogar noch als ich die Augen aufschlug war sie da, jedoch viel leiser. Ich lag noch fünf Minuten reglos in meinem Bett, während die Stimme immer leiser wurde und schließlich verstummte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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