Anita Voncina

Der Aufsatz

Karli sass in seiner neuen Klasse, der Sexta des städtischen Knabengymnasiums, und starrte schon seit einer ganzen Weile unbeweglich  auf die schwungvollen weissen Kreidebuchstaben auf der schwarzen Tafel hinter dem Lehrerpult.
“Mein Fahrrad”, las er zum wiederholten Male lautlos und biss dann jedes Mal ratlos auf seiner Unterlippe herum. “Mein Fahrrad, oh je”, dachte er und stellte abschliessend fest, dass dieses Thema für ihn auf keinen Fall zu bearbeiten sei. Denn der kleine Karl hatte gar kein Fahrrad. Doch er wusste ebenso ganz genau, dass es für ihn trotzdem keine Möglichkeit geben würde, sich aus diesem Grunde an der gestellten Aufgabe vorbeizumogeln, und anscheinend war er mit seinem Problem auch noch ganz allein.
Karli schickte seinen verzweifelten Blick auf Reisen, hinweg über die schon längst eifrig über ihre Blätter gesenkten Köpfe seiner Klassenkameraden mit ihren sorgfältig gebürsteten, akkurat gescheitelten Haaren, bis hin zum schmalen Gesicht des Lehrers vorne auf seinem Holzstuhl hinter dem Lehrerpult, mit den ernsten Augen hinter seiner runden Brille. Die wilden, weissen Locken, die diesem beim Reden immer wieder in die Stirne fielen und ihm in solchen Momenten wenigstens etwas von der unerbittlichen Strenge nahmen, mit der dieser normaler Weise seine Schüler zu betrachten pflegte.  Durch die hohen, schmalen Sprossenfenster fiel das fahle Licht eines trüben Oktobertages herein in das vollbesetzte Klassenzimmer und passte damit eigentlich sehr gut zu Karlis trübsinnigen Gedanken und zu seiner Erkenntnis, dass ganz offensichtlich er der einzige Junge seiner Klasse sei, der selbst kein  eigenes Fahrrad besitzen würde. “Wie gerne ich aber eines hätte”, stellte er abschliessend fest und verlor sich für eine weitere Weile in der Vorstellung, was er, Karli, mit solch einem eigenen Fahrrad dann so alles machen könnte.
      Und dann war sie plötzlich geboren, die Idee im Kopf des ratlosen Kindes, sie liess die Gedanken sich überschlagen und sein Herz vor Aufregung laut pochen. Als Karli danach sogleich das kleine Tintenfass am oberen Rand der schräggestellten Schreibfläche  seiner hölzernen Schulbank aufgeschraubt hatte, musste er sich mühsam zügeln, um seinen Federhalter nicht zu tief in die Tinte einzutauchen und die Feder danach sorgfältig genug am Glasrand abzustreifen, bevor er begann die Überschrift des Aufsatzes auf das Papier zu schreiben:
“Wenn ich ein Fahrrad hätte”
Danach begannen die Worte aus seinen Gedanken herauszusprudeln und wie von selbst ihren Weg auf das Blatt Papier zu finden. Karli erzählte davon, dass er, wenn er ein Fahrrad besässe, mit diesem der glücklichste Junge der Welt sein würde, denn er könnte fortan mit diesem die Grossmutter besuchen, die in einem anderen Stadtviertel wohnte. Oder der Mutter die Einkäufe abnehmen, denn dazu wäre ein Gepäckträger ja wohl da. Er würde im Sommer hinunter zum Fluss radeln können, um dort zu schwimmen, oder in den Wald fahren, der ein ganzes Stück weit von der Wohnung entfernt war, um dort Pilze zu sammeln. Oder er könnte dem Vater die Brotzeit im Geschäft vorbeibringen, wenn dieser sie wieder einmal daheim in der Küche liegengelassen hatte. So viele Dinge gäbe es mit einem Fahrrad zu tun, so viele Abenteuer zu erleben, so viel Freude, wenn er es pflegen könnte, wie er es bei den Erwachsenen schon so oft gesehen hatte.  Ja, wenn er ein Fahrrad hätte!
