Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-13Kapitel-Ein schlimmer Verdacht-S.244-253

Ich spürte langsam meinen Kopf wieder pochen. Eine Hand fuhr mir durch die Haare und nahm mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mit noch immer zittrigen Händen versuchte ich, die Hand so schnell wie möglich zu greifen, damit sie nicht noch einmal einfach so verschwand. Ich musste nicht lange herumfuchteln bis ich sie anfasste. Die Hand fühlte sich aber nicht leicht und glatt an. Ich strich über Haut, Knochen und Adern. Dass die Hand aufgehört hatte sich zu bewegen, ließ ich unwichtig an mir vorbeistreichen. Bei dieser Hand fühlte ich mich noch sicherer. Sie wirkte stark und kraftvoll aber doch zart und weich.
Ich öffnete die Augen millimeterweise. Das Licht blendete mich zwar aber es war wieder ein neues Licht. Es kam mir bekannt vor. Den ganzen Raum kannte ich … und den Jungen, der neben mir auf dem Bett saß und mich hoffnungsvoll anlächelte. Es war wieder einmal Matt. Wie das letzte Mal, als ich in Trance war und er die einzige Person im Zimmer. So war er es auch jetzt. Langsam ließ ich seine Hand los und wartete nur darauf, dass er etwas sagte. Aber ich gab es schnell wieder auf und machte mich selber daran, obwohl ich keine richtigen Worte fand.
„Blute ich am Kopf?“
Er schüttelte den Kopf. „Du hast über dem Ohr zwei leichte Kratzer aber ansonsten kein Blut oder blaue Flecke.“
Gefühlsmäßig konnte ich mir das nicht vorstellen, nach dem was ich gerade alles erlebt hatte.
„Was ist mit mir passiert?“
Er räusperte sich und schaute kurz zur Tür. „Du bist gestern Abend zu uns gekommen und hast…“
„Jaja“, unterbrach ich ihn, „ich weiß noch, dass ich mit dir reden wollte und du mich auf dem Weg zu deinem Zimmer gegen jede mögliche Wand geworfen hast. Ich weiß zwar nicht warum, aber du wirst dafür bestimmt einen guten Grund gehabt haben!“
Sein rechtes Auge zuckte kurz. „Glaubst du es hat mir Spaß gemacht dich so durch das Haus zu schleifen! Als du gegen die Wand geprallt bist, glaubst du dein Anblick hat mir Freude bereitet? Am liebsten hätte ich dich getragen aber dafür war keine Zeit.“
„Was meinst du mit, es war keine Zeit?“
Er nahm einen kleinen Beutel mit zerschlagenen Eiswürfeln, der die ganze Zeit neben mir gelegen hatte, verpackte ihn schnell in ein blaues Küchentuch, welches unter dem Eisbeutel lag und legte ihn mir vorsichtig auf die Stirn.
„Du bist zwar nicht mehr ganz so heiß wie gestern, aber ein Mal mehr kann auch nichts schaden. Außerdem ist es besser, wenn du etwas Abkühlung hast, während ich dir die Geschichte erzähle.“
Ich starrte ihn nur an, hoffend, dass die Geschichte harmloser war als ich dachte.
„Willst du die lange Geschichte oder die kurze Zusammenfassung hören?“
Da musste ich gar nicht lange überlegen. „Die Zusammenfassung bitte.“
Denn falls sie wirklich schlimm war, konnte mir der Rest erspart bleiben. Matt fasste sich aber wirklich kurz.
„Tyrece ist näher an dir dran als wir dachten.“
Ich bereute es, nur diesen einen Satz von ihm zu hören.
„Doch lieber die lange Geschichte.“
Nach dem Eisbeutel folgten eine Flasche Mineralwasser und ein Glas. Vorsichtig aber schnell füllte er das Glas, dann sah er wieder zu mir, das Glas in der Hand.
„Setz dich auf.“
Gerechnet hatte ich mit einem schmerzenden Rücken oder einer gebrochenen Rippe, aber als ich meinen Körper musterte, sah nichts gebrochen oder blutig aus, auch nicht großartig versorgt. Ich musste beginnen Matt zu vertrauen und das ohne Hintergedanken. Er reichte mir das Glas so, dass ich in einer Hand den Eisbeutel hielt und in der anderen das Glas. Wieder schaute ich ihn an. Dann begann er endlich zu erzählen, wenn auch nicht sonderlich begeistert.
