Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-17.Kapitel-Der letzte Tag-S.312-336

Als ich an diesem Morgen aufwachte, dachte ich zuerst mir sei schlecht. Das war mir auch, aber ich konnte damit leben. Ich musste mit so vielen Sachen leben und zurechtkommen, da kam es auf eine weitere Sache auch nicht mehr an. Es war dieses leere Gefühl, das man teilweise am letzten Ferientag bekam oder wenn der Urlaub zu Ende war.
So gerne wie heute, wollte ich noch nie in die Schule gehen. Seit ich das mit Tyrece erfahren hatte, war ich von dem eigentlichen Nutzen der Schule abgekommen. Ich sah sie nicht mehr zum Lernen an, sondern als Treffpunkt mit Freunden. Gerade die Cafeteria, wo wir bereits unzählige Pausen verbracht hatten, war mir heilig. Aber ich wollte nicht aufstehen. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn sich meine Schlafsachen in Jeans und Oberteil verwandelt hätten und ich dann praktisch auf meinen Platz schweben würde.
Unter dem Druck der Realität setzte ich mich aber schließlich doch noch auf und fuhr mit meinem Blick einmal durch das ganze Zimmer. Blitzartig blieb er auf meinen Schreibtisch gerichtet stehen. Dort lag der Brief für Emma und teilweise für Sam. Ich holte ihn nicht mit in die Schule, sondern ließ ihn dort liegen und gab ihn später Victoria. In ihren Armen würde Emma als erstes nach Erklärungen suchen. Ich ging ins Bad und zog mich um.
Als ich heraus kam meldete sich Victoria von unten. Vermutlich hatte sie die Tür aufgehen hören. Mein Herz pochte. Wenn sie zu hundert Prozent nachtragend war, hatte ich keine guten Karten. Aber sie schien diesen Teil schon längst vergessen zu haben.
„Katrin, Frühstück ist fertig. Und komm mir jetzt nicht damit, dass du keinen Hunger hast! Ich habe mir zur Feier des Tages extra viel Mühe gegeben.“
Zur Feier? Aber naja, jeder dachte wie er wollte.
„Ich komme sofort“, rief ich und packte meine restliche Schultasche.
Ich schaute mir mein Zimmer noch einmal ganz genau an und lief dann ins Esszimmer. Als ich herunterkam dachte ich nur, wow! Victoria hatte sich wirklich viel Mühe gegeben und nicht zu viel versprochen. Knuspriger Toast, Omelette, Schinken und Spiegelei. Dazu ein Glas frisch gepressten Orangensaft. Das alles zweimal, für sie und mich.
„Setz dich ruhig und fang an zu essen, bevor es noch kalt wird“, wies sie mich an den Tisch, während sie Eierschalen entsorgte.
Also setzte ich mich und fing an zu essen. Das war eine echte Geschmacksexplosion. Als ich das Spiegelei und den Schinken auf den Toast legte und genüsslich hinein biss, wurde mir erst klar, wie viel Hunger ich hatte. Und das am Morgen! Im Nuh hatte ich den Toast verschlungen.
Während dessen hatte sich Victoria auch hingesetzt und zerteilte ihr Omelette.
Zufrieden schaute sie mich an.
„Wie froh ich bin, dass du mal ordentlich was zu dir nimmst.“
Ich nahm einen Schluck Orangensaft und machte mich auch an mein Omelette.
„Mit vollem Magen lässt sich einiges besser ertragen, heißt es.“
Victoria räusperte sich leise und presste ihre Hände und Lippen zusammen. Sie machte das nur, wenn sie mir etwas sagen wollte. Etwas scheinbar Wichtiges. Ich war schon gespannt. Aber was dann kam, veränderte meine Sicht auf sie als Person und auf die Hintergründe meines Dads. Sie erzählte mir das erste Mal richtig etwas über meinen Dad.
„Damals, als ich genauso alt war wie du, habe ich die Chance bekommen für ein Jahr hierhin zu gehen, als eine Art Schüleraustausch. Ich habe das Abenteuer meines Lebens gesucht und war sehr aufgeregt, als es endlich losging. Aber schon für dieses eine Jahr musste ich Opfer bringen. Ich hatte monatelang keinen Kontakt zu Freunden. Der Kontakt zu meinen Eltern war auch wochenlang unterbrochen. Ich war auf mich allein gestellt. Da ich meine Austauschfamilie am Flughafen nicht finden konnte, um ehrlich zu sein, bin ich geradeaus zum Ausgang gelaufen, habe in einem Hotel übernachtet und mich am nächsten Tag zur Schule fahren lassen. Dort traf ich dann auf deinen Dad, Anthony. Er war in der Schule mein Ansprechpartner und hat mich dann nach dem Unterricht zu meiner neuen Familie gebracht. Die Cabots waren meine neue Familie. Ich habe sie zuerst als ganz normale Leute angesehen, aber dann verstanden sich Anthony und ich immer besser und waren schon nach knapp drei Monaten ein Paar und er hat mich in die Geschichten eingeweiht. Er hat mir von allem in der Schule erzählt und muss sich mit ihnen irgendwie verständigt haben. Zumindest wussten sie, als ich nach der Schule zu ihnen kam, dass ich ihre Hintergründe erfahren hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie mir Keira sofort um den Hals gefallen ist und sich gefreut hat, dass durch diese Hintergründe nichts an unserer Situation geändert wurde. Ich hatte überhaupt niemanden als ich zu ihnen gekommen war und Keira war meine einzige Freundin. Ich hatte mich so in diese Familiengeschichte eingefressen, dass ich nicht mehr rauskommen wollte und dadurch habe ich die Zeit vergessen.
Nach einem Jahr kam Kyran aus Deutschland wieder zurück und erzählte mir, was alles passiert war. Meine Großeltern waren gestorben und meine damalige beste Freundin war in ein anderes Land gezogen. Mein damaliger Schulschwarm, natürlich bevor ich deinen Dad kennengelernt hatte, war mit einer Freundin von mir zusammen die mir, noch bevor ich Deutschland verließ, hochundheilig versprochen hatte, dass sie noch nie etwas von ihm wollte. Dazu muss man sagen, dass sie ihn geheiratet und auch mit ihm zwei Kinder hat, aber er hat sich nach dem zweiten Kind von ihr getrennt, weil es ihm zu viel Stress war. Das hat mir die einzige noch übrig gebliebene Freundin von damals vor rund fünf Jahren per Telefon erzählt. Sie war sich nämlich nicht zu schade um mit mir zu reden, auch wenn es Geld kostete. Also kann ich froh sein, dass mich der Typ noch als ich in Deutschland war nicht ranlassen wollte. Aber ist jetzt auch egal. Dazu kam jedenfalls noch, dass mein Onkel Vater wurde und geheiratet hatte. Seine Freundin war noch nicht einmal schwanger gewesen, als ich weggegangen bin. Nicht zu vergessen, dass meine Mom einen Autounfall hatte und sich dabei ein Bein brach. Zusammengefasst hatte ich vier Menschen verloren, auch wenn drei von ihnen dafür nichts konnten. Dann war ich nicht bei meiner Mom um sie zu trösten und sie im Krankenhaus zu besuchen, und ich konnte die zwei schönsten Tage im Leben meines Onkels nicht mit ihm teilen. Also war für mich klar, dass ich dort nichts mehr verloren hatte, und ich bin zunächst bei den Cabots geblieben.
Als ich dann siebzehn wurde, zog ich mit Anthony in ein eigenes Haus weiter weg von Charlene und Lucan. Wir sahen dieses Haus als Grundlage für ein neues Leben. Als es um einen Job ging, fing ich zuerst mit etwas Kreativem an. Ich überlegte, Fotografie oder Archäologie. Letztendlich wollte ich etwas mit Design machen, aber ich traute mich nicht selbstständig zu sein. Also blieb mir nur noch etwas im Büro übrig, ich absolvierte eine dreijährige Ausbildung bei einer Versicherung, die mich bis heute weiterbeschäftigt hat. Da ich mich während der Ausbildung wirklich in die Arbeit reingehängt habe, erlaubte mir mein Chef, als ich kurz vor Ende der Ausbildung mit dir schwanger wurde, dass ich, wenn ich wieder arbeitsfähig sein würde, bei ihm weiterarbeiten könnte.
Dann ging alles so schnell, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte.
