Michael Dauk

SPURENSUCHE (SIZMAS TOCHTER)

SPURENSUCHE (SIZMAS TOCHTER)

Hier, ´halt mal eben mein Rad, mir ist was ins Auge geflogen.“ Verena Vombusch schob das Fahrrad zu ihrer Freundin Monica Winter hinüber und wischte sich eine Fliege aus dem Augenwinkel. Der böige Wind wirbelte kleine Staubfahnen über den Sandweg im Eppendorfer Park. Verena und Monica hatten den letzten Schultag vor den Sommerferien hinter sich gebracht und waren vom Gymnasium Curschmannstraße auf dem Weg nach Hause. Sie gingen diese Strecke durch den Park häufig gemeinsam, um miteinander zu klönen.

Komm´, lass´ uns noch einen Kaffee trinken!“ Monica zog Verena zum kleinen Café, das sich im ehemaligen Toilettenhäuschen gegenüber dem früheren Haupteingang des Universitätsklinikums Eppendorf etabliert hatte.

Verena band ihre fast hüftlangen schwarzen krausen Haare mit einem Gummi zusammen und lehnte sich wohlig auf der Holzbank zurück. Ihr leichtes Sommerkleid mit dem Paisleymuster ließ ihre naturbraunen Arme und Beine vorteilhaft zur Geltung kommen. Ein rotbraunes Eichhörnchen flitzte den nahen Baumstamm hinauf, verharrte auf halber Höhe, warf einen kurzen Blick auf das Mädchen und setzte seinen Weg mit unverminderter Geschwindigkeit fort.

Sag´ mal, willst du nicht endlich einmal etwas dagegen unternehmen, dass du ständig als Türkin bezeichnet wirst?“ Monica kramte ein Päckchen Javaanse Jongens Tembaco aus ihrem Rucksack und begann sich eine Zigarette zu drehen. Auf einem Ast über dem Tisch der beiden Mädchen machte es sich eine Elster unter lautem Meckern bequem. Verena blickte hoch.

Wenn du auch nur einmal in meinen Kaffee scheißt, reiß´ ich dir jede Feder einzeln aus!“ Und zu ihrer Freundin gewandt: „Nöö, wieso denn? Drehst du mir auch eine? Es stört mich nicht wirklich. Ich find´s nur deshalb blöde, weil es einfach nicht stimmt. Genau so gut könnte ich als Finnin, Japanerin oder Fidschi-Insulanerin betitelt werden – ich bin´s eben nicht, ich bin halt eine Deutsche. Nicht, dass ich darauf stolz bin; es ist nicht mein Verdienst, dass meine Mutter ebenfalls Deutsche war und sie mich in Hamburg zur Welt gebracht hat. Nein, nicht mein Verdienst. Ich hatte einfach nur Glück. Uns hätte es erheblich schlechter treffen können, oder nicht? Bist du bald fertig mit deiner Kurbelei?“

Dabei dachte ich, du rauchst nicht! Aber bitte, wenn du unbedingt möchtest.“ Monica reichte eine Selbstgedrehte herüber, die mehr einem zu kleinen verschrumpelten Rettich als einer Zigarette glich. Verena nahm zwei Züge, drückte die Kippe angewidert aus und meinte:

Ich glaub´, ich werd´ mich niemals an das Zeug gewöhnen können.“

Musst du ja auch nicht. Aber etwas Anderes: warum hat dein Vater eigentlich nicht wieder geheiratet?“ Monica war für ihre Art berüchtigt, abrupt die Themen zu wechseln und sehr direkt zu sein.

So wirklich weiß ich es nicht. Ich hab´ doch nie mit ihm darüber gesprochen. Ich muss es unbedingt einmal machen. Vielleicht hat er nach meiner Mutter keine vergleichbare Frau mehr getroffen. Ich kann´s nicht beurteilen, ich konnte sie ja nicht kennenlernen.“

Mag sein. Aber 16 Jahre ohne eine Frau? Ich weiß nicht. Da fällt mir ein: triffst du Peter heute Abend?“

Nein, er will zu irgend einer Versammlung und hat mir nicht gesagt, worum es da geht. Ist ja auch seine Sache.“

Ja, er macht sich schon recht rar in letzter Zeit. Ach, habt ihr eigentlich schon miteinander, du weißt schon...“

Verena lachte auf. „Das geht dich nun wirklich nichts an!“ und leiser: „Nein, haben wir nicht. Ich hab´ auch ein wenig Angst davor.“

Monica seufzte. „Mir geht’s genau so. Eigentlich möchte ich, aber Schiss hab´ ich doch. Wenn Jochen fordernder wäre, hätte es bestimmt schon geklappt. Doch er ist eben so verdammt schüchtern, so süß schüchtern.“

Stimmt, das ist er. Aber ich will jetzt los. Ich hab´ meinem Vater versprochen, das Boot reisefertig zu machen. Du weißt doch: wir machen eine Tour mit Kanu und Zelt durch das Havelland.“

Eine Sechzehnjährige Jungfrau macht während der großen Ferien allein mit ihrem Vater eine Campingtour auf dem Wasser, na toll! Dabei hat er Geld wie Heu und könnte mit ihr ans Ende der Welt fahren. Wenn ich das in meinem Club erzähle, glaubt mir kein Mensch.“

Sollen die Anderen doch zum Saufen und Ficken nach Malle fliegen. Ich freu´ mich jedenfalls wahnsinnig auf die Fahrt. Tschüss, Monica!“

Tschüss, Verena! Schreib oder mail mir mal aus dem Urlaub.“

 

*

 

Florian Vombusch hob den Kopf, als er von der Gartenpforte die Fahrradklingel hörte. Er schüttelte sich den Schleifstaub aus den Haaren und rief seiner Tochter zu:

Tolles Kleid, das du heute anhast! Aber damit willst du ja wohl nicht den Rumpf lackieren, oder?“

Verena schob das Rad in den Schuppen. „Natürlich nicht! Ich geh´ mich nur schnell umziehen.“

Wenn du ohnehin ins Haus gehst, bring´ mir doch aus meinem Schreibtisch den Plan von den Campingplätzen mit, er müsste in der rechten Schublade liegen.“