Als die schrille Schulglocke das Ende der Stunde und damit auch das Ende der Arbeitszeit für den Aufsatz anzeigte, waren Karlis Wangen gerötet, seine Augen glänzten vor Aufregung und seine rechte Hand schmerzte vor Anstrengung, so oft hatte er seinen Federhalter ins Tintenglas gesteckt und so schnell hatte er  all diese Träume zu Papier gebracht. Ganz offensichtlich hatten sie in seinen Gedanken nur darauf gewartet, eines Tages endlich niedergeschrieben zu werden. Als der Schlusssatz beendet und mit dem Löschpapier getrocknet war, stand Karli auf, ging nach vorne und legte ihn zu den anderen Aufsatzblättern auf das Lehrerpult. Und danach setzte er sich wieder auf seinen Platz, wie von einer grossen Last befreit.
      Am folgenden Tag, als die Schulglocke die grosse Pause beendet hatte und der Deutschlehrer das Klassenzimmer betrat, herrschte angespannte Stille unter den Schülern. Auch Karli verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen als er zusah, wie der Lehrer seine abgewetzte Ledermappe auf das Pult gestellt und umständlich geöffnet hatte, und schliesslich den Packen der Aufsatzblätter in der Hand hielt. Danach legte der Lehrer die Blätter, zu drei Stapeln geordnet, vor sich auf das Pult und richtete sich zu seiner ganzen Länge auf.
“In diesem Stapel befinden sich die Aufsätze jener Schüler, die vermutlich wirklich ein eigenes Fahrrad besitzen”, erklärte er der Klasse und deutete auf eine nur kleine Ansammlung beschriebener Blätter, “in jenem jedoch”, sagte er und deutete nun auf den grössten Stapel, “sind die Arbeiten derer, die wohl gar kein eigenes Fahrrad besitzen, die jedoch dabei ihrer Fantasie zu freien Lauf gelassen und sich zu den wildesten, leider auch durchweg unglaublichen Geschichten hinreissen haben lassen”. Danach liess der Lehrer seinen suchenden Blick über die Köpfe seiner Schüler kreisen, verweilte bei einem oder anderem ein wenig länger und  fügte dann in eindringlichem Tonfall hinzu, dass er solch unglaubwürdige Gehirngespinnste, wie zum Beispiel eine Reise zum Mond oder hinab bis in die tiefsten Meeresgründe, alles auf dem Rücken eines Drahtesels, auf keinen Fall akzeptieren könne. Und mit einer entsprechenden Note bewertet hatte. Als er sich dann seine weissen Locken, die ihm während seiner Rede ins Gesicht gefallen waren, wieder aus der Stirn geschoben hatte, zeigte er abschliessend auf den dritte Stapel vor sich auf dem Pult, der nur aus einem einzigen, doppelseitig beschriebenen Papier bestand und blickte dabei dem kleinen Karl freundlich in die Augen. “Diese Arbeit”, sagte er “hat mir besonders gut gefallen; sie ist aufrichtig und ehrlich, und sie erzählt mit dem Herzen.”  
      Als der Lehrer danach die Arbeiten austeilte, war er dabei zufrieden mit seiner Entscheidung, auch in diesem Schuljahr wieder jenes Aufsatzthema gestellt zu haben. So wie er es schon seit Jahren tat, in jeder der untersten Klassen dieses Gymnasiums. Und dabei immer wieder das Gefühl hatte, als könne er mit der so unterschiedlichen Art der Kinder dieser Themenstellung zu begegnen, sich einen schnellen, jedoch sehr aufschlussreichen Blick in deren Gedanken und damit auch in deren Herz verschaffen. Dass die meisten seiner Schüler in jenen entbehrungsreichen Vorkriegsjahren gar kein eigenes Fahrrad besassen, das war ihm dabei völlig klar.
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anita Voncina).
Der Beitrag wurde von Anita Voncina auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Anita Voncina als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Unser Literaturinselchen - An vertrauten Ufern von Elfie Nadolny



Bebilderte Gedichte und Geschichten von Elfie und Klaus Nadolny

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Schule" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Anita Voncina

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Das dritte Kind von Anita Voncina (Wie das Leben so spielt)
Das kann ja heiter werden von Siegfried Fischer (Schule)
Wahre Werbung von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen