Horst Lux

Randerlebnis

Ich war diesen Weg noch nicht so oft zu Fuß gegangen, heute musste es mal sein. Dieser Weg zum kleinen Bahnhof außerhalb des Ortes war schon beschwerlich, zumal es an diesem ungemütlichen Wintertag besser gewesen wäre, daheim in den warmen vier Wänden zu bleiben.

Die Bäume der Pappelallee hielten mit ihren kahlen Zweigen schon ihren Winterschlaf, gewiss träumten sie von den wärmenden Tagen des noch weit entfernten Frühlings. Nebel stieg aus den Niederungen auf und wickelte die Felder und Wiesen in ein graues Tuch mit filigranen Fransen ein. Die kalte Winterluft schlich leise durch die hohen trockenen Gräser, die vielfach durch weiß-silberne Spinnennetze verwoben waren.

Es war still. Eine vollkommene Ruhe hatte sich über das Land gelegt. Die Vögel des Sommers hatten sich zurückgezogen, sie würden nun für lange Zeit verstummen. Es war eine richtige Abschiedsstimmung, die in der Luft lag. Die Leichtigkeit des Sommers einfach verschwunden. Diese Stimmung legte sich erdrückend auf Erde und Gemüt der Menschen und hielten sie in ihrem Bann.

Einen Steinwurf vor mir ging ein alter Mann den gleichen Weg. Seine Schritte waren langsam und schwerfällig. Die linke Hand steckte tief in seiner Manteltasche. Die rechte schlenkerte herum, griff ab und zu ins Leere oder gestikulierte. Es hatte den Anschein, als diskutiere er mit einer unsichtbaren Person. Immer dann nämlich, wenn seine Hand nach rechts griff, wendete er ebenfalls seinen Kopf in die gleiche Richtung. Dann wirkten auch seine Schritte irgendwie beschwingter, leichter.

Eine geraume Zeit ging ich bereits hinter diesem Mann her. Ich beobachtete ihn schon eine ganze Weile. Meine Schritte passte ich dabei seinem Schritttempo an und bald waren wir auch schon an dem kleinen Bahnhof angelangt.

Auf dem schmalen Bahnsteig warteten bereits einige Personen auf den kleinen grünen Triebwagen, der in Kürze eintreffen musste.
Dieser Bahnhof hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Früher war er ein beliebter Anlaufpunkt der Menschen des kleinen Ortes. Hier hielten früher zeitweise sogar Schnellzüge, die die Fahrgäste in die Großstadt beförderten. Heute wirkte er mit seiner morbiden Fassade aus der Gründerzeit nicht nur verfallen, er war es auch. Der Putz hatte sich an vielen Stellen von der Wand gelöst und lag in hässlichen kleinen Häufchen an den Rändern des Gebäudes. Es war, als hätte sich das Leben hier endgültig von der Zeit verabschiedet. Schon längst benutzte diesen Bahnhof nur noch gelegentlich die Regionalbahn als Haltepunkt.

Über der Betrachtung des Bahnsteigs war ich unbeabsichtigt an dem alten Mann vorübergegangen und stand nun einige Meter neben ihm.
Sein ganzes Leben konnte man ihm vom Gesicht ablesen. Sein Blick erschien trüb, dunkle Ringe umrahmten die Augen. Wie eingekerbt zogen sich tiefe Falten durch sein Gesicht. Beim Näherkommen wirkten seine Augen weniger müde. Es erschien mir geradezu spitzbübisch, wenn er zur Seite schaute und immer wieder nach rechts blickte. Er flüsterte leise und beschwichtigend zu einer imaginären Person.

Als er mich wahrnahm, fühlte er sich scheinbar ertappt, nickte mir freundlich zu und sagte leise mit einem Lächeln in den Augen:
»Wissen Sie, sie fährt gleich zu ihrer Mutter!«
Auf meinen erstaunten Blick hin bemerkte er dann noch fast entschuldigend:
»Wir waren doch seit sechzig Jahren noch nie getrennt. Sie ist da etwas unbeholfen. Aber ich bin ja da!«
Dabei zwinkerte er mir verlegen lächelnd zu und schaute danach mit beruhigendem Blick ins Leere neben sich. Dabei streichelte seine rechte Hand zärtlich ein imaginäres Etwas. Wir standen ein paar Armlängen voneinander entfernt. Ich konnte ihn zwar flüstern hören, seine Worte aber nicht mehr verstehen.

Der graue Nebel schwebte wie ein Schleiervorhang über Bahnhof und Gleise, verschluckte die Geräusche fast bis zur Unhörbarkeit.
Ich gehe sogar so weit zu sagen, er legte sich auch auf mein Gemüt. Ich wurde sehr nachdenklich beim Anblick des alten Mannes.

Der kurze Regionalzug schlich endlich aus dem Nebelvorhang heraus. Ich stieg ein, sah den Alten noch auf dem Bahnsteig stehen und in ein Fenster des Wagens hineinschauen. Sein Gesicht in dem dämmerigen Licht schien erschreckend grau. An seinen Wangen liefen Tränen herunter. Als der Zug nun anfuhr, hob er langsam seinen rechten Arm und begann dann mit schwachen Bewegungen zu winken. Sein Blick schaute dabei ins Leere - in die Unendlichkeit.

Auf dem Sitz vor mir saßen zwei mitreisende Frauen, die ebenfalls gerade eingestiegen waren. Ich bemerkte, wie diese amüsiert ihre Köpfe schüttelten:
»Schau doch mal, der verrückte Alte! Der steht schon wieder da und winkt. Dabei ist seine Frau doch schon zwei Jahre unter der Erde!«

Ich kannte diese Leute nicht, aber ich fühlte mich bei diesen Worten richtig klein und hilflos ...

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Jahre wie Nebel: Ein grünes Jahrzehnt in dunkler Zeit von Horst Lux



Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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