Verena eilte durch die Hintertür in das große Backsteinhaus in der Heilwigstraße, das den unschätzbaren Vorteil hatte, einen großen Garten zum Alsterlauf hin zu haben. Im Arbeitszimmer ihres Vaters nahm sie den Plan aus der Schreibtischschublade. Beim Umdrehen bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein Stück Papier aus einer anderen Lade herausragen. Sie öffnete das Fach, um das Dokument ordentlich zurück zu legen und stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Überschrift erblickte: „Heiratsurkunde“. Fassungslos las sie: „Der Journalist Florian Oliver Vombusch, wohnhaft in Hamburg, Goernestraße 96, geboren am 18. Juni 1971 in Hamburg und die Studentin Sizma Badžo, wohnhaft in Hamburg, Eimsbütteler Chaussee 44, geboren am 15. Dezember 1969 in Langeneicke, Kreis Soest/Westf. haben am 4. März 1997 vor dem Standesamt Hamburg-Nord die Ehe geschlossen.“ Sizma Badžo? Ihr Vater sprach doch immer von ihrer Mutter als Sigrid Becker! Entschlossen riss sie das Papier aus der Schublade und rannte in den Garten zurück.

Ich dachte, du wolltest dich umziehen!“ rief ihr Florian Vombusch entgegen, mit einem Ächzen unter dem umgedrehten und aufgebockten Kanu hervor kriechend.

Scheiß´ drauf! Sag´ mir lieber, was das hier ist!“ brüllte Verena und schwenkte das Dokument über ihrem Kopf. Ihr Vater ließ sich resigniert in einen Klappstuhl sinken. Er hatte sofort erkannt, was sie dort in der Hand hielt. Einen leisen Seufzer voraus schickend meinte er:

Ach, Verena... Irgendwann hättest du es ja doch erfahren.“

Was erfahren, zum Teufel auch! Wer ist diese Sizma Badžo? Und was ist mit Sigrid Becker?“

Sigrid Becker gibt es nicht, gab es nie. Sie ist eine reine Erfindung von mir.“

Wer ist dann meine Mutter? Diese Sizma Badžo? Und warum dieses ganze Theater?“

Sizma Badžo gibt es – gab es wirklich. Sie ist deine Mutter, die bei deiner Geburt gestorben ist.“

Das verstehe ich nicht. Warum durfte ich ihren richtigen Namen nicht wissen?“

Vielleicht war es ja falsch von mir. Ganz sicher war es falsch. Es geschah nur zu deinem Schutz. Ja, guck´ nicht so, zu deinem Schutz! Sizma war eine reinblütige Sinta. Du kennst doch die Vorurteile gegenüber den sogenannten Zigeunern. Dem wollte ich dich nicht aussetzen, deshalb die Lüge mit Sigrid Becker.“

Toll, wenigstens die Initialen hast du beibehalten. Jetzt leg´ mal den blöden Schleifklotz weg und erzähl´ mir Alles über Sizma Badžo!“

Es wurde ein langer Nachmittag für Verena Vombusch und ihren Vater im Garten am Ufer der Alster. Die Sonnenstrahlen fielen schon schräg durch die Zweige der alten Kastanien, die die Wasserkante säumten, als Florian schließlich schloss:

So, jetzt weißt du fast Alles über deine Mutter. Mit Sicherheit habe ich Einiges vergessen, aber das kommt noch im Lauf der Zeit. Das Lackieren lass´ mal für heute sein, das kannst du auch morgen machen. Ob wir einen Tag später losfahren, spielt wohl keine Rolle.“

Denkst du etwa, ich fahre jetzt mit dir ins Havelland, nachdem du mir dieses Alles erzählt hast? Das kannst du dir abschreiben! Ich fahre nach Langeneicke!“

So, so. Du fährst nach Langeneicke? Woher willst du, bitteschön, das Geld nehmen?“

Ich habe schließlich das Sparbuch, das...“

...an das du ohne mich nicht ran kommst. Also?“

Dann trampe ich eben. Dass ich nach Langeneicke komme, darauf kannst du Gift nehmen!“

Stopp, stopp! Werd´ doch nicht gleich wütend! Du bekommst ja das Geld. Lass´ uns mal überlegen, wie viel du benötigst.“

 

*

 

Der Bus der Linie R63 hielt mit quietschenden Bremsen vor der Kirche in Langeneicke. Verena Vombusch war der einzige Fahrgast, der ausstieg. Danach fuhr der Bus leer bis auf die Fahrerin weiter. Verena hatte eine anstrengende Fahrt hinter sich. Kurz nach sechs Uhr morgens war sie im Hamburgerer Hauptbahnhof in den Zug geklettert, in Hannover und Hamm umgestiegen und hatte schließlich in Geseke den Bus genommen. Nun stand sie mit ihrem knallgelben Rollkoffer vor dem geschlossenen Gotteshaus. Hilfesuchend blickte sie sich um. Auf der anderen Straßenseite schob eine alte Frau mühsam ihren Gehwagen über den staubigen Kiesweg. Verena lief hinüber und fragte:

Entschuldigung, können sie mir sagen, wie ich zur Alten Straße komme?“

Die Frau blieb stehen und musterte Verenas Erscheinung. „Siehst aus wie ´ne Badžo. Da, hinter dem Kirchplatz, die Straße nach halb rechts, da wohnen die Badžos. Es ist das zweite Haus auf der linken Seite, kannst du gar nicht verfehlen. Das weiße Haus. Und grüß´ schön von der alten Möllerschen, nicht vergessen, hörst du!“

Selbst dieser kurze Weg ließ Verena schwitzen. Die baumlose Straße bog keinerlei Schatten. Aus einer Hofeinfahrt bellte ihr ein angeketteter Schäferhund hinterher. Ansonsten lag das Dorf in mittäglicher Stille. Nach fünf Minuten stand sie vor der Eingangstür mit dem altmodischen Klopfer in Stiefelform. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie zaghaft den Klöppel niederfallen ließ. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Tür geöffnet wurde. Im Eingang stand eine etwa fünfzigjährige Frau von außergewöhnlicher und strenger Schönheit. Das lange, glatte tiefschwarze Haar hatte sie straff nach hinten gebunden. Ein knöchellanges dunkelblaues Kleid betonte ihre schlanke Figur. Ihr Blick aus Kohleaugen bohrte sich in den von Verena. Plötzlich löste sich eine Träne aus ihrem linken Auge und rann langsam die Wange hinunter.

Verena...?“ flüsterte sie kaum hörbar. Verena konnte nur nicken. Hätte sie versucht etwas zu sagen, hätte sie auf der Stelle losgeheult. Die Frau stürzte auf sie zu und riss sie in ihre Arme. Nach einiger Zeit hielt sie das Mädchen auf Armlänge von sich.

Lass´ dich ansehen, Mädchen!“ sprudelte es aus ihr heraus. „Ach, was, Mädchen! Eine Frau bist du doch schon. Und eine Schönheit, eine wirkliche Schönheit! Du gleichst deiner Mutter in diesem Alter auf das Haar! Aber komm´ doch herein, los, du musst deine Großmutter Ehra kennenlernen. Ach, ich bin übrigens Marie, Sizmas Schwester. Aber das hast du dir bestimmt schon gedacht.“

Marie zog Verena durch eine geflieste Diele, an dessen Wänden abstrakte Gemälde hingen, in einen großen Wohnraum, der von einem Panoramafenster beherrscht wurde, das einen ungehinderten Blick auf Felder, Wiesen, kleine Wäldchen und einen fernen Höhenzug erlaubte. In einem Plüschsessel am Fenster saß eine alte weißhaarige Frau mit enormen Kopfhörern auf den Ohren. Marie sprang zur Musikanlage und schaltete den Verstärker aus. Wütend riss die alte Frau die Hörer herunter, drehte sich um und sagte mit vorwurfsvoller Stimme:

Marie, das ist Bob Dylan. Den darfst du nicht einfach abschalten!“

Schnickschnack, Ehra, wir haben Besuch!“

Besuch? Wen denn?“

Das musst du selbst herausfinden.“ Marie fasste Verena an die Hand und führte sie zum Fenster. Sie drückte ihre Nichte auf einen lederbezogenen Hocker neben dem Sessel.

So, Ehra. Nun mach´ dich auf etwas gefasst!“

Die alte Frau drehte ihren Oberkörper Verena zu. Das Mädchen zog überrascht die Luft ein, als blicklose Augen sie zu mustern schienen. Langsam hob Ehra die Hände und tastete vorsichtig das Gesicht von Verena ab. Fast zärtlich glitten die Finger über die Stirn, streiften die Schläfen, hielten eine Zeit lang auf der Nase inne, zeichneten die Lippen nach und blieben schließlich auf den Schulteransätzen liegen. Mit unbewegtem Gesicht flüsterte sie:

Wenn ich nicht wüsste, dass Sizma tot ist, würde ich sagen, dass meine Tochter vor mir sitzt. Du kannst also nur Verena sein. Komm´ her, mein Kind!“ Damit breitete sie die Arme aus. Verena lehnte sich langsam und sehr vorsichtig an die Brust von Ehra. Sie begann hemmungslos zu schluchzen.

Na, na, mein Kind,“ versuchte ihre Großmutter sie zu beruhigen, „mach´s doch wie ich: freu´ dich einfach.“

Das tue ich doch auch! Aber mein Vater hat mir etwas mitgegeben, und das ist jetzt so sinnlos!“

Warum denn sinnlos? Was ist es denn? Und warum ist Florian nicht mitgekommen?“

Verena löste sich aus den Armen ihrer Großmutter und holte eine gerahmte Schwarzweißfotografie im Format DIN A4 aus ihrem Koffer. Sie zeigte sie Marie. Es war die leicht körnige Aufnahme einer Frau um die 20 Jahre an einer Nähmaschine sitzend, einen Fuß auf das Tretpedal gestellt, das andere Bein locker mit dem Knöchel auf den Oberschenkel gelegt, mit konzentriertem Blick die Stoffbahn musternd, die leicht gekräuselt unter dem Schuh der Maschine lag. Die Haare waren wie bei Marie streng nach hinten gebunden und hingen wie ein schwarzer Fächer den Rücken hinunter. Das Gesicht strahlte grenzenlose Würde aus.

Was ist es denn nun?“ fragte die alte Frau ungeduldig. „Warum sagt ihr denn Nichts?“

Marie schaute sich lange das Bild an. Schließlich meinte sie mit ein wenig Trauer in der Stimme:

Es ist die Fotografie von dir, die du Florian zu seiner Hochzeit mit Sizma geschenkt hast.“

Aber wieso denn, will er sie nicht mehr haben? Verena, was ist passiert?“

Die junge Frau holt tief Luft. „Es ist überhaupt nichts passiert. Florian hat mir das Bild gezeigt, und ich wollte unbedingt auch ein Exemplar haben. Keine Sorge, dieses hier ist nur ein Abzug, das Original hat seinen Ehrenplatz über dem Schreibtisch im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich wollte dir das Bild schenken, Ehra. Aber das hat ja wohl keinen Zweck mehr.“

Untersteh´ dich, die Fotografie wieder mitzunehmen! Ich kann sie zwar nicht mehr sehen, aber ich weiß, dass sie da ist. Genau wie du, Verena.“ Energisch klopfte sie auf die Armlehne des Sessels. „Jetzt zeigt dir Marie das Gästezimmer, und du kannst dich dann ein wenig ausruhen. Marie und ich müssen nun viele Telefonate führen. Denn ein großes Fest wird es heute Abend geben. Wahrhaftig!“

Ich bin tatsächlich ein bisschen kaputt. Doch Eines darf ich nicht vergessen: ich soll euch herzlich von der alten Möllerschen grüßen. Sagt euch der Name Etwas?“

Ob uns der Name Etwas sagt?“ lachte Marie. „Natürlich! Die alte Möllersche wohnte bis vor zwei Jahren im Nachbarhaus, dann ist sie auf ihren Wunsch in das Altenheim in der Bördestraße gezogen. Obwohl sie kaum noch gehen kann, unternimmt sie bei jedem Wetter ihren täglichen Spaziergang. Alle paar Tage bringt sie uns selbst gebackene Kekse mit, die einfach unübertroffen sind. Diese Frau macht mir wirklich Mut!“

 

*

 

Mit ein paar leichten Paddelschlägen trieb Florian Vombusch das Kanu neben dem Anleger der Fähre Ketzin ans Ufer. Ein Schwan fauchte drohend und breitete die Flügel aus, als sie dicht an ihm vorbei glitten. Verena sprang aus dem Boot und vertäute es an einem Poller vom Anlegesteg des Restaurants „Zur Alten Fähre“. Ihr Vater warf sich eine Windjacke über die Schulter und folgte ihr in den Gastraum. Ein leichter Wind zauberte kleine Kräuselwellen auf die Wasseroberfläche der Havel.

Warum übernachten wir nicht auf dem benachbarten Campingplatz?“ fragte Verena mit dem Mund voller Bratkartoffeln. Die Hälfte der Portion Bratheringe hatte sie bereits verschlungen.

Ach, ich kenne den Platz und finde ihn ungemütlich. Außerdem gibt es von der Zeltwiese aus keinen Blick auf das Wasser. Aber sagtest du nicht, dass du Natur wolltest? Ich kenne einen zauberhaften Platz zwischen hier und Caputh, der wird dir unter Garantie gefallen“

Mag sein, aber ich habe auch mal wieder Lust auf Klo mit Wasserspülung und Handwaschbecken statt Klappspaten und Plastikflasche. Und endlich mal wieder eine Dusche wäre auch nicht schlecht.“

Wofür brauchst du eine Dusche? Du springst einfach in die Havel! Ach, möchtest du zum Nachtisch Beerengrütze mit Vanillesauce oder Eierpfannkuchen mit Eis? Natürlich Pfannkuchen, weiß ich schon. Du kannst ja essen, was du willst und bleibst dennoch schlank wie deine Mutter. Deine Mutter – wann willst du mir eigentlich endlich etwas über Langeneicke erzählen? Bisher hab´ ich kein Wort aus dir heraus gebracht.“

Du liegst richtig: Eierpfannkuchen mit Vanilleeis und Erdbeersauce. Komm´, wir machen einen Deal: ich berichte dir heute Abend von Langeneicke, wenn du bis zu deinem Traumplatz alleine paddelst. Einverstanden?“

Einverstanden. Dir hängt ein Stück Heringsschwanz aus dem Mundwinkel.“

Von der Fähre dröhnte das dumpfe Rumpeln der Kette herüber, als sie zwischen den Antriebswellen hindurch lief.

 

*

 

Die Bäume am Ufer der kleinen Havelbucht warfen bereits lange Schatten, als Verena und ihr Vater das Zelt aufgebaut, das Kanu an Land gebracht und umgedreht, die Ausrüstungsgegenstände verstaut und es sich auf einem umgestürzten Baumstamm bequem gemacht hatten. Ein Blässhuhn raste wild mit den Flügeln schlagend und laut schimpfend über das Wasser. Verena nippte an ihrem dampfenden Kaffee und blickte zwischen den Stämmen zum anderen Ufer hinüber. Eine junge Frau auf einem kleinen Kajütkreuzer ließ mit einem Klatschen den Anker ins Wasser fallen.

Bist du bereit?“ fragte Verena.

Nur zu, fang´ an!“

Als Erstes: ich bin keine Jungfrau mehr.“

Der Kopf ihres Vaters flog herum. „Was?“

Überrascht dich das?“

Allerdings! Aber wahrscheinlich nicht so, wie du denkst.“

Wie denke ich denn?“

Du glaubst vermutlich, dass ich empört sei. Weit gefehlt! Meine Überraschung besteht darin, dass es erst jetzt passiert ist. Es ist doch vor Kurzem gewesen, oder? War es Peter?“

Ja, Peter. Und es war am Tag nach meiner Rückkehr aus Langeneicke.“ Verena stand auf und ging ans Ufer. Sie starrte eine Zeit lang ins Wasser, bückte sich dann und fischte eine braun verfärbte verfaulte Birne aus der Havel. Angewidert warf sie sie in weitem Bogen zurück. Sie setzte sich erneut neben ihren Vater.

Nun, willst du nicht wissen, wie es war?“

Ich glaube kaum, dass es mich etwas angeht.“

Du bist mein Vater!“

Nun denn – wie war es?“

Verena schwieg eine Weile. „Schrecklich! Es hat höllisch weh getan, und Peter war scheißgrob. Ich hatte vorher Vorstellungen von Romantik und Zärtlichkeit, aber das war wohl eine Illusion. Es war ein elendes Gestoße und Geschubse – Spaß war für mich nicht dabei.“

Florian blickte sie eine Weile nachdenklich an. „Es kann sogar sehr romantisch und äußerst zärtlich sein. Aber – ich muss das jetzt fragen: habt ihr ein Kondom benutzt?"

Natürlich! Aber auch ohne wäre keine Gefahr gewesen. Von diesem Scheißkerl ein Kind zu bekommen, da weigern sich Geist und Körper.“

Ich dachte eigentlich nicht vordringlich an eine Schwangerschaft; aber dennoch bist du mit dem Scheißkerl in die Kiste gehüpft.“

Erstens war es nicht im Bett, sondern auf seinem Küchentisch, und zweitens habe ich erst anschließend erfahren, welch mieser Typ er ist.“

Wie das denn?“

Nachdem er fertig war und ich mich wie ein Stück Dreck fühlte, erzählte ich ihm leichtsinnigerweise von meiner Fahrt nach Langeneicke, von meiner Mutter, ihrer Schwester, meiner Großmutter und dieser wahnsinnigen Großfamilie, die mir zu Ehren das schönste Fest veranstaltete, das ich jemals erlebte. Anschließend ist Peter total ausgerastet. Wenn er gewusst hätte, aus welcher Familie ich stamme, würde er niemals etwas mit mir angefangen haben. Und welche Bezeichnungen hat er mir an den Kopf geworfen: Zigeunerschlampe, Romaflittchen – dabei hab´ ich ihm gesagt, dass ich eine Sinta bin -, Landfahrerhure, die sich hemmungslos durch die Gegend vögelt, Balkannutte, an die er seinen Samen verschwendet habe. Ha, sein Samen! Der steckt im Kondom im Müllschlucker! Und dann hat er sich verraten: er sagte noch, dass Keiner in seinem Verein wissen dürfe, mit welch mieser Braut er sich eingelassen habe. Er sagte auch den Namen: „Hamburger Sturm“. Das ist eine verbotene Neonazi-Vereinigung! Ich hab´ das am Tag darauf im Internet recherchiert, du kannst selbst nachsehen. Ach, ich vergaß: auf der Kanutour kein iPhone, kein Smartphone, kein Tablet, nur ein Oldtimer-Klapphandy für absolute Notfälle. Jedenfalls hab´ ich ihm dann eine gescheuert und bin abgehauen. Darüber war er so verblüfft, dass er nicht einmal hinterhergelaufen kam.“

Florian schwieg eine Weile betroffen. Endlich ergriff er das Wort. „Das ist ja ein tolles Ding! Wenn du in Bezug auf Peter Hilfe brauchst, sag´ nur Bescheid. Du kannst dich auf mich verlassen. Doch das wolltest du eigentlich nicht erzählen. Ich möchte doch etwas über Langeneicke wissen!“

Klar, erfährst du auch. Aber die Geschichte mit Peter gehört irgendwie dazu.“

Versteh´ ich nicht.“

Es liegt doch auf der Hand: Langeneicke ist doch nicht etwas, was ich verbergen muss, so wie du mir die Identität von Sizma Badžo 16 Jahre lang vorenthalten hast. Deshalb erzählte ich Peter ganz unbefangen von meiner Familie. Ihn hat wahrscheinlich auch die Begeisterung gestört, die ich an den Tag legte.“

Begeisterung? Begeisterung worüber?“

Na, die Begeisterung über meine Familie! Stell´ dir doch mal vor: du kommst als wildfremder Mensch – stimmt nicht ganz, es schienen mich Alle bereits zu kennen – zu einer Familie, unangemeldet wohlgemerkt, und gibst dich als Mitglied derselben zu erkennen. Sind nicht Misstrauen, Skepsis und Zweifel normal? Nicht so bei der Familie Badžo! Unbändige Freude, überbordende Gastfreundschaft, Herzlichkeit, Güte, ja Güte und wärmende Geborgenheit – das habe ich dort erfahren. Und dann dieses triumphale Fest am ersten Abend! Ich bin dir dankbar, dass du mich hast das Geigenspiel lernen lassen. Cousin oder Schwiegeronkel oder Vetter, was weiß ich, Nadjo schleppte eine Hardangerfiedel an, ein Wahnsinnsinstrument, und ich durfte, nein, ich musste darauf spielen. Schließlich waren vielleicht 25 bis 30 Menschen versammelt, und die Hälfte hatte Musikinstrumente dabei. Es war ein Wogen, ein Toben, ein nicht enden wollender musikalischer Karneval. Ich weiß nicht, ob ich jemals vorher etwas so Schönes erlebt habe. Es war wohl vier Uhr in der Frühe, als ich endlich total erschöpft und verschwitzt ins Bett fiel. Und so ging es die nächsten Tage weiter – nicht mit den endlosen Feiern, nein, mit dieser kaum fassbaren Bereitschaft, mich in dieser Familie aufzunehmen, mir das Gefühl zu geben, schon von jetzt an dazu zu gehören, ohne jeden Vorbehalt, ohne auch nur den Hauch einer Distanz. So muss Familie sein, genau so!“ Verena schwieg. Auch Florian sagte nichts; er wartete auf eine Fortsetzung. Die kam erst einmal eine lange Zeit nicht. Verena stand auf und ging wieder zum Wasser hinunter. Ohne wirklich Etwas wahrzunehmen, starrte sie zum anderen Ufer hinüber. Die junge Frau auf dem Kajütkreuzer winkte ihr fröhlich zu. Verena zeigte keine Reaktion. Nach etwa einer Viertelstunde kehrte sie zu ihrem Vater zurück.

Warum gibt es bei uns keine Familie, weshalb haben uns die Menschen aus Langeneicke nie besucht? Und warum hast du nie versucht, entschuldige bitte den Ausdruck, eine – eine andere Mutter für mich zu finden? Warum hab´ ich nie eine Frau in diesem großen leeren Haus gesehen? Du bist doch ein attraktiver Mann, ja, ich darf das sagen! Du bist intelligent, belesen, vielseitig interessiert und verdienst mit deiner Schreiberei einen Haufen Geld. Warum gab es da Niemand? Erklär´ mir das! Und wo ist eigentlich deine Familie?“

Florian saß regungslos auf dem Baumstamm und blickte auf seinen längst kalt gewordenen Kaffee. Nach einigen Minuten stellte er den Becher ab und legte seine Hand auf den nackten Oberschenkel seiner Tochter. Wie bei einer unzüchtigen Handlung ertappt zog er sie schnell wieder zurück. Er nickte kaum merklich mit dem Kopf.

Das sind gleich mehrere Fragen. Ich will sie dir so ehrlich wie möglich beantworten. Fangen wir mit dem leichteren Thema an: mit meiner Familie. Ich brach vor langer Zeit mit ihr. Ich möchte einfach mit diesen Menschen Nichts mehr zu tun haben. Sie sind für mich nicht mehr existent. Es hat mit dem Tod meiner Mutter zu tun. Sie war unheilbar an Krebs erkrankt und wollte, auch als sie nicht mehr allein gehen konnte und 24 Stunden am Tag mit Morphium vollgepumpt war, um nichts in der Welt ihre letzten Tage in einem Pflegeheim oder Hospiz verbringen. Sie bat die Familienmitglieder, sie in ihrer Wohnung in der Goernestraße zu pflegen. All meine Geschwister, meine Onkel und Tanten, auch meine beiden Neffen hatten triftige Gründe, diese Aufgabe nicht zu übernehmen. Meine ältere Schwester, von Beruf alleinstehende Millionärin in Neumünster, gab an, gesellschaftliche Pflichten in dieser ach so bedeutungsvollen Stadt würden ihr nicht die Zeit dafür lassen. Ich übernahm diese Aufgabe zusammen mit einer Studentin, mit der ich damals um die Ecken von Eimsbüttel zog. Du musst wissen, dass ich zu jener Zeit noch nicht freischaffender Schriftsteller war, sondern als Kulturkorrespondent in Lohn und Brot bei der „Zeit“ stand. Die Studentin und ich teilten uns die Aufgabe: tagsüber war ich bei meiner Mutter, besuchte abends die Veranstaltungen und schrieb nachts meine Beiträge für die Zeitschrift. Sie übernahm die Nachtschicht, studierte dabei ihre Bücher und Aufzeichnungen, schrieb ihre Referate und besuchte tagsüber die Vorlesungen, verdiente sich nebenbei noch ihren Lebensunterhalt als Kellnerin in der „Konditorei Lindtner“ in der Eppendorfer Landstraße. Meine Mutter benötigte jede Minute des Tages Pflege und Betreuung. Es dauerte drei Monte, dann hatten wir sie zu Tode gepflegt. Das klingt jetzt makaber, ist es aber nicht. Meine Mutter starb in meinen Armen. Du magst es vielleicht nicht glauben, aber es war tatsächlich ein schöner Moment. Nach diesen drei Monaten krochen meine Freundin und ich buchstäblich auf dem Zahnfleisch. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer es ist, einen gelähmten Menschen allein auf die Toilette zu setzen? Kranken- und Altenpfleger werden extrem unterbezahlt. Dennoch: ich möchte um nichts in der Welt diese Zeit missen.“