Sofort nachdem ich Anthony sagte, dass ich schwanger bin, machte er mir einen Antrag und zwei Monate später heirateten wir auch schon. Zwei Monate vor deiner Geburt versuchte er mir alles zu erklären und war von einem Tag auf den anderen verschwunden. An deinem sechsten Geburtstag habe ich dann von Charlene die kleine Fledermaus aus deinem Zimmer als Andenken für dich an deinen Dad bekommen. Ihm war klar, dass du dir später mal unter einem Vampir etwas anderes vorstellen würdest, wie zum Beispiel Dracula. So wollte er deine beginnende Fantasie nicht durchkreuzen. Erst durch Keira, die sich sofort auf den Weg zu mir machte, erfuhr ich dann alles auch über Tyrece und ich hoffte nur, dass sein Opfer zu gehen uns beiden auch das Leben retten würde. Kurz nach deiner Geburt haben ich und die Cabots dann den Kontakt zueinander abgebrochen, damit Tyrece keinen Verdacht schöpfte, dass sie mit mir oder Anthony überhaupt jemals in Kontakt gestanden hatten.
Vor knapp einem Jahr erhielt ich von einem Unbekannten einen Brief, der mir die Hinweise auf Tyreces Verdacht gab. Ich berichtete Charlene von dem Vorfall und sie sagten, sie würden so schnell wie möglich kommen. Sie suchten sich in Warden Springs ein möglichst unauffälliges Quartier und dann rief Matt mich am Abend an und sagte, dass Kyran aufgrund seines Aussehens besser als Siebzehnjähriger durchgehen würde als er selbst, und damit mehr Chancen auf einen Platz in deiner Schule haben würde, und dass Matt dich am nächsten Morgen in der Schule aufsuchen wird, um einen ersten Eindruck von dir zu bekommen. Ich wusste also, dass dich jemand Fremdes angesprochen hat und musste innerlich grinsen, so wie du ihn angeschaut hast, als er an diesem Nachmittag hier aufgetaucht ist und ich gesagt habe, dass ich ihn schon länger kenne. Es ist natürlich immer schlimmer einem geglaubten Fremden zu vertrauen als von vertrauten Personen direkt gesagt zu bekommen, dass man dem Fremden vertrauen kann, und dass er eigentlich nicht fremd ist. Aber ich wusste, dass Matt das hinbekommen wird, denn er ist sehr überzeugend und das war er auch von dir. Er mochte dich von Anfang an und wusste, dass du es ihm leicht machst, ihm zu vertrauen, auch wenn du es nicht immer zeigst. Mein Aufenthalt im Supermarkt an diesem Tag war nicht so lange. Ich bin sofort zu ihnen gefahren und habe Matt, nachdem er gegangen war, sofort gefragt wie das Gespräch verlaufen sei, weil ich wusste, dass du es nicht so tiefgründig wiedergeben würdest. Deshalb war ich gestern auch so geschockt gewesen, dass er einfach gegangen ist und noch nicht einmal mit mir gesprochen hat. Weil er dich wirklich von Anfang an gern hatte und ihn so etwas eigentlich nie aus der Bahn wirft. Und das mit der Wange … ich wusste, dass du in diesem Moment nicht du selbst sein konntest, denn sonst wäre Matt sicherlich nicht gegangen. Ich wollte, dass du aus deinem scheinbaren Traum aufwachst und siehst, was du da angerichtet hast. Dich damit zu bestrafen, war nie meine Absicht gewesen.“
Ich schaute auf meinen Teller und sah das Omelette vor mir liegen. Es war zwischenzeitig kalt geworden und nach ihrer Geschichte bekam ich sowieso nichts mehr runter.
Es wirkte alles so klar. Weil ich jetzt alles wusste und auch alles nachvollziehen konnte. Das war es, was mir all die Jahre gefehlt hatte. Und im Gegenzug dazu, konnte ich ihr auch ihren Ausrutscher von gestern Abend leicht verzeihen.
„Ich habe es auch nicht als Bestrafung angesehen. Jetzt wo ich das alles über dich weiß ... wieso hast du mir nicht schon früher etwas über meinen Dad gesagt?“
Sie nahm mir den Teller mit dem kalten Omelette ab und nahm ihn zusammen mit ihrem in die Küche. Nach ihrer Geschichte konnten wir beide sowieso nichts mehr essen.
„Immerhin hätte ich keinen Kontakt zu Charlene aufnehmen müssen, wenn Tyrece nicht doch Verdacht geschöpft hätte und dann würdest du dich die ganze Zeit fragen wer überhaupt die Cabots sind. Ich weiß es doch auch erst seit einem halben Jahr. Bis dahin hätte ich nie gedacht, dass ich mit ihnen wieder in Kontakt treten würde.“
Das war zwar wahr, aber ich glaubte sie hatte die Frage falsch verstanden.
„Das meine ich nicht. Wieso hast du mir im Allgemeinen nichts über meinen Dad verraten.“
Sie holte ihre Tasche von einem Stuhl und ging zur Tür um ihre Schuhe anzuziehen. Es folgte die Jacke. Dann hob sie meine Tasche auf und hielt sie so lange fest, bis ich aufgestanden war und sie entgegengenommen hatte. Ich zog mir auch meine Schuhe und Jacke an, während Victoria schon zum Auto schritt und einstieg.
Ich dachte schon, dass sie dem Thema wieder entfliehen wollte, aber als ich im Auto neben ihr saß und wir auf die Straße fuhren, erzählte sie zu meiner Beruhigung schon weiter.
„Ich habe dir nichts über deinen Dad verraten, weil du mich, bevor Matt kam, nicht danach gefragt hast. Und als ich ihn gefragt habe, ob ich dir zumindest mal Teile über ihn verraten sollte meinte er, es wäre besser, wenn du zuerst mal von ihm alles erfährst. Das würde auch dein Vertrauen zu ihm verstärken. Als du mir an diesem Abend gesagt hast, dass du zuerst mal nur mit ihm über die Sache sprechen willst, hat das den Glauben nur noch verstärkt. Hätte ich aber gewusst, dass es dir so wichtig ist, dass ich dir von deinem Dad erzähle, glaub mir, ich wäre pausenlos alles durchgegangen was mir zu ihm einfällt.“
Also war ich nur auf Victoria sauer gewesen wegen Matt. Warum musste alles mit ihm zusammenhängen? Er war doch weg. Aber er hatte Spuren hinterlassen, die einem zwar nur in Erinnerung blieben aber dafür auf ewig. Ein furchtbarer Gedanke, immer an ihn erinnert zu werden. Aber wofür hatte ich denn Kyran? Er würde mich schon wieder aufheitern und ich konnte von Glück reden, dass er mit mir kam. Andererseits war Matt sein Bruder. Die beiden waren auf irgendeine Weise unzertrennlich und nur wegen mir mussten sie sich trennen. Sowohl sie als auch meine Eltern.
Als eine Katze über die Straße lief bremste Victoria scharf, und ich wurde nach vorne gerissen und aus meinen Gedanken aufgeweckt. Ich suchte mit meinen Blicken die Katze und sah ihr nach, bis sie in den Büschen verschwand.
Victoria zitterte als sie weiterfuhr. Besorgt sah ich sie an. Hatte sie etwas gegen Katzen? „Was ist los?“, fragte ich fürsorglich.
Nicht, dass sie auf einmal in Ohnmacht fallen würde.
Ich fragte mich, ob Emma immer das gleiche Gefühl bei mir hatte, wie ich gerade bei meiner Mom, wenn sie mich fragte, ob alles in Ordnung ist.
Sie lächelte aber schluchzte leicht. „Mit mir ist alles ok. Ich musste mich bei der Katze nur an eine Szene mit deinem Dad erinnern. Wir waren abends von einer Feier zurückgefahren, es war übrigens kein Alkohol im Spiel. Nur so nebenbei, Anthony trinkt auch keinen Alkohol. Jedenfalls sind wir dann nach Hause gefahren und auf dem Weg dahin ist auch eine Katze über die Straße gelaufen. Sie war so schnell dort, dass ich sie gar nicht richtig wahrnahm aber dein Dad hat sofort gebremst. Wir sind augenblicklich ausgestiegen und haben nach ihr gesehen. Die Katze lag unter dem Auto, und wir wussten nicht ob sie noch lebte, also sind wir so schnell wie möglich zu einem Tierarzt gefahren, dessen Praxis noch geöffnet war. Er hat sie dann eingeschläfert. Das war zwar sehr traurig aber ich habe deinen Dad noch nie so aufgewühlt erlebt. Da hat er wirklich sein Herz für Tiere bewiesen. Vielleicht hat er dir ja auch deswegen die Fledermaus geschenkt.“
Nach dieser Geschichte war ich froh, dass Victorias Reflektionen mit dem Alter besser geworden waren. Ich wüsste nicht, wie ich mich bei einem toten Tier vor der Schule verhalten hätte.
Die letzten Minuten Fahrt gab sie nochmal richtig Gas, so dass ich noch rechtzeitig zu meinem letzten Schultag kam.
„Bis nachher. Genieße noch ein paar Stunden mit deinen Freunden“, sagte sie als ich aus dem Auto stieg. Dann fuhr sie selbst zur Arbeit.
Als ich die Eingangshalle betrat kam Emma links vom oberen Stockwerk die Treppe herunter gedüst und packte mich aufgeregt am Arm.
„Ich muss dir was zeigen. Die Bilder aus Kunst sind ausgestellt worden. Dein Bild hat eine eins gekriegt.“
Sie zerrte mich die Stufen hoch und zeigte auf eine lange Wand an der die Bilder aufgereiht hingen. Meines hing so ziemlich in der Mitte. Alle Bilder waren eingerahmt. Durch den Rahmen und das sich spiegelnde Glas im Licht der Lampen von der Decke der Eingangshalle, glich das Schloss von Alvarez einem wertvollen Gemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert. Natürlich war das nur meine Meinung. Ich hätte übrigens nie so eine Zeichnung richtig hinbekommen. Die Inspirationsquelle waren die Selbstportraits aus dem Korridor der Cabots. Aber ich hatte mein gedankliches Bild gut getroffen.
„Jaa, deins hab ich mir sehr ausführlich angeschaut“, stotterte Emma, weil sie nicht die passenden Worte fand, für das, was sie sah. Dann fing sie sich aber wieder. „Also ich finde ja dieses Bild hat eine eins verdient, fragt sich nur wer sie verdient hat.“
Um zu wissen was sie meinte, versuchte ich ihren Blick zu erraten aber das half nichts. „Was meinst du?“
Sie zeigte auf mein Bild. Ich folgte ihren Fingern.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass an dir eine Jahrhundertkünstlerin verloren gegangen ist. Also das du gut in Kunst bist weiß ich ja, bin ich ja auch, aber dass du sowas hinbekommst ist mir neu.“
Das war es mir auch.
„Es war einfach nur Glück. Es gibt Dinge, die bekommt man kein zweites Mal im Leben hin.“
Wir gingen wieder die Stufen herunter.
„Und du hast echt Glück, dass dir das bei einer Benotung passiert ist. Wenn dich Mrs. Goddwin aber bittet, ihr noch weitere deiner Meisterwerke zu malen, bist du unten durch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe das nur für die Schule gemacht, weil es meine Pflicht war. Ich mache nichts was ich nicht muss.“
Wir machten uns auf den Weg zu Chemie. Direkt als es klingelte wurden wir aber schon abgeholt und gingen ein Stockwerk höher in den Computerraum, um Internetrecherchen zu machen. Das Thema lautete Edelgase. Da es sehr viel an Informationen gab, sollten wir relativ zügig arbeiten und den Rest als Hausaufgabe fertig machen. Da ich ab jetzt keine Hausaufgaben mehr machen konnte, gab ich mir sehr viel Mühe bei der Recherche und schrieb es in eine Tabelle ab. Meine Hände glitten schnell über die Tastatur. Am Ende der Stunde gab ich meine Notizen Mr. Flynn ab.
Als ich es ihm überreichte, sah er mich traurig an. „Ich habe gehört, Sie werden uns nach diesem Tag für eine Weile verlassen.“
Schnell drehte ich mich in Richtung Emma, wo ich glaubte, dass sie sich gerade befand. Als ich sie aber nicht erblickte galt meine Aufmerksamkeit wieder Mr. Flynn.
„Ja Sir, das stimmt aber ich habe damit kein Problem und möchte auch nicht, dass es die ganze Schule erfährt.“
Er zog seine Brille ab und rieb sie in seinem Hemd wieder sauber.
„Dafür gebe ich Ihnen mein vollstes Verständnis.“
Er blickte meine Ergebnisse an. „Warum kommen Sie damit zu mir?“
„Ich habe gehofft, dass Sie meine Mühe in dieser Stunde vielleicht noch mit in mein Zeugnis bringen würden. Ich will mir nämlich sicher sein, dass ich die Zwei auf dem Zeugnis bekomme. Gerade wo das nicht mein Lieblingsfach ist.“
Er lachte nur leise und steckte den Zettel in seine Tasche.
„Die Zwei haben Sie sicher, glauben Sie mir.“
Glücklich über eine gute Note in Chemie lächelte ich ihn an. Er teilte meine Freude.
„Na dann wünsche ich Ihnen eine gute Zeit und freue mich, wenn ich Sie wieder unterrichten kann.“
„Danke Sir.“
Strahlend verließ ich den Computerraum vor dem Emma immer noch auf mich wartete. „Was ist passiert?“, fragte sie, als sie meine gute Laune erlebte.
„Ich habe bald eine gute Note in Chemie!“
„Glückwunsch!“
Wir gingen wieder in den ersten Stock für das Fach Kunst.
Hoffentlich hielt mich Mrs. Goddwin wirklich nicht für einen Neugeborenen da Vinci. Ich konnte sonst eigentlich nicht so gut zeichnen. Aber ich hatte meinen Traum für mich zeichnen lassen, also nicht ich, zumindest nicht bei vollem Bewusstsein. Aber als sie den Raum betrat, schrieb sie nur eine Seitenzahl an die Tafel und ließ mehrere kleine Heftchen herumgehen, dessen Inhalt sich um die fünf größten Künstler der Welt drehte und endlos lange Texte über ihren Lebenslauf und ihre weltberühmten Werke. Von ihnen sollten wir die wichtigsten Informationen in Form von Steckbriefen aufschreiben. Und wieder beeilte ich mich. Obwohl das eigentlich nicht nötig war, denn das Wesentliche stand ja schon drin. Nach nur einer halben Stunde war der ganze Kurs fertig. Mrs. Goddwin ließ es einsammeln, schaute kurz darüber und teilte uns dann mit, dass wir die restliche Zeit unsere ausgestellten Bilder begutachten konnten.
Also mussten wir paarweise wieder durch das halbe Gebäude gehen. Sam und Chris nahmen es mit Humor und klopften an jeder Klassentür, an der wir vorbeikamen. Mrs. Goddwin hätte dazu zwar etwas sagen können, aber sie war nie wirklich so streng und war das von Chris ja schon, seit wir Kunst hatten, gewöhnt. Dieser letzte Tag fing ja amüsant an. Also verbrachte ich die letzte Viertelstunde Unterricht mit der Begutachtung meines Kunstwerkes.
Wie wir wieder in die Eingangshalle bogen und ich die gleichen Treppen wie heute Morgen hochmarschierte, fiel mir erst auf, dass es dunkler geworden war. Draußen brach immer mehr der Tag an aber im Gebäude und ganz besonders hier, war es dunkler im Vergleich zu eben geworden. Ich schaute zur Decke hoch. In den letzten Tagen waren bis zur letzten Schulstunde die Lichter dort an gewesen, weil es draußen noch zu dunkel war, was aber meistens am Nebel lag und einigen dunklen Wolken. Reaktionsartig schaute ich auf dem Weg, die Treppen hoch, nach draußen. Es herrschte immer noch Nebel aber mehr helle als dunkle Wolken und die Sonne war auch rausgekommen. Für die Hälfte der Schüler ein Phänomen, dass die Sonne sich noch einmal vor Winterbeginn blicken ließ. Wegen mir musste sie sich nicht zeigen lassen, weil ich mehr dieses regnerische vorzog. Aber zum Beispiel Sam war einer der schönes Wetter liebte und dieses Wetter wollte ich ihm unter keinen Umständen nehmen. Als ich oben auf die Reihe der Bilder blickte, bemerkte ich erst, dass die Sonne auch die komplette Aufmerksamkeit der restlichen Schüler auf sich genommen hatte - dabei war noch nicht einmal wissenschaftlich bewiesen, dass sie eine Anziehungskraft hatte. Aber Mrs. Goddwin ermutigte die Schar weiterzugehen und so war die Sonne schnell nur noch Nebensache. Die Schüler verteilten sich sofort als wir oben ankamen und jeder zeigte seinem Freund mit Begeisterung sein eigenes Werk.
Ich blieb aber nur kurz vor meinem Bild, mit Emma an meiner Seite, stehen und stützte mich am Geländer ab. Erst als ich widerwillig die Wand vor mir anschaute, traf mich der Schlag.
Vor uns hing das Bild von Chris mit sogar einer guten Note. Er hatte meine Vorstellung von Freddy der Katze gezeichnet.
