Irene Beddies

Die Schwimmflügel


 
Es regnete unentwegt. Missmutig schaute Berta im Kindergarten aus dem Fenster. Ob der Regen vielleicht am Nachmittag aufhören würde? Sie drückte immer wieder die Daumen, selbst beim Essen.
 
Gerda holte sie wie gewöhnlich um 16 Uhr mit dem Auto ab. Da regnete es noch immer. Berta war enttäuscht. „Kannst du den Regen nicht aufhalten, Mama?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht ging.
„Du kannst es wohl nicht abwarten, das Schwimmen zu lernen“, meinte Mama nur. Und als sie das verzweifelte Gesichtchen  neben sich anschaute, versprach sie: „Du darfst heute schon die Schwimmflügel auspacken und anprobieren.“ Berta strahlte und fing an, zufrieden ein Lied zu summen.
 
Zu Hause lag das Päckchen mit den Schwimmhilfen auf dem Tisch im Flur. Berta packte es und rannte damit ins Wohnzimmer.
„Zieh bitte erst die Schuhe aus!“, forderte Gerda. Berta rannte zurück in den Flur, schleuderte die Schuhe von den Füßen und rannte auf Socken zurück. Sie riss das Päckchen auf und holte die Schwimmflügel heraus. Sie sahen nicht so aus wie die von Kindern im Schwimmbad. Sie waren irgendwie dünner. Trotzdem steckte sie ihren rechten Arm in einen Flügel. „Mama, das sieht aber komisch aus. Kann man so damit schwimmen?“  „Aber geh, sie müssen doch erst aufgepustet werden.“
Gerda nahm den liegen gebliebenen in die Hand und pustete ihn auf. „So, steck jetzt einmal deinen Arm hinein.“
Es machte etwas Mühe, den Arm in den strammen Schwimmflügel hineinzubekommen, das Plastikmaterial war nicht besonders glatt.
„Warte Schätzchen, den anderen blase ich an deinem Arm auf, das geht besser.“
Als Berta an beiden Armen die luftgefüllten Dinger hatte, lief sie schnell vor den großen Spiegel im Flur, um sich zu bestaunen. Da stand sie nun in Jeans, ihrem Ringel-T-Shirt und den fetten Schwimmflügeln um die Arme. „Die  sehen ja aus wie Luftballons“, kicherte sie und drehte sich hin und her. Sie gefiel sich ausnehmend gut. „Ich behalte sie gleich an, damit Mira und Paolo sehen, wie gut das aussieht!“
 Mira kam die Treppe herunter, stutzte kurz, als sie Berta sich vor dem Spiegel drehen sah, dann lachte sie laut: „He du kleine Elfe mit orangenen Flügeln, gefällst du dir?“ Berta sah sie an. „Ich mag die Flügel, auch wenn sie so dick aussehen.“
 
Zum Abendessen erschien Berta immer noch mit den Schwimmflügeln um. Die Familie sagte nichts. Berta hatte es etwas schwer, Spaghetti zu essen, ohne dabei Tomatensoße zu verkleckern, aber sie schaffte es. Papa sah sie ein wenig bewundernd an.  „Das hätte ich nun nicht für möglich gehalten“, meinte er anerkennend. Berta war glücklich.
Der erste schreckliche Augenblick kam, als sie in die Badewanne sollte. Zum Ausziehen musste sie die geliebten Dinger herunterstreifen, was nicht ohne Tränen ging. Mira meinte, sie könne doch schon mal in der Wanne ausprobieren, wie sich die ‚Elfenflügel‘ im Wasser anfühlten. Da gab es natürlich kein Halten mehr. Am Schluss wollte Berta gar nicht aus der Wanne kommen. Die Flügel wurden ihr von Mira aber wieder abgenommen, denn mit ihnen konnte sie Berta nicht abtrocknen.
Als Berta im Nachthemd stand, nahm sie ein Handtuch und trocknete hingebungsvoll ihre immer noch stramm aufgepusteten Lieblinge. Sie streifte sie mühsam wieder über und bewegte sich in Richtung ihres Zimmers.
 
„He, kleine Elfe, willst du etwa mit den Dingern schlafen?“, fragte Mama argwöhnisch. „Ja“, strahlte Berta, „dann kann ich sie noch ein wenig fühlen, bevor die Träume kommen.“
Gerda erlaubte es ihrer Tochter in der Hoffnung, dass sie Berta zu ungemütlich zum Schlafen würden. Beseligt legte das Kind sich ins Bett.
Auf dem Rücken lag sie da, strahlte und hatte ihre Ärmchen über dem Bauch gekreuzt, denn anders hatten sie keinen Platz. Lange konnte sie nicht einschlafen, es war zu ungewohnt, dass sie nicht auf der Seite liegen konnte.
 
Um Mitternacht kam der Vater in ihr Zimmer. Er ließ einfach die Luft aus den Schwimmflügeln. Berta schlief ruhig weiter und drehte sich nach ein paar Minuten auf die Seite.
 
 
© I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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