„Kyran hat vorgestern jemanden draußen gesehen. Das heißt, er weiß nicht, ob er es sich nur eingebildet hat oder nicht. Aber wir müssen davon ausgehen, dass es keine Einbildung war … denn der Junge, den er in einem Auto sah, hat …“
Er beugte seinen Kopf nach unten, als würde er die restlichen Wörter nicht übers Herz bringen. Ich stockte. Ich erinnerte mich an Sams Worte und den Jungen, den er im Auto sitzen gesehen hatte. Davon hatte ich ihm noch nichts erzählt. Vielleicht tat ich es auch nicht mehr zusätzlich, denn, wer wusste, welcher Ärger mir dann blühte.
„Was ist mit ihm?“
Dies war wirklich kein guter Moment um Pausen einzulegen.
„Wir vermuten, dass es mein Cousin war. Er heißt Luke Fawkes und ist der Adoptivsohn von Tyrece, wie du ja schon weißt. Dass er in die Richtung unseres Hauses geschaut hat heißt, sie haben uns im schlimmsten Fall gefunden und wenn, wissen sie auch, dass das hier einer deiner Aufenthaltsorte ist. Ich habe dich durch das Haus gezerrt und war so schockiert darüber, dass du gerade um diese Uhrzeit kommen musstest, weil wir nicht wussten, ob wieder jemand in der Nähe war und dich beobachtet hat. Also bitte komm, wenn es dunkel ist, ja nicht mehr alleine hierhin oder überhaupt irgendwohin. Versprich mir das.“
Er hatte einen ernsten Ton.
„Das tue ich.“
Wenigstens ein kleines Lächeln bekam ich noch aus ihm heraus. In drei Schlucken trank ich das Glas leer und gab es ihm mit dem Eisbeutel zurück. Das Eis hatte deutlich geholfen.
„Ich habe plötzlich keinen Boden mehr gespürt. Was ist überhaupt passiert und wie lange habe ich geschlafen?“
Sein Lächeln wurde immer breiter. „Du wurdest auf einmal ganz heiß und nachdem du gegen die Wand geschleudert bist, konnte ich dich wie einen Sack hinterher schleifen. In dem Moment war ich in Panik, deswegen bin ich auch so gerannt. Vor meinem Zimmer habe ich dich in die Arme genommen und auf das Bett getragen. Eigentlich warst du schon im Flur so gut wie weggetreten und liegst nun hier seit fast genau einem Tag.“
Der Schock war mir förmlich anzusehen. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Sie waren etwas durchnässt. Bestimmt hatte ich erst nachdem ich aufgewacht war aufgehört zu schwitzen, oder kam es vom Eisbeutel?
Unerwartet erinnerte ich mich wieder an meinen Traum. „Ich hatte einen Traum.“
Seine Mimik wurde fragend. „Einen Traum?“
Schnell versuchte ich ihm möglichst alles zu erzählen, in der Hoffnung, es wäre wichtig. „Ich war im Nichts. Alles war schwarz. Da war die weiße Hand und Stück für Stück hat sich an ihr ein Ring gebildet.“
„Ein Ring.“
„Ja.“
Sein Gesicht verfinsterte sich wieder. „Wie sah der Ring aus.“
„Oval. Er war dunkelrot mit schwarzen Flecken und weiß, wie Nebel. Am Rand hatte er silbernes Metall. Und die Hand hatte schwarze Nägel.“
Was sich in seinem Gesicht abspielte war der blanke Horror. Er saß starr da, ohne etwas zu sagen und das hieß nichts Gutes. Matt stand auf, fuhr mit einer Hand unter meine Beine und mit der anderen packte er meinen Rücken. Ich verlor erneut den Boden und umklammerte mit meinen Händen seine Schulter. Was hatte er plötzlich mit mir vor?
„Wohin gehen wir?“
„Ich bringe dich in Kyrans Zimmer.“
Er trug mich schnell. In diesem Flur ging jeder schnell. Die Tür, die zu Kyrans Zimmer führte stand bereits offen. Matt ließ mich wieder am Bett ab.