Emma musste lachen, als sie es auch sah. „Da habt Chris und du ja die gleichen Gedanken gehabt.“
„Ja“, murmelte ich.
Ich ging geradewegs auf das Bild zu und hielt vielleicht eine Hand lang Abstand zu der Wand, um sie genau zu betrachten. Außer, dass ich mir die riesigen Scherenhände auf der rechten Seite vorgestellt hatte und nicht links, war sie komplett. Es gab da ja eigentlich nicht viel zu überlegen. Eine normale Katze, nur, dass sie bösartig glänzende Augen hatte, mindestens fünf Zentimeter lange spitze Eckzähne und eine Scherenhand.
Obwohl ich an Matt nicht mehr denken wollte, erinnerte ich mich an einen der Abende, an denen er mich nach Hause fuhr und mir erzählte, froh über keine Vererbung der Zähne zu sein, weil er selbst nicht wüsste, wohin damit. Ich gab ihm in diesem Punkt recht.
Plötzlich stupste mich von hinten jemand an.
Unverzüglich drehte ich mich um und schaute Chris’ strahlendes Gesicht an.
„Und wie findest du mein Meisterwerk? Kommt dir das etwa bekannt vor?“
Hinter ihm tauchte Sam auf. Auch strahlend.
„Tut mir leid Katrin, aber ich dachte einer von euch sollte mit mir mitleiden und du hast mit Freddy angefangen. Außerdem fand ich diese Vorstellung so witzig, dass ich Chris, bevor wir anfingen zu zeichnen, nochmal daran erinnert habe.“
Sam konnte früher oder später was erleben. Aber ob er es überleben würde, konnte ich nicht sagen.
Außerdem war Freddy meine Erfindung gewesen und lag damit unter Copyright von mir. „Schon mal was von Datenschutz gehört Jungs? Und nachfragen bevor ihr Ideen benutzt?“ Sam sah mich intensiv an und legte mir beide Hände auf die Schultern.
„Ich hatte gehofft, ich, als dein Freund, dürfte mir das erlauben.“
Ich warf nochmal einen Blick auf Freddy, bevor ich ihm antwortete. Ich riss seine Hände von mir.
„Naja, jetzt kann man es ja auch nicht mehr ändern.“
Ich ging wieder zurück zum Geländer.
„Aber sei doch froh“, versuchte es mir Sam zu erklären. „Immerhin geraten deine Vorstellungen damit an die Öffentlichkeit.“
Sam musste sich auch immer rausreden. Und, dass ich ihm das alles immer verzieh, auch wenn fast alles Spaß war, konnte ich nicht glauben. Aber wer glaubte heutzutage schon sich selber.
Mrs. Goddwin stand vor meinem Bild und winkte mich lächelnd zu sich.
Nur widerwillig kam ich zu ihr. Und wenn sie wirklich dachte, dass ich mit meinem scheinbaren Talent die Schule neu streichen könnte, hatte sie sich geschnitten. Sie fuhr mit ihrer Hand an den Linien des Schlosses entlang.
„Wie faszinierend das ist. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Ihnen so ein genaues Bild nie wieder gelingt aber ich finde dieses Gebäude einfach nur bemerkenswert. Die Struktur und der Bau an sich. Wo haben Sie das Schloss gesehen?“
„Es ist ein Andenken an einen sogenannten Freund. Er hat mir davon erzählt“, improvisierte ich auf die Schnelle. Wobei es ja auch nicht gelogen war.
„Gehört es Ihrem vergangenen Freund?“
„Nicht direkt. Es gehörte einem Verwandten von ihm.“
Mir war klar, dass George, als Matts Urgroßvater, mit zur Verwandtschaft gehörte, aber konnte man das bei einem jeweiligen Leben von plus minus vierhundert Jahren pro Generation noch genauso sehen?
Die Fragerei von Mrs. Goddwin ging weiter und je weiter sie ging, umso mehr beängstigte es mich.
„Was meinen Sie mit gehörte. Ist der Besitzer etwa gestorben oder hat er den Besitz verkauft?“
Ungläubig darüber, dass sie mich sogar noch über einen eventuellen Tod fragte, sah ich sie an.
„Wieso wollen Sie das wissen.“
Sie runzelte die Stirn. „Nun ja, mein Mann und ich, wir beide haben eine Schwäche für alte Schlösser, Burgen und Festungen, sowie verfallene Gebäude. Da es hier davon nicht viele gibt, haben wir unsere Urlaubsreisen schon mehrfach über die Erde verteilt und uns solche Bauwerke angeschaut. Dieses hier hat aber mit keinerlei Dingen, die wir je gesehen haben, in gewisser Weise eine Ähnlichkeit. Darum interessiert mich wo es zu finden ist.“
Diese Erklärung war logisch. Aber was sollte ich ihr sagen? Ich kannte nicht den ungefähren Umkreis des Landes, das die Vorfahren von Matt regierten. Es konnte heute überhaupt nicht mehr existieren und da ließ sich die Frage nach dem Standort des Schlosses wohl von selbst klären.
Also antwortete ich dieses Mal weitausgehend ehrlich.
„Ich habe keine Ahnung wo es sich befindet oder ob es überhaupt noch existiert. Ich habe von ihm nur eine Zeichnung bekommen und die wurde dann durch meine Fantasie lebendig und dieses Bild entstand.“
Mrs. Goddwin nickte verständlich. Dann zwinkerte sie mir zu.
„Sehr sicher, dass dieser sogenannte frühere Freund nicht doch noch mal in Ihr Leben treten wird?“
Es war sehr nett, dass sich eine Lehrerin um mein Privatleben sorgte aber würde sie die Vorgeschichte kennen, würde sich diese Meinung sicher sofort auflösen.
„Sie kennen die Hintergründe nicht.“
Sie runzelte die Stirn, als würde sie denken, was junge Menschen in meinem Alter dazu veranlasste schon so über Geschehnisse zu sprechen, aber wie schon gesagt, würde sie die Hintergründe wissen …
Als ich selbst alles überflog und in die Zukunft schritt, kam mir ein Gedanke.
Schnell blickte ich zuerst auf mein Bild vor mir und dann neben mich auf Mrs. Goddwin. „Könnte ich das Bild vielleicht mitnehmen? Sie haben ja selber gesagt, dass das sicher nur eine Ausnahme war.“
Sie winkte augenblicklich ab. „Ich wollte damit auf keinen Fall Ihre Fähigkeit in Frage stellen aber wenn Sie wollen, können Sie es sofort mit holen. Wann bekommt man den schon ein so schönes Schloss umsonst?“
Wir beide lachten. Beruhigend zu wissen, dass Lehrer in einer Hinsicht auch nur Menschen waren und sich sogar teilweise mit ihren Schülern identifizieren konnten.
Ich nahm das Bild vom Haken und packte es behutsam in meine Tasche, extra zwischen die dicksten Bücher und größten Hefte, damit wirklich nichts kaputt ging. Zum Glück war der Rahmen sehr dünn und verbrauchte dadurch nicht so viel Platz.
„Ich werde dann Mr. Qualls benachrichtigen wegen des Nagels. Vermutlich könnte er das Bild von Mr. Campbell hierhin hängen und dafür dann den Haken von seinem Bild entfernen.“
Um die Schritte zu erklären, benutzte sie Handzeichen, von denen ich absolut keine Ahnung hatte. Vielleicht sollte ich mal Sam nach deren Bedeutung fragen. Während sie es mir erklärte, schaute sie mich sehr oft direkt an, ich nickte nur.
Dann schaute Mrs. Goddwin auf ihre Uhr und rief durch die Menge: „Es wird jetzt zur Pause klingeln. Sie alle sind frühzeitig entlassen.“
Als ich an mir vorbeiblickte, sah ich frohe erleichterte Gesichter, die sich schon auf eine vorzeitige Pause freuten. Ich persönlich teilte diese Begeisterung nur wenig. Heute zählte jede Minute für mich. Emma zerrte mich wieder mit sich und Sam hatte sich von Chris gerissen und folgte uns. Nachdem wir aber genau in der Mitte der Halle angekommen waren, kamen noch massenweise Schüler von den oberen Stockwerken zusammen und links aus diesem Stockwerk, mischte sich auch nochmal einiges unter die Menge. Normalerweise war der einfachste Weg in die Cafeteria ja einfach geradeaus, aber als ich sah, wie viele Leute auf einmal von dort auf mich zukamen, entschied ich mich nach rechts abzubiegen und dann nochmal eine Kurve nach links zu nehmen, um mein Ziel zu erreichen.
Dadurch, dass ich für ein paar Sekunden den Überblick verloren hatte, hatte ich auch Emma und Sam aus den Augen verloren. Ich bemühte mich, sie, indem ich versuchte über die Menge zu schauen, vielleicht doch noch zu finden aber vergebens. Sie waren außer Reichweite.
Ich drückte mich durch die Menge nach rechts und stellte fest, dass auf diesem Flur vielleicht die Hälfte des Andrangs herrschte.
Zügig ging ich an den Chemieräumen vorbei, als sich plötzlich eine Tür öffnete und mich eine Hand in einen der Räume zog.
Das einzige was ich realisierte war, dass die Person einen dünnen schwarzen Mantel trug. Irgendwoher kam er mir bekannt vor. Aber erst als die Tür hinter mir zu fiel und ich mich umdrehte, wusste ich, von wem ich in den Raum gezogen wurde.
Ungläubig, dass er tatsächlich vor mir stand, musterte ich ihn. „Egon?“
Seit unserer ersten und letzten Begegnung hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, da ich davon ausging, dass ich ihn sowieso nie mehr sehen würde.
„Hallo Katrin. Entschuldige bitte dieses Gedrängel. Aber ich sah ansonsten keine Gelegenheit dich allein aufzufangen.“
Aus Angst jemand könnte uns hören, versuchte ich etwas leiser zu sprechen.
„Was machst du hier?“
Hatte ich etwa doch einen persönlichen Stalker, der mich sogar während der Pause in leere Räume zog?
„Ok Katrin, ich hoffe du kannst es mir nochmal verzeihen, wenn ich es dir sage. Ich habe erfahren, dass hier heute dein letzer Schultag ist.“
„Von wem.“
Diese Frage hätte ich mir auch sparen können. Ich konnte ich es mir schon denken.
„Ich habe dich wieder beobachtet.“
Ich rollte die Augen. Als wir uns kennenlernten hatte er mir gesagt, dass er so etwas nicht mehr machen würde aber was war jetzt?
„Warum wundert mich das nicht? Um ehrlich zu sein siehst du für mich nicht aus wie jemand, dessen Hobby es ist Leute zu beobachten. Aber ich dachte das wäre eine einmalige Sache gewesen!“
„Sollte es auch aber…“
„Aber was?“
„Ich kann es dir nicht erklären und glaub mir es ist besser so. Für beide Seiten. Ich würde auch nicht herkommen, wenn ich nicht wüsste, dass du fortgehst.“
„Was willst du.“
Aus irgendwelchen Gründen mochte ich Egon. Auch wenn ich von seinen Berichten, dass er mich zum Beispiel wieder beobachtete, regelrecht Angst bekam.
„Fragen wie es dir geht. Hast du Angst, Freude oder bist du von deinen Gefühlen hin und hergerissen?“
Wie konnte jemand, der einem eigentlich fremd war, einem solche Fragen stellen.
„Was?“
Er winkte ab. Er sah aus, als wäre er im ziemlichen Stress.
„Vergiss es. Ich weiß die Antwort eh schon. Ich habe dir etwas mitgebracht.“
Aus seiner Tasche zog er ein älteres Buch. Es sah an sich nicht besonders alt aus, das Design machte den Anschein. Ich konnte nicht genau auf sein Äußeres achten. Viel mehr schaute ich zu Egon.
„Dieses Buch habe ich in der Schulbibliothek gefunden. Ich hatte früher mal selbst so eins gehabt aber es ist verschwunden. Vielleicht war ich nicht immer der sauberste, was aufräumen angeht. Jedenfalls bin ich eben, als du Unterricht hattest, in die Bibliothek gegangen um zu schauen, was eure Schule geschichtliches und literarisches zu bieten hat. Dabei bin ich auf dieses Buch gestoßen. Ich kenne den Inhalt nur noch verschwommen von früher aber das reicht, um zu wissen, dass es dir gefallen wird.“
Er überreichte mir das Buch.
Normalerweise würde ich es mir anschauen oder zumindest den Titel lesen aber das sparte ich mir für nachher auf. Da würde ich ohnehin viel Ablenkung brauchen.
Ich steckte es in meine Tasche. „Danke Egon.“
„Also eigentlich, weiß ich nicht ob es dir gefallen wird. Ich weiß nur, dass es zu dir passt und solltest du hier irgendwann wieder zurückkommen, schicke ich dich wieder zurück, bevor du das Buch nicht gelesen hast.“
Ich lächelte. „Dann fange ich am besten so schnell wie möglich an.“
„Das wollte ich hören.“
Mein Lächeln verschwand urplötzlich, ohne es zu kontrollieren. Ich senkte meinen Kopf, damit Egon nicht allzu viel von meiner betrübten Stimmung mitbekam. Doch das half nichts. Dass er es sofort bemerkte und auch dementsprechend reagierte, erleichterte mich. Wenigstens kein stundenlanges Schweigen.
„Wann fährst du.“
„Wenn die Schule aus ist schaffe ich noch ein paar Kleinigkeiten aus dem Haus und dann geht’s los.“
„Wohin geht es denn?“
„So etwa in die Nähe von ...“
„Ach vergiss es“, unterbrach er mich, „Es ist besser, wenn ich es nicht weiß.“
„Wie du meinst.“
„Wissen es denn schon deine Freundin und der Typ, bei dem du mitgefahren bist?“
Nein und das war auch eindeutig besser so. Aber von den Beziehungen zu meinen Freunden musste er nicht viel mitbekommen.
„Ich habe Emma so Andeutungen gemacht, aber es könnte sein, dass sie den Grund für mein Verschwinden als einen anderen sieht, und das will ich nicht und ich habe auch keine Lust, mich die letzten Stunden, bevor wir uns sicher eine Ewigkeit nicht sehen werden, mit ihr zu streiten.“
„Das verstehe ich natürlich. Und dein Freund?“
„Der weiß noch nicht einmal so viel über mich wie Emma, was zugegebener weise nicht seine Schuld ist. Und ich könnte es nicht ertragen ihn anzulügen.“
Besser ich ertrug es nicht ihn weiter anzulügen. Dabei log ich ihn noch nicht einmal an, sondern verschwieg es. Das eine war nicht besser als das andere.
„Also entweder die Wahrheit oder nichts.“
„Die Wahrheit ist sehr kompliziert. Genau wie deren Hintergründe. Würde ich ihm das alles erklären, würde es zuerst mal eine Weile dauern, bis er den Grund, der damit eigentlich nichts zu tun hat, obwohl es der Hauptgrund ist, erst verkraftet hat.“
Er machte große Augen. Hätte mich auch gewundert, wenn er das verstanden hätte.
„Da scheinst du ja einiges durchzumachen“, fasste er es zusammen.
Auf einmal kam es einfach so hoch. Ohne jegliche Vorwarnung oder Vorzeichen. Die Trauer über das, was ich Emma und Sam und all den anderen antun würde, wenn ich es ihnen nichts sagte. Ich versuchte mich mit aller Kraft gegen die Tränen zu wehren aber dadurch bekam ich keine Luft mehr. Ich atmete, so unauffällig wie möglich, tief ein und aus. Dabei vermied ich den Blick zu Egon. Aber es half alles nichts.
Er legte seine Tasche auf dem Pult ab und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu.
Ich nahm seine Geste dankbar an. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und umschlang mit meinen Armen seinen Rücken, so wie er mich umarmte. Sanft strich er mir mit einer Hand über die Schulter und durch das Haar. Ich brachte viel weniger Tränen zum Vorschein als gedacht. Vielleicht zwei, drei. Zu schnell lockerte sich sein Griff wieder.
Aus Schreck ging ich einen Schritt zurück.
Egon nahm seine Tasche vom Pult, hing sie sich um und sah mich hoffnungsvoll an.
„Ich kann so gut verstehen was du durchmachst. Man könnte meinen ich erleide dasselbe Schicksal. Tu das, was du tun musst und mach das Beste daraus. Ich weiß nicht was du die Zeit über machen wirst, aber du musst dieses Buch lesen. Das musst du mir versprechen.“ Während er sich die Tasche umgehangen hatte, hatte ich mein Gesicht getrocknet. Ich wollte vermeiden, dass Emma und Sam bei meinem Anblick sonst was von mir dachten. Trotzdem hatte ich jedes Wort von Egon verinnerlicht und wusste, ich würde es in die Tat umsetzen. Ohne die Tränen in meinem Gesicht ließ es sich viel einfacher lächeln.
„Ich verspreche es.“
Er nickte mir zu. Als nichts mehr von ihm kam ging ich auf die Tür zu. Gerade als ich sie öffnen wollte, brachte er mich, wie das letzte Mal dazu, dass ich mich nochmal zu ihm umwandte.