Du nennst keinen Namen. Die Studentin war Sizma, nicht wahr?“

Ich hätte wissen müssen, dass du das sofort errätst. Ja, es war Sizma. Soweit also zu meiner Familie. Nun zu deiner Mutter. Aus genau dem Grund, aus dem ich dir den richtigen Namen von Sizma verheimlichte, ließ ich auch keine Besuche ihrer Familie in Hamburg zu. Ein großer Fehler, wie ich inzwischen weiß. Ohne dass du es mitbekamst, war ich häufig in Langeneicke, aber das weißt du gewiss schon.“ Verena nickte. „Diese Familie hat mich damals, als ich sie das erste Mal mit Sizma besuchte, genau so aufgenommen wie dich jetzt, obwohl ich doch ein Gadjo bin. Du kennst diesen Ausdruck?“ Wieder ein Nicken. „Diese Akzeptanz hat sich nicht einmal geändert, als ich ihnen sagte, dass du sie nicht kennenlernen sollst. Daran ist zu ermessen, welch außergewöhnliche Familie die Badžos sind. Und nun der letzte Punkt. Ich hatte nach dem Tod von Sizma und deiner Geburt sehr wohl Affären mit Frauen. Ich verstand es nur, dich Nichts davon merken zu lassen. Denk´ doch beispielsweise nur an die Sommerferien vor zwei Jahren, als du mit deiner Handballgruppe für drei Wochen auf Island warst. Ich machte dir vor, ich würde in der Zeit zuhause an meinem neuen Roman „Winterstadt“ arbeiten, in Wahrheit war ich mit einer Frau in den Dolomiten zum Bergwandern. Erinnerst du dich an deine Verwunderung, als du zurück kamst, dass ich an der Alster so braun geworden war? Doch eine Frau als neue Lebenspartnerin und dann auch noch mit dir zusammen? Nein, das konnte und kann ich mir nicht vorstellen. Das liegt natürlich an deiner Mutter. Denk´ an die Fotografie deiner Großmutter! So war Sizma Badžo. Nur noch schöner, nicht ganz so streng, aber mit genau so viel Würde. Ach, sie hätte hässlich wie eine verkrüppelte Ente sein können, es hätte nichts geändert, gar nichts! Sizma war für mich eine Göttin, ich habe sie angebetet. Sie war die Güte in Person mit einem enorm ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einer manchmal schmerzhaften Ehrlichkeit. Und sie hatte dazu ein Einfühlungsvermögen, das du dir überhaupt nicht vorstellen kannst. Sie...“

Verena unterbrach ihn. „Papa, hör´ auf! Werd´ endlich wach! Du lebst jetzt und nicht vor 16 Jahren! Sizma Badžo ist tot, verstehst du? Tot, tot, tot! Komm´ doch endlich zurück aus deiner Traumwelt und stell´ dich der Wirklichkeit. Du meine Güte! Da habe ich einen Vater, der Romane von beklemmendem Realismus schreibt, der von den Medien hofiert wird wie ein Popstar, und was macht er in Wirklichkeit? Er lebt in einem Scheinuniversum, in einer Illusion. Ich fass´ es nicht!“ Verena sprang auf und lief zum Zelt. Sie kramte darin herum und kam mit einem Paar Ohrringen zurück. „Du kennst doch diese Dinger: es sind die Ohrringe, die du mir zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt hast. Angeblich hatte sie schon eine sogenannte „Sigrid Becker“ getragen. Dass ich nicht lache! Weißt du, was ich am Liebsten mit diesen Anhängern machen möchte? Ich möchte sie in die Havel schmeißen, verstehst du? Nur der Respekt vor Sizma Badžo hindert mich daran!“ Wütend stapfte sie zum großen Jasminblüte, der am Rand der kleinen Lichtung stand. Immer noch nicht beruhigt kam sie zurück und stellte sich breitbeinig vor ihrem Vater hin.

Ich sag´ dir was, Florian Oliver Vombusch: wenn wir wieder zurück sind, wird sich Einiges zuhause ändern! Ich lade die ganze Sippschaft, und Sippschaft ist durchaus positiv gemeint, die ganze Sippschaft aus Langeneicke ein, auf deine Kosten, versteht sich, Geld hast du ja genug. Und ich nehme Kontakt zu den Mitgliedern deiner Familie auf. Es kann doch nicht sein, dass du nach all den Jahren keine Nachsicht üben kannst. Es muss doch einmal Leben in diesen großen Garten an der Alster kommen!“

Ihr Vater war ebenfalls aufgesprungen. „Das machst du nicht! Untersteh´ dich! Ich verbiete dir, irgendwelche Einladungen auszusprechen. Vergiss nicht: noch ist es mein Haus!“

Verena rannte wieder zum Zelt und zerrte ihren Schlafsack heraus. Ihr Vater fragte entgeistert: „Was soll das denn jetzt?“

Was das soll? Meinst du denn, ich schlafe noch eine Nacht gemeinsam mit dir in einem Zelt?Weißt du eigentlich, was du allmählich wirst? Ein verbitterter alter Mann! Du kannst mich morgen an der Fähre in Caputh absetzen. Ich fahre nach Hause.“

 

*

 

Ich verstehe nicht, wie du bei dieser Hitze mit einem langen Rock herum laufen kannst.“ meinte Monica Winter und verscheuchte einen Spatz, der sich an ihrem Stück Streuselkuchen gütlich tun wollte. „Außerdem kann so Niemand deine Beine bewundern.“

Verena Vombusch nippte gleichmütig an ihrem Kaffee. „Vielleicht will ich sie ja nicht unbedingt der Allgemeinheit zeigen. Ich möchte auswählen können, wer meine Beine bestaunen darf.“ Das „Café Cosinus“ in der Bundesstraße an der Ecke zum Durchschnitt war gut besucht. Auf den Außenplätzen war nicht ein einziger Stuhl frei.

Monica verzog spöttisch das Gesicht. „Ach, nee. Und was ist mit dem Kaifu-Bad? Wenn du dort mit deinem rattenscharfen weißen Bikini herumläufst, kannst du mit dem Geifer der Männer ein weiteres Schwimmbecken füllen. Und mit dem mancher Frau auch.“

Soll ich etwa mit diesen Klamotten ins Wasser springen? Nein, ich blende die Kerle dann einfach aus. Aber wegen der Hitze: probier´ doch selbst einmal, mit einem luftigen langen Kleid die Hitze zu ertragen. Das ist viel angenehmer und bequemer als enge Jeans oder deine albernen ultrakurzen Shorts, bei denen sogar die Hosentaschen unten heraus schauen. Mensch, Monica, dafür bist du doch viel zu alt. Schließlich bist du keine dreizehn mehr.“

Zum Glück nicht mehr! Aber diese Shorts sind doch sexy. Was meinst du denn, wie die Männer darauf fliegen! Aber an so etwas hast du ja ohnehin kein Interesse mehr.“

Und ob ich noch Interesse habe! Aber seit dem stümperhaften Herumgestochere von Peter vor zwei Jahren überlege ich drei Mal, bevor ich mich mit Jemandem einlasse. Ich hüpfe eben nicht wie du jeden zweiten Tag mit einem anderen Mann ins Bett. Sei doch nicht gleich beleidigt! Das ist doch kein Vorwurf von mir. Ich bin in dieser Beziehung eben anders als du. Damit will ich dich in keiner Weise verurteilen.“

Ist ja schon gut.“ Monica winkte der Bedienung, einem halbwüchsigen Mädchen, dessen Kopf mit einer Schirmmütze geschmückt war. An der Kokarde glänzte ein roter Sowjetstern. „Meine Güte, mit solchen Kindern sollen wir die Revolution gewinnen?“ Sie schüttelte den Kopf.

Verena schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wann begreifst du es endlich? Ich will keine Revolution machen! Ich möchte nur, dass diese braunen Ratten wieder in ihren Löchern verschwinden und dort verrecken. Doch nun sag´ mal: kommst du am Sonntag mit auf die Demonstration in der Sophienterrasse?“ An diesem 12. Juli wollte eine Vereinigung rechtsradikaler Gruppen vor dem ehemaligen Kreiswehrersatzamt gegen die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen in diesem Gebäude demonstrieren. Teilweise wurden sie dabei sogar von Anwohnern unterstützt mit dem Argument, durch die Aufnahme dieser Menschen würde der Wert ihrer Grundstücke sinken. Verena hatte in ihrer Schule eine Widerstandsgruppe ins Leben gerufen, die mit vielfältigen Aktionen gegen die Neonazis Front machte. Treffpunkt und Sitzungsort war das „Café Cosinus“, ein etwas heruntergekommenes Lokal, das das Zentrum der Hamburger linken Szene bildete.

Natürlich komme ich mit!“ stimmte Monika zu. „Eigentlich müsste ich genau wie du für die bevorstehende Abi-Prüfung büffeln. Doch dieses Pack dürfen wir nicht einfach machen lassen. Ist auch der „Hamburger Sturm“ wieder dabei?“

Verena stöhnte. „Natürlich haben die wieder ihre Finger darin. Nicht offiziell natürlich, das dürfen sie ja nicht. Und wie ich hörte, soll Peter auch wieder in Hamburg sein.“

Hast du keine Angst, auf ihn zu treffen?“

Nein, wieso denn? Ich werde ihn wohl kaum zu Gesicht bekommen. Hast du denn nicht gehört: 2.000 Polizeikräfte werden uns bewachen. In die Sophienterrasse kommt ohnehin keine Maus hinein, die wird total abgesperrt. Die Glatzen haben ihren Demoplatz im Alsterkamp, während wir uns immerhin im Mittelweg verlustieren dürfen.“

Na, dann wird es ja eine friedfertige Demonstration werden.“

Glatzen und friedfertig? Na, träum´ man schön weiter!“

 

*

 

Verena Vombusch passierte eine unübersehbare Schlange von Mannschaftswagen, als sie das Frauenthal hinauf ging. Auch im Harvestehuder Weg und in der Hagedornstraße standen die grünen Wannen in endloser Reihe. An strategisch günstiger Stelle war am Licentiatenberg ein halbes Dutzend Wasserwerfer positioniert. Tief versunken war Verena die Heilwigstraße hinunter geschlendert. Sie dachte nicht an die bevorstehende Demonstration, ihre Gedanken kreisten um die zurückliegende Auseinandersetzung mit ihrem Vater. Seit dem Streit an der Havel vor zwei Jahren war ihr Verhältnis immer gespannter geworden. Er hatte seine Drohung wahrgemacht und ihr kein Geld für die Einladungen der Familie in Langeneicke zur Verfügung gestellt. Dafür war sie selbst häufig in nördliche Sauerland gefahren und hatte die Familie Badžo besucht. Die Mittel dafür verdiente sie sich teilweise als Aushilfskellnerin im „Winterhuder Kaffeehaus“ am Winterhuder Marktplatz, teilweise finanzierte ihre Tante die Fahrten. In Langeneicke selbst durfte sie ohnehin nicht einen Cent selbst bezahlen.