„Ich sage Kyran Bescheid, dass er sich weiter um dich kümmert. Außerdem muss ich noch mit meiner Mom sprechen. Den größten Gefallen, den du mir machen kannst, ist heute nicht mehr dieses Zimmer zu verlassen und wenn, nur unter Aufsicht. Kyran wird dich dann morgen mit zur Schule nehmen.“
Ohne sich umzudrehen verschwand er hinter der Tür.
„Warte!“, rief ich ihm noch hinterher, aber das schien er schon gar nicht mehr zu hören. Ich war völlig aufgebracht. Wie konnte er mich jetzt alleine lassen - wenn auch nur bis Kyran kommen würde. Was war mit der Hand, hatte ich etwas Falsches gesagt? Und wie konnte er an Schule denken! Privat drehte sich bei mir alles im Kreis und gerade jetzt, wo es noch andere Sachen gab, die ich erledigen und mit denen ich zu recht kommen musste. Nach Ernst folgte Strahlen. So strahlend, dass ich die bevorstehenden Probleme an mir vorbeiziehen ließ. Egal was man machte, egal wo man es machte, egal wann man es machte, er sorgte immer für gute Laune. Ernst konnte er auch sein, aber ich hatte ihn dabei noch nie gesehen. Selbst in Shaynias Gegenwart nicht. Viele, die ich vom Sehen her kannte, verbargen ihre Gefühle und zeigten von außen eine heile Welt. Bei ihm war es anders. Ich merkte, dass er wusste, dass etwas nicht stimmte. Matt sah man es schon auf den ersten Blick an. Aber ich brauchte jetzt jemanden, der mich ablenkte. Da kam er mir gerade recht. „Und geht es dir besser?“, fragte er gut gelaunt, als er durch die Tür schritt und sich zu mir aufs Bett setzte.
„Auf jeden Fall besser als bei meinem Zusammenbruch. Im Gegensatz zum Nirvana gibt es hier wenigstens ein paar Menschen.“
Er legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.
„Glaub mir, solange ich bei dir bin, wird dir nicht mehr so schnell langweilig werden.“ Meine Mundwinkel zogen sich zur Seite. „Das hoffe ich.“
Er löste seine Hand und ließ sie auf das Bett fallen.
„Ich weiß das sogar!“
Von diesem Zeitpunkt an war meine Laune wieder besser. Sehr viel besser. Kyran schaffte es einfach immer wieder. Genau jetzt, wo ich einigermaßen in das Hier und Heute zurückkam, durchdrang mich ein fürchterliches Stechen in meiner Magengegend. Das Grinsen verging mir so schnell, wie ich auf seinen Humor reagiert hatte.
„Ihr habt nicht zufällig etwas zu Essen im Haus?“
Als er merkte wie ich ernster wurde, stand er sofort auf und marschierte zur Tür.
„Kyran.“
Als ob er es geahnt hätte, drehte er sich um.
„Wie wäre es mit Spareribs für die Muskeln, Obst fürs Blut und Wasser für den Kreislauf?“
Trotz meiner Schmerzen wurden meine Lippen wieder weicher.
„Hört sich gut an.“
Er machte einen kleinen Sprung nach vorne, streckte beide Zeigefinger auf mich und kniff sein rechtes Auge zu.
„Genau das wollte ich hören.“
Zufrieden verließ er das Zimmer. Kyran musste sich beeilen.
Was Matt wohl denkt, wenn er mich hier sieht, dachte ich mir.
Es war, auch wenn ich nicht wusste warum, ein amüsierender Gedanke. Aber ich wollte ihn keineswegs wahr werden lassen. Überhaupt die Situation war dafür höchst unangemessen. Also hieß es warten. Heißt, der Körper bewegt sich nicht, liegt, sitzt oder steht minutenlang einfach nur da, welche einem wie Stunden vorkommen. Wenn man allerdings aus reiner Vorfreude, wie in meinem Fall wartete, verging die Zeit noch langsamer. Das dachte ich zumindest. Nachdem ich schnelle Schritte die Treppe hochgehen hörte, trafen sich unsere Blicke, binnen Sekunden. Wie immer zeigte sein Gesicht Strahlen. Nun aber nur seine Augen. Der Rest war voll und ganz dem Essen zugewannt. Genau wie ich. In seiner rechten Hand hielt er den Teller mit den Spareribs. Sie sahen schön knusprig aus. Die linke trug den Teller mit Obst. Es wirkte wie eine bunte Wiese mit Obst, über das man sich schon freute, wenn man es nur zu Gesicht bekam. Ich hatte es aber tausendmal besser getroffen, ich bekam es serviert. Zwischen seiner linken Brust und seinem linken Oberarm versuchte er eine Flasche einzuklemmen. Bisher mit Erfolg, noch war sie nicht abgerutscht. Auf dem Flaschenhals steckte ein umgedrehtes Glas.