„Katrin“, sagte er. Um den Satz fortzusetzen wartete er, bis sich unsere Blicke wieder trafen. „Ich habe eine Seite mit einem Zettel gekennzeichnet. Lies dir zuerst alle anderen Seiten durch und diese als letzte.“
„Werde ich machen.“
Gerade drückte ich die Tür einen Spalt auf, als hinter mir wieder eine Stimme sprach. „Viel Glück weiterhin. Vielleicht sehen wir uns ja nochmal.“
Trotz, dass wir mit heute nur zweimal miteinander gesprochen hatten, kam er mir so vertraut vor wie Sam. Damit also noch eine Person mehr, von der mir die Trennung auf eine bestimmte Zeit nicht leicht fiel. Wenigstens wusste er überhaupt, dass ich wegging. ,,Vielleicht. Willst du nicht mitkommen?“
„Nein, nein. Laut des Raumplaners findet hier in der nächsten Stunde kein Unterricht statt und ich wollte immer schon wissen, wie man ein Mikroskop bedient.“
Ich schaute hinten links auf die Wand voll von weißen Schränken, in denen die Materialien und Chemikalien aufbewahrt wurden.
„Im mittleren Schrank findest du die Mikroskope. Darunter befinden sich in kleinen Dosen Objektträger mit verschiedenen Teilchen. Der jüngere Jahrgang hatte vor den Ferien in der Eingangshalle eine Ausstellung mit den Sachen. Ich fand die Mikrometer kleinen Eiskristalle am faszinierendsten. Kannst ja mal suchen, ob du sie findest.“
Als ob er nicht wüsste, wieso er sich die Tasche umgehangen hatte, legte er sie wieder ab und marschierte auf den mittleren Schrank zu. Er machte die Tür auf und warf ein Auge auf die Mikroskope, sowie auf die Objektträger, welche er aus der Schachtel vorsichtig in seine Hand nahm. Interessiert beugte er sich über die Mikroskope und danach schaute mir Egon noch ein letztes Mal für einen sicherlich längeren Zeitraum in die Augen.
Seine letzte Mimik, das Lächeln, das ich von unserer ersten Begegnung noch mehr als gut kannte.
„Danke.“
Ohne auch nur eine weitere Sekunde abzuwarten öffnete ich die Tür und machte sie hinter mir wieder zu.
Der erste Abschied war also schon geschafft. Und dieser war allein schon schlimmer, als ich mir den Abschied von Emma und Sam vorgestellt hatte. Dazu kam, dass ich Egon noch nicht allzu lange kannte und überhaupt nicht mit ihm gerechnet hatte. Ich hatte ihn sogar fast vergessen. Zum Glück hatte ich dieses Buch als Wiedererkennungszeichen für meine, wenn auch kurzen und wenigen Erinnerungen an ihn. Denn fast alle um mich herum würden für die nächste Zeit nur in meiner Erinnerung leben.
Ich mischte mich unter die Menge der Schüler, die von allen Seiten aus den Räumen kamen um sich in die Cafeteria zu begeben, in die Eingangshalle oder gleich auf den Schulhof, um kurz Luft zu schnappen. Ich folgte den Leuten, die in Richtung Cafeteria gingen. Als ich mich um die nächste Ecke begab, stockte ich. An einem Fenster, direkt gegenüber von mir stand Simon mit Jeannie Gandhi. Ein Mädchen aus meinem Mathe- und Geschichtskurs. Sie war sehr freundlich und eine gute Schülerin, aber sie hatte nicht viele Freunde. Einige meinten, sie hätten es mit ihr versucht aber ihre Eltern wären das Problem gewesen, aufgrund der strengen Erziehung. Mit der Zeit machten sich diese Rückschläge an ihr bemerkbar, da sie sich immer mehr zurückzog. Als ich auf die Schule kam waren wir eigentlich sehr eng in Kontakt, das hieß in der Schule. Ich wusste nicht was passiert war, wodurch wir immer seltener aufeinanderstießen, obwohl wir uns fast jeden Tag begegneten. Ich hatte sie immer mehr aus den Augen gelassen. Aber sie mochte Simon aus unverständlichen Gründen sehr. Das hatte sie mir damals gesagt. Obwohl sie das komplette Gegenteil von ihm war, fand sie ihn interessant.
In diesem Moment wünschte ich mir, dass Simon wenigstens bei ihr nicht mit gleicher Absicht ranging, wie bei seinen anderen Mädchen. Dass er sich nicht wieder verstellte und sie als eine unter vielen anderen einfach abblitzen ließ. Immerhin schienen die beiden zu lernen, da sie zusammen eine Mappe durchstöberten.
Ohne auf ihn zu achten ging ich einfach weiter. Etwas schneller und sichtlich angespannt, weil ich nur von ihm wegwollte. Das hieß, ich wollte nicht unbedingt von ihm weg, ich wollte nur, dass er mich nicht bemerkte.
Als ich um die nächste Ecke bog wurde ich wieder etwas entspannter. Ich konnte sichergehen, dass Simon mich nicht bemerkt hatte und ich konnte die Cafeteria sehen. Als ich sie mit ein paar anderen Leuten betrat, war sie nicht gerade voll besetzt. Das lag wohl daran, dass sich die meisten nach draußen begaben, da heute nach einigen Tagen endlich wieder die Sonne rauskam und niemand wusste, ob dies vor dem Winter noch einmal der Fall sein würde. Am liebsten wäre ich mit ihnen raus gegangen, wäre heute nicht mein letzter Tag. Es fühlte sich überhaupt nicht an, wie mein letzter Tag auf dieser Schule. Eher wie der letzte Tag meines Lebens.
Emma und Sam saßen da, wo sie immer saßen. Man könnte meinen, es war eine Art Stammtisch. Mein üblicher Platz, rechts neben Emma und gegenüber von Sam war noch frei.
Als ob man ihn mir gleich wegnehmen wollte, eilte ich zu ihnen und setzte mich.
Sam hing an einem Eistee. Emma hingegen hatte zu meinem Unglück nichts um sich zu beschäftigen, und so entschied sie sich kurzerhand für mich.
„Wo warst du?“
„Was meinst du?“
„Du warst plötzlich weg.“
„Ach, es war nichts Tragisches. Ich hatte etwas in Kunst vergessen und hab es schnell geholt. Auf dem Weg hierhin bin ich Simon über den Weg gelaufen und damit er mich nicht bemerkte, hab ich einen Umweg gemacht.“
Sam stellte seinen Eistee neben sein Tablett.
„Ein sehr langer Umweg muss das gewesen sein.“
„Das war er auch aber was will man machen. Der richtige Weg ist nicht gleich der einfachste.“
„Und kürzeste“, brachte Emma ein.
Sam lehnte sich zurück und tat das, wofür ich ihm sehr dankbar war. Er fing ein anderes Thema an.
„Setzen wir Katrin nicht ins Verhör. Es gibt wichtigeres als Geschichte und vor allen Dingen Simon.“
„Zum Beispiel?“
Er sah Emma an: „Wie geht es deinem Hals?“
Ich schaute sie nervös an. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich an ihre Verletzungen gar nicht mehr gedacht hatte.
Aber sie grinste nur. „Könnte schlimmer sein. Ich werde schon nicht sterben.“
„Eine gute Nachricht. Emma verlässt uns nicht!“
Aber ich, dachte ich.
Vorsichtig griff Emma über den Tisch nach Sams Hand und hielt sie fest. Sie machte sich daran, seinen Ärmel hochzukrempeln aber um das, nachdem sie gesucht hatte zu finden, musste sie sie kaum weiter als vier Zentimeter schieben. Sam, der bis jetzt alles ohne etwas von sich zu geben mitmachte, erkannte scheinbar, worauf Emma hinauswollte und zog den Arm schnell weg. Diese Reaktion beantwortete ihre Frage sofort. Zufrieden nahm sie sich ihren Apfelsaft. Dabei hatte ich außer Haut nichts gesehen. Offensichtlich wussten alle was das sollte außer mir. Um etwas Aufklärung zu bekommen brachte ich mich auch ein.
„Ist an deinem Arm irgendwas Besonderes?“
Emma musste augenblicklich lachen, wobei sie schnell den Rest ihres Getränkes runterschluckte und davon einen heftigen Hustenanfall bekam. Durch ihr ununterbrochenes Gelächter bekam man von dem jedoch wenig mit.
„Ja, allerdings. Dort verewigt sich jeden Tag ein und dasselbe Tier erneut.“
Sam zog seinen Ärmel soweit runter, bis nichts mehr von seiner Hand zu sehen war und sah Emma mit einem vernichtenden Blick an. So hatte er sie noch nie angesehen. Manche Leute mussten sich mit diesem Blick schon auseinandersetzen aber jemanden wie Emma, mochte er normalerweise zu sehr um ihr diesen Blick zu zeigen. Er machte viel Spaß mit, aber anhand dieses Gesichtes sah man, dass es genug war. Dabei hatte Emma gerade mal einen Satz gesagt.
„Emma, hast du etwa ein Haustier von dem du sagen kannst ihr verehrt euch gegenseitig?“, sagte er und nichts an ihm ließ erkennen, dass er vielleicht scherzte.
Man merkte jetzt, dass er sich genauso fühlte, wie er es rüberbrachte. Unter tausend Menschen wäre Emma, nach mir, die erste Person, die seinen Ernst erkannt hätte.
Und Emma reagierte schnell, schneller als ich gedacht hatte. Bereits, als er seinen Satz beendet hatte, verstummte das Lachen neben mir. Aber einen Hauch von Grinsen konnte sie sich so schnell nicht verkneifen.
„Sam, du weißt doch wie ich das meine. Es ist nichts Böses gegen dich. Der Umgang zwischen Schnitzel und dir ist nun mal witzig anzusehen.“
Sein Blick veränderte sich nicht aber verfinsterte sich auch nicht. „Tut mir leid, dass ich den Kleinen noch nicht im Griff habe! Er war bis jetzt sein ganzes Leben in einer Tierhandlung und ist an die neue Umgebung noch nicht gewöhnt. Sorry aber so wurden Tiere leider gemacht und niemand außer der da oben kann es ändern.“
Jetzt wurde er etwas ruhiger. Emma dagegen umso nervöser. Sichtlich angespannt fuhr sie sich mit ihren Händen durch die Haare. Obwohl sie weder Sam noch mich anschaute, sondern ihr Blick auf den Tisch gerichtet war (was sie immer tat, wenn sie nicht weiter wusste), konnte ich einen Hauch von Angst in ihren Augen erkennen. Sie hatte nie vorgehabt Sam zu verärgern, aber aus dieser Situation kam sie nicht mehr heraus.
Bevor sie versuchte halb weinend, halb spielend Sam zu beruhigen und sich bei ihm zu entschuldigen, nahm ich es selbst in die Hand. An meinem letzten Tag hier wollte ich mich noch einmal freuen und die guten Seiten der Schule erkennen, ganz zu schweigen von einem fröhlichen Miteinander mit Sam und Emma. Das letzte, das ich wollte, war ein Streit. Nicht heute!
„Würdet ihr beide euch bitte nicht so anfauchen! Das könnt ihr meinetwegen in den nächsten Tagen machen, wenn das Wetter sich wieder verschlechtert aber nicht heute!“
„Ich bin nicht der, der damit angefangen hat“, redete Sam sich heraus, aber mir reichte es momentan.
„Das ist mir so egal. Ist es denn zu viel verlangt sich für mich mal heute nicht zu streiten.“ Emma hob ihren Kopf zu mir. Sie hatte ihre Tränen bändigen können, ging dafür aber auf mich los. „Was heißt denn hier mal? Sam und ich streiten uns weniger als du und ich, und ob wir uns jetzt streiten oder wann anders ist doch egal.“
Meine Hand ballte sich unter dem Tisch zu einer Faust. „Nein ist es nicht. Ist es denn für euch so wichtig euch zu streiten?“
„Katrin, glaubst du es macht mir Spaß mich mit Emma oder dir zu streiten? Sie findet es lustig, dass ich, nur weil ich mich um mein Haustier kümmere, Narben bekomme und entschuldigt sich noch nicht einmal.“
Sofort blitzen die Bilder von Shaynia vor mir auf. Das waren Narben und nicht die kleinen Kratzer an Sams Arm.
„Das nennst du Narben? Glaub mir, du hast keine Ahnung davon, was Narben sind und wie sie entstehen. Der Schmerz aus dem sie entstehen ist tausendmal grausamer, als die kleinen Bisse eines Hamsters! Sogar Emmas Verletzung ist keine Narbe aber sichtlich schlimmer als deine.“
„Jetzt fängst du auch noch damit an. Merkst du was?“, genervt stand er auf, nahm sein Tablett und machte sich auf den Weg, um sein Tablett auf den Berg von anderen Tabletts von Leuten die fertig mit essen waren, zu stapeln.
Ich hätte ihn am liebsten wieder zurückgezogen, aber er verließ die Cafeteria ja nicht. Emma, neben mir, nutzte die Abwesenheit von Sam und biss kurz in ihr Sandwich, bevor sie ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ.
„Ich habe mich bis jetzt immer entschuldigt und die meisten haben meine Entschuldigung auch angenommen, aber bei ihm bin ich ratlos. Was soll ich tun Katrin?“
„Wieso fragst du mich?“
„Weil du ihn so gut kennst wie fast niemand. Wenn ich mich nicht täusche, ist das sogar einer eurer ersten Streits, wenn nicht sogar der erste.“
Sie schluckte den Rest des Sandwiches herunter und stellte die lehre Apfelsaftflasche auf ihr Tablett und zerknüllte die Frischhaltefolie.
„Willst du mein Sandwich?“
Sie wies auf das Sandwich, das noch unberührt auf ihrem Tablett lag.
„Nein Danke.“
„Katrin, du musst was essen. Du hast heute noch nichts gegessen, geschweige denn es vorgehabt und es ist mit Thunfisch belegt.“
Ich lächelte sie an. „Ich habe keinen Hunger. Mir ist im Moment nicht nach essen, sonst hätte ich die Theken schon gestürmt.“
„Wenn du das sagst“, sie zuckte die Achseln und steckte das Sandwich in ihre Tasche. „Dann hohl ich es eben mit. Wenigstens hab ich dann eine Alternative falls es kein Mittagessen gibt.“
Mittagessen. In diesen zwei zusammengesetzten Wörtern steckte das Wort Mittag und wenn dieser kommen würde, würde ich Kells schon verlassen haben.
Um mich von ihren Worten abzulenken sah ich zu Sam. Er hatte das Tablett abgestellt und drehte sich nun wieder in unsere Richtung.
„Macht jetzt eine Pause und besprecht das Thema ein andermal. Aber bitte nicht, wenn ich dabei bin“, sagte ich noch schnell zu Emma, bevor Sam den Tisch erreichte und ich davon ausgehen konnte, dass er meine Worte noch nicht gehört hatte.
Sam wollte anscheinend dem Streit auch endflüchten. „Gehen wir lieber raus. Jetzt wo man die Sonne noch sieht“, fing er an als er vor dem Tisch, anstatt sich zu setzen, stehen blieb und sich die Jacke vom Stuhl nahm um sie sich anzuziehen. Unsicher über ihren nächsten Schritt sah mich Emma an.
Als ich nickte ahmte sie Sam nach, indem auch sie ihr Tablett auf die andere Seite des Raums beförderte, mit den Worten: „Klar, muss nur noch schnell was erledigen.“
Nachdem auch ich mich erhoben hatte und den Stuhl heran schob, war Sam schon an der Tür, die aus der Cafeteria führte, angekommen. Verwirrt schaute ich von ihm zu der Tür umringt von Fenstern, die sofort ins Freie führte und danach wieder zu ihm.
„Wäre es nicht logischer, die Tür zu nehmen?“
Ich wies auf den schnellsten Weg nach draußen, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Als du versucht hast Simon zu entweichen war Mr. Qualls kurz da und hat die Tür für kaputt erklärt. Das heißt, sie klemmt eigentlich nur, aber wenn sich dort Frost abgesetzt hat kann es gut möglich sein, dass wenn man die Tür versucht aufzumachen, die Tür wirklich kaputt ist und ich glaube niemand möchte diesen Schaden ersetzen.“
Ein einfaches die Tür ist defekt hätte auch gereicht. Aber es freute mich, dass er wieder normal sprach und ruhig, einfach so wie ich ihn kannte. Jetzt leuchtete es mir auch, wieso alle den Hauptausgang genommen hatten und nicht den Weg durch die Cafeteria nahmen, um sich auf dem Weg noch ein Lunchpaket mitzunehmen.