„Am besten fängst du mit dem Obst an. Dein Körper braucht jetzt dringend Vitamine, und du hast danach wesentlich mehr Appetit auf Fleisch.“
Kyran stellte das Fleisch auf den kleinen Tisch auf meiner Bettseite, sowie das Glas und die Flasche. Dann hockte er sich auf exakt den gleichen Platz von vorhin und legte mir den Teller voller Obst auf meine Oberbeine, obwohl ich hilfsbereit meine Hände ausgestreckt hielt, um den Teller anzunehmen. Man sah ihm an, dass er sich Mühe gab, welche ich der ganzen Familie mehr als je zuvor anerkannte. Äpfel, Pflaumen, Birnen, Mirabellen und, Feigen. Das reinste Paradies für einen Vegetarier. Aber etwas stimmt nicht.
„Tut mir leid. Ich esse keine Pflaumen.“
Hungrig nahm er sich eine Pflaume. „Ich aber, und mir tut es nicht leid.“ Eine weitere Frucht folgte. „Im Gegenteil. Niemand in diesem Haus mag Pflaumen außer Matt und meine Wenigkeit. Zu meinem Triumpf darf ich sie immer tonnenweise essen, weil Matt eigentlich nicht so oft etwas isst. Nicht zu vergessen darf ich die restlichen Pflaumen, welche für dich bestimmt waren, auch essen. Da sage ich nur, danke Katrin!“
„Bitte.“
Nachdenklich kaute ich auf einer Birne herum. Matt aß nicht viel und selten, das war mir inzwischen bekannt, aber wie konnte er damit auf Anhieb durchkommen? In solchen Fällen bekam ich, wie eben, Bauchkrämpfe. Was war mit ihm? Als einer von ihnen würde er bestimmt nicht einfach so umfallen, nur weil er unterernährt war.
„In wie fern meinst du dass er wenig isst?“
Mittlerweile hatte er sich auch an den Mirabellen und Feigen bedient. Ich fragte mich für wen das Essen gedacht war.
„Er isst ja aber nicht so viel. Einen Toast und einen Apfel wenn es hochkommt. Dafür trinkt er aber sehr viel. Mindestens vier Liter am Tag, meistens fünf.“
„Ich dachte, ihr ernährt euch wie normale Menschen.“
Wieder ein Apfel weniger auf dem Teller.
„Erstens, sind wir normale Menschen! Zweitens, ist es nicht meine Strategie. Ich lebe mit viel Nahrung, er mit wenig. Jeder wie er will.“
Die nächste Mirabelle verschwand in seinen Händen. Je hungriger man wurde, desto schneller war man schlecht gelaunt. In dieser schlechten Laune fand ich selbst Kyrans Scherze nicht mehr witzig.
„Kyran, das sind meine Mirabellen! Wenn du Hunger hast, geh doch runter und hol dir den Rest Obst.“
Nun verschwand eine weitere Pflaume.
„Würde ich zu gerne, aber Matt wird mir den Kopf abreißen und dieses Risiko möchte ich nur ungern eingehen. Für mich ist man nämlich nur lebendig, wenn man einen Kopf hat.“ Ich ärgerte mich über sein Verhalten, das Verhalten, was ich vor einer halben Stunde noch witzig fand. Nach drei Birnen und zwei Feigen wurde ich innerlich wieder ruhiger.