Als Emma fertig war, machten wir uns auf den Weg zur Eingangshalle. Während wir die zwei, drei Flure durchquerten, war es fasst totenstill. Als wäre die Schule verlassen. Selbst die Lehrer verbrachten ihre Pause draußen. Die Stimmen der Schüler wurden erst wieder deutlicher, als wir in den Flur, der zur Eingangshalle führte, bogen. Schon rechts an der blauen Wand spiegelte sich das Sonnenlicht. Mit fünf weiteren Schritten waren wir mitten im Geschehen.
Aufgrund der Kälte draußen, obwohl die Sonne stark schien, hielten sich die meisten Schüler wieder im Gebäude auf. Da die Eingangshalle vollständig aus Glas bestand, leuchteten die Strahlen alles an, was sie erreichen konnten und ließen dadurch alles glänzen. Vor allem betraf das die feuchten Treppen. Nur die Sonne zu sehen reichte den meisten wohl völlig aus. Beide Eingangstüren standen sperrangelweit offen, sodass es für die anderen kein Gedränge gab. Nichts lieber wollte ich, als, trotz der Eiseskälte, rauszugehen, aber ich war mir unschlüssig darüber, ob ich da die einzige wäre.
Als Sam auf die Tür zuging, folgte ich ihm mit einem Rückenblick auf Emma, welche uns folgte.
Es kribbelte in meinem Bauch, als ich auf die kalte Spätherbstluft stieß. Dass die Sonnenstrahlen nur als Dekoration dienten, wurde jedem spätestens dann klar, wenn sie die Luft vollständig umgab. Aber mir war die Sonne sowieso egal. Ich brauchte sie nicht. Seit die Familie Cabot in mein Leben getreten war, existierte die Sonne für mich nicht mehr als leuchtender Ball am Himmel, sondern als Menschen. Menschen wie Kyran, den ich nicht verloren hatte. Ich vergaß alles um mich herum, schloss die Augen und ließ meinen Körper zu Eis erstarren. Die Legende der Adelsfamilie von Alvarez. Sie fühlte sich so richtig an. Alle Vorfahren von Kyran, George, Theodore, Letitia, Ketlin, Rizza, Vigilus … als würden sie direkt neben mir stehen. Ich hatte Sehnsucht nach ihnen, obwohl ich sie noch nicht einmal kennengelernt hatte. Sie existierten nur in meinem Kopf, nur in meinem einen Traum.
Ich erinnerte mich jetzt an etwas, das mir damals nicht aufgefallen war. Ich hatte Theodore in meinem Traum gesehen. Der Moment, wo er den Schwur aussprach. Ich hatte für wenige Millisekunden vor mir auf den Boden gesehen und einen Zipfel von violetter Seide entdeckt. Von meinen Haaren baumelte eine kleine Locke hinunter. Mir war klar, was das bedeutete. Ich hatte in dieser Nacht in der Adelsfamilie eine Rolle gespielt, wenn auch nur unsichtbar, weil ich wusste, dass es nur ein Traum war und daher für den Verlauf der weiteren Geschichte bedeutungslos. Theodore hätte mich in diesem Moment aber sehen können, da ich versucht hätte mein wirkliches Leben zu retten, wenn ich zu ihm gegangen wäre um ihm den Schwur auszureden.
Aus Angst um mein Leben, hätte ich in diesem Moment mein Schicksal verändern können und wäre vielleicht sogar mit Vater aufgewachsen, aber es gab etwas, das mich daran hinderte. Es hinderte mich so sehr daran, dass ich jede Nacht diese Szene vor Augen haben könnte, mich aber nie anders entscheiden würde. Auch wenn ich damit mein Leben immer wieder aufs Neue riskierte. Es waren Matt, Kyran, Shaynia, Keira, Charlene und Lucan, die Familie Cabot. Sie waren mit das Beste, das mir je in meinem Leben passiert war. Wäre dieser Schwur nie ausgesprochen worden, wäre Tyrece nie darauf aus gewesen mich zu töten, Victoria wäre vielleicht nie mehr auf die Idee gekommen, mit den Cabots wieder Kontakt zu halten und ich wäre ihnen nie begegnet.
Über das Eis meiner Haut kullerten sanfte Kristalle.
Jemand schmiegte sich von hinten an mich und ich klammerte mich an seine Hände, als diese meinen Oberkörper umschlungen. Ein warmer Atem strömte an meiner linken Kopfhälfte vorbei. Als ich die Hände berührte, wünschte ich mir, dass es wieder nur ein Traum war, nach dem ich Matt wieder in die Augen sehen konnte. Ich wünschte mir, dass es Matt war, der mich im Arm hielt.
Die Stimme des Unbekannten ließ sich aber nicht seiner Person zuordnen.
„Ich weiß, dass der Abschied für dich nicht leicht ist. Du wirst sie aber wiedersehen. Darauf gebe ich dir mein Wort. Falls ich mein Versprechen nicht halten kann, darfst du mir auch Anstelle meines Bruders als erstes den Kopf abreißen.“
Kyrans Worte taten mir mehr als gut. Ich hatte ihn gar nicht in die Schule kommen sehen. Ich drehte mich zuerst zu ihm um, bevor ich meine Augen öffnete. Wieso war mir klar, dass er lächelte? Kaum, dass ich mich nach Emma und Sam erkunden wollte, nahm er meine Hand und rannte mit mir wieder in das Gebäude.
Auf die Frage, was denn los sei, antwortete er: „Mr. Raycolme will dich sprechen.“
Was wollte denn jetzt der Direktor höchstpersönlich von mir. Wollte er mir etwa ein frohes Überleben wünschen?
Jedenfalls erwartete ich nicht nur ihn vor seinem Büro. Victoria stand neben ihm und ging eine Mappe mit meinen Schuldaten durch.
Als Mr. Raycolme uns kommen sah, klatschte er laut in die Hände.
„Mrs. Bell! Sie sind eine so vorzeigbare Schülerin. Dass es Ihnen aufgrund der Auseinandersetzung mit Mr. Thorpe nicht mehr sonderlich gut geht, kann ich nachvollziehen. Zum Glück waren keine festen Handgreiflichkeiten im Spiel. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich finde es gut, dass Sie eine Therapie absolvieren, aber dass Sie dafür nach Deutschland ziehen müssen, wäre für jeden von uns wohl eine sehr extreme Situation“, erklärte er mir.
Als Deutschland ins Spiel kam schaute Victoria ihn misstrauisch an.
Mr. Raycolme versuchte sich sofort zu korrigieren. „Ich meine, ich selber war schon oft in Deutschland, dort wohnen Freunde meiner Familie, aber für eine Fünfzehnjährige ist das garantiert ein großes Abenteuer. Gerade wenn man seine Freunde zurücklassen muss.“ Bevor er weiterreden konnte, unterbrach ich ihn.
„Ich komme damit schon klar“, ich blickte neben mich zu Kyran. „Es ist ja nicht für immer.“
„Aber selbstverständlich nicht, Mrs. Bell. Aber bitte gehen Sie davon aus, dass wir Sie, wenn alles vorbei ist wieder herzlichst hier empfangen werden.“
Ich versuchte halbwegs zu lächeln. „Danke Sir.“
„Und was Mr. Thorpe betrifft“, fuhr er schnell fort. „Er hat schon einen Tadel und für diese Aktion, gerade auch für die Folgen danach, hätte er sich zwei verdient.“
„Bloß nicht“, rief ich. „Es ist nicht so schlimm. Geben Sie Simon einen wenn sie wollen, aber einen Schulverweis finde ich nicht notwendig.“
„Ich schließe mich Katrin an“, unterstützte mich Kyran.
„Wie Sie wollen. Demnach nur ein Tadel.“
Ich atmete tief durch. Einen Verweis hatte Simon nicht verdient.
Victoria war die Mappe durchgegangen und sah beeindruckt zu Mr. Raycolme.
„So eine Mappe kann nicht jeder vorzeigen. So habe ich sie erzogen“, triumphierte sie. Diese Reaktion konnte ich so gar nicht nachvollziehen.
„Sicher, dass du dabei nicht doch Fehler gemacht hast?“
Sie schaute zu mir. Für das heutige Verhältnis zwischen meiner Mom und mir wollte ich keine Tränen vergeuden. Sonst wäre ich sicher schon auf die Mädchentoilette geflüchtet und hätte mich so lange dort versteckt, bis jemand gekommen wäre, den ich in mein Leben ließ. Im Augenblick waren das nicht besonders viele und Einige waren von mir schon geflüchtet. Um keine anderen Verluste zu machen, bohrte ich nicht weiterhin auf ihr herum. Das würde auch einen schlechten letzten Eindruck vor Mr. Raycolme machen.
„Entschuldigung. Eine dumme Frage von mir.“
Victoria atmete tief durch und blickte plötzlich hinter mich.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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