„Ihr könnt doch auch ohne Kopf weiterleben, oder?“
Die letzte Pflaume aß er genussvoll. „Theoretisch könnten wir das. Der Haken dabei ist, dass es noch nie jemanden gab, der das ausprobiert hat, und ich will sicher nicht Versuchskaninchen spielen. Wenn ich danach wirklich keinen Kopf mehr haben sollte, könnten die Leute sonst was mit mir machen, damit mir das Leiden nichts zu sehen, nichts zu schmecken, nichts zu essen, nichts zu riechen und nichts zu hören erspart bleibt. Bei Matt weiß man nie wo man dran ist. Das hat Vorteile aber meistens, eigentlich immer Nachteile.“ Inzwischen lagen auf dem Teller nur noch Mirabellen. Ich wartete auf Kyrans gierige Hand aber er hielt sie zu meiner Enttäuschung bei sich. Einzig und allein sein Blick beharrte auf der gelben Frucht. Bis seine Augen auf meine trafen und sich sein Gesicht versteinerte. „Du magst keine Mirabellen.“
Es war viel mehr eine Feststellung als eine Frage.
Ich schüttelte den Kopf. „Ihr gebt euch immer so viel Mühe und das Gefühl, wenn man es ablehnen muss, weil es einem nicht schmeckt oder man es nicht mag, ist einfach nur schrecklich!“
Ich gab mir große Mühe nicht zu fluchen. Kyran nahm mir den Teller ab und tauschte ihn gegen den mit den Spareribs aus.
„Es ist niemand sauer auf dich nur, weil du etwas ablehnst. Ich mag eigentlich auch keine Mirabellen, was mich sehr erfreut, da normalerweise Mädchen immer das hassen, was ich liebe. Sogar hatte ich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Freundin. Ich war mit ihr sehr glücklich aber sobald es sich herumgesprochen hatte, dass ich eine Beziehung führte, haben sie sie alle gehasst.“
Ich fing mittlerweile an die Geschichten von früheren Geliebten zu hassen und hoffte, Shaynia würde mir ihre, falls außer der Folter noch ein gewisser Junge existierte außer Lucan Cabot, ersparen. Größtenteils lag es bestimmt an der Vorstellung. Ich konnte mir beide mit einem Partner einfach nicht vorstellen. Vor allem nicht Kyran. Dafür liebte er die Freiheit zu sehr. Oder irrte ich mich da etwa? Um es zuzugeben interessierte mich das Ende der Geschichte doch mehr, als ich erhoffte.
„Warum seid ihr nicht mehr zusammen?“
Mir war klar, dass jetzt etwas Trauriges folgte, aber er sah nicht aus wie jemand, der trauerte.
„Sie wurde von ihrem Ex-Freund erstochen. Er hatte das Prinzip, wenn nicht er, dann auch kein anderer. Fünf Tage später hat man ihn erhängt. Bis heute weiß ich nicht, ob das Urteil zu milde oder zu hart war. Anscheinend dachte er, ich würde sie nur ausnutzen aber das stimmt nicht …“
Er blickte mir direkt in die Augen. Seine Augen waren nicht violett. Sie waren blau. Ein glänzendes, reines meeresblau.
„Ich habe sie wirklich geliebt.“
Emotionen stiegen in mir hoch. Vermutlich war das der Grund, wieso ich diese Geschichten hasste. Ich konnte ihn nur noch anstarren.
„Ich habe?“
„Diese alte Redensart, wahre Liebe stirbt nie, gilt nicht für uns. Auf alle Fälle nicht für mich. Es klingt etwas hart aber, wenn ich die Person die ich Liebe nicht mehr greifen kann, nicht anfassen und nur Gedanken und Erinnerungen mit ihr habe, die nach einiger Zeit schon verschwommen sind, kann ich sie nicht mehr lieben.“
Ich überlegte. „Es ist zwar hart und traurig aber andererseits ergibt das Sinn.“
Sein Gesicht lockerte sich auf. „Da bist du die Erste. Ich habe es schon vielen Mädchen erzählt, die fingen an zu weinen und fragten mich, aus welchem Film ich die Geschichte habe und ob es als Horror oder Romanze gedacht sei. Und genau das ist der Grund, weshalb ich seither keine Freundin mehr habe. Würden sie einen Schritt weiter denken, könnte ich sie noch als normal bezeichnen aber so viel Dummheit und wenig Fantasie tun einfach weh.“
Kyran reichte mir die Spareribs. Sie sollten meinen Körper wieder aufbauen und das taten sie auch. Ich schmeckte jeden einzelnen Bissen auf der Zunge, obwohl ich nicht darauf achtete, sondern nur auf das Hinunterschlingen und darauf, dass sich mein Bauch füllte. Es musste komisch aussehen, wie ich da hockte und mir wie ausgehungert ein Stück nach dem anderen in den Mund schob. Kyran gab aber keinen Kommentar von sich, was mich beruhigte. Besser kein Kommentar, als ein schlechter. Nach drei Minuten war der Teller leer und mein Bauch voll. Ich musste mehrere Male tief Luft holen um den Geruch des Fleisches loszuwerden.
Dann führte ich Kyran den Teller wieder vor. Der machte große Augen.
„Du hast einen gewaltigen Appetit.“
„Ich habe seit einem Tag nichts mehr gegessen!“
„Das meine ich ja gar nicht. Ich finde es schön, wenn dir unser Essen schmeckt und ich habe auch für dein Essverhalten vollstes Verständnis.“
Wenn er nur das meinen würde was er sagte. Inzwischen fühlte sich mein Körper wiederbelebt an. Ich wusste was mit mir gestern Abend passiert war und dass ich Angst hatte. Angst wie nie zuvor. Angst vor mir selbst. Die Bilder traten mir vor Augen, den Schrei ließ ich an mir abprallen. Ob sie heute in der Schule gewesen war oder sich überhaupt vor die Tür getraut hatte? Emma wirkte vielleicht stark und kämpferisch, aber in diesen Momenten war sie völlig hilflos und den Leuten ausgeliefert. Sie war überhaupt der Grund dafür gewesen, dass ich hierhin gekommen war. Ich hoffte auf Matts Hilfe, aber er hatte mich nicht zu Wort kommen lassen und später bekam ich keine Möglichkeit mehr mit ihm darüber zu sprechen, da ich für einige Zeit in einer anderen Welt gefangen wurde und aus dieser Welt wahrscheinlich eine Gefahr kam, die sich mit der im realen Leben verbunden hatte. Möglicherweise wusste Matt jetzt Bescheid und hatte auch Kyran darüber informiert. Ein Versuch war es wert.
„Der Grund, weshalb ich gestern hierhin gekommen bin, ist …“, fing ich an und sah zu Kyran um sicherzugehen, dass er mir zuhörte. Das tat er. „… dass ich einen Fehler gemacht habe. Victoria hat mir gesagt, dass ich es früher oder später bereuen werde, die Zauberin in mir zu ignorieren. Ich wusste, dass ich es nicht mehr lange verhindern konnte, aber ich habe noch mit ein paar Monaten mehr gerechnet. Danach wollte ich einzelne Übungen anfangen um mich noch auf dem normalen Weg eines Mädchens zu befinden. Die ganze Zeit ist nichts und dann ausgerechnet, wenn ich mich einmal mit Emma treffe, muss es passieren. Ich war wütend auf sie, weil sie nicht mit mir sprach. Habe sie gefragt, warum sie noch nicht mal mit mir über ihre Mom spricht, wobei ich mich doch auch ihr anvertraut habe. Dann ist mir rausgerutscht, dass ich über ihre Mom mehr weiß als sie selbst, und sie hat angefangen an meiner Freundschaft zu zweifeln. Ich wollte sie beruhigen, aber dann fängt sie plötzlich an zu schreien, und unser gebogener Bilderrahmen presst sie richtig gegen die Wand. Er umschlang ihren Hals. Ich dachte, sie würde gleich zusammenbrechen. Ich bin sofort zu ihr gelaufen und habe versucht, ihr das Ding vom Hals zu ziehen, aber es war wie ein Magnet. Gott sei Dank habe ich ihn trotz allem möglichst schnell abbekommen. Sie ist sofort zusammengeklappt und rot angelaufen und hat geschwitzt. Das Zeichen, das auf dem Fotorahmen abgebildet ist, hat sich in ihre Haut gebohrt. Man konnte es rosafarben auf ihrem Hals wiedersehen. Sie hatte solche Schmerzen und das nur wegen mir. Ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll!“
Kyran nahm mir den Teller ab und stellte ihn auf seinen Schreibtisch, dann setzte er sich wieder zu mir.
„Katrin, es klingt jetzt vielleicht hart, wenn ich dir das sage, aber du nimmst das alles viel zu ernst.“
Fassungslos sah ich ihn an. Ich wünschte, ich hätte mich gerade verhört.
„Kyran, Emma könnte tot sein, nur wegen mir! Ist dir das nicht klar?“, fuhr ich ihn an.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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