Der letzte Streit ging um die anstehende Abiturprüfung. Weder sie noch ihr Vater hatten die geringsten Zweifel daran, dass sie sie mit Bravour bewältigen würde. Deshalb hatte Florian ihr ein Gratulationsgeschenk bereits präsentiert und ein anderes in Aussicht gestellt. Seit einem halben Jahr nahm sie Fahrunterricht und freute sich sehr über das Präsent ihres Vaters. Leichtsinnigerweise hatte er ihr das andere Geschenk verraten. In zweijähriger Arbeit hatte er in der Autowerkstatt eines Freundes mit viel Geld und noch mehr Engagement einen alten VW T1 Campingbus auf das Liebevollste restauriert, in einen technisch einwandfreien Zustand versetzt und fahrbereit gemacht. Den Bus hatte er in der Scheune eines Bauern in Behlendorf entdeckt und für einen Spottpreis erstanden. Dem Bauer war nicht bewusst gewesen, welch einen Schatz er in seiner Scheune vergammeln ließ. Sogar die TÜV-Zulassung lag bereits vor. Und dieses Prachtstück sollte nun Verena zu ihrem 18. Geburtstag erhalten! Sie hatte es glattweg abgelehnt. Sie war der Meinung, in Hamburg kein eigenes Auto nötig zu haben und fand das Geschenk übertrieben und elitär. Ihr Vater war heute außer sich gewesen, als sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass sie „die Mühle vertickern“ und das Geld einer gemeinnützigen Organisation geben würde, sollte er ihr den Wagen schenken. Wutentbrannt war sie anschließend aus dem Haus gerannt.

Mit einem schlechten Gewissen überquerte sie die Kreuzung mit den aufgereihten Wasserwerfern. Sie hätte ihren Vater nicht so behandeln dürfen. Schließlich war sein Motiv nicht die Selbstsucht. Sie selbst hatte ihm doch noch vor zwei Jahren vorgeworfen, nicht verzeihen zu können. War sie denn um einen Deut besser?

An der Einmündung der Oberstraße in den Mittelweg traf sie auf ihre Mitstreiter. Monica hüpfte auf und ab und winkte ihr zu. Heute trug sie einen Strech-Minirock und ein paillettenbesetztes Top. 'Eine wahrhaft revolutionäre Aufmachung!' dachte sich Verena. Neben ihrer Freundin stand ein hochaufgeschossener strohblonder Hüne in dunkelblauen Leinenhosen und – trotz der Hitze – einem schwarzen Colani. Verena kannte sich aus und erfasste sofort, dass es sich um ein altes Stück handelte.

Hallo, Verena!“ rief Monica. „Komm´ mal her, ich muss dir jemanden vorstellen: das ist hier Roald aus Løpsmarka in Norwegen.“

Grüß´ dich Roald.“ sagte Verena und gab dem Mann die Hand, der ihr auf den ersten Blick sympathisch war. „Nein, du musst mir nicht erklären, wo Løpsmarka liegt. Ich bin einmal mit dem Fahrrad die Küstenstraße von Bognes nach Bodø abgefahren und kenne den Ort. Es ist traumhaft schön dort. Doch was verschlägt dich nach Hamburg, und warum bist du auf dieser Demonstration?“

Ich studiere hier. Weißt du, als Bewohner eines Lands, das einen Anders Behring Breivik hervorgebracht hat, ist es einfach meine Pflicht, dieser Gesinnung Einhalt zu gebieten.“ antwortete Roald in fehlerlosem und fast akzentfreien Deutsch.

Nun, dann lasst uns mal Flagge zeigen! Wie sieht´s denn bei unseren Feinden von der rechten Front aus?“

Ach, das Häuflein von vielleicht 30 Glatzen steht vollkommen isoliert im Alsterkamp.“ mischte sich Monica ein. „Auch wir kommen an die nicht heran. Auch wenn wir dreißig mal mehr sind, gegen zwanzig Hundertschaften Polizei kommen wir nicht an.“

Dann sagen wir eben unsere Sprüche auf und schwenken die Transparente. Wichtig ist doch, dass wir zeigen, dass wir weitaus zahlreicher sind und diese Ratten nicht gewähren lassen.“ Sie zupfte Roald am Jackenärmel. „Kommst du hinterher noch mit ins Froggy´s? Die schenken dort ein wunderbar süffiges Indian Pale Ale aus. Du bist eingeladen.“ Verena war fast über sich selbst erschrocken. So etwas war doch überhaupt nicht ihre Art! Gewöhnlich wartete sie in aller Ruhe ab und beobachtete – meist recht amüsiert -, welche Verrenkungen die Männer anstellten, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber nun machte sie den ersten Schritt! Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch.

Sie verspürte einen leichten Stoß im Rücken. Verärgert drehte sie sich um.

Papa! Nanu, was willst du denn hier? Mich etwa beschützen?“ Es war immer noch Groll in ihrer Stimme.

Dich beschützen? Das kann ich schon lange nicht mehr. Nein, bei dieser Geschichte bin ich deiner Meinung, deshalb möchte ich an deiner Seite sein.“

Das ist lieb von dir, Papa.“

Jetzt war es an Florian Vombusch, aufgebracht zu sein. „Das ist überhaupt nicht lieb von mir, begreif´ das doch endlich! Es ist einfach meine Überzeugung!“

Ist schon gut, Papa.“ versuchte Verena zu beschwichtigen. „Es ist schön, dass du dabei bist.“

 

*

 

Die Demonstration hatte sich aufgelöst, ohne dass es zu Gewalttätigkeiten gekommen war. Verena, ihr Vater und Roald Mosken gingen durch den Innocentiapark. Wegen des schönen Wetters wollten sie den Weg zum Froggy´s zu Fuß zurücklegen, auch um Roald die prächtigen Villen in Harvestehude, die Grindelhäuser und und den Weg am Kaiser-Friedrich-Ufer zu zeigen. Auf die Bitte ihres Vaters, mitkommen zu dürfen, hatte Verena ihre Zustimmung gegeben, obwohl sie lieber mit Roald allein gewesen wäre. Doch sie wollte nicht schon wieder für Zwist sorgen. Monica Winter hatte sich mit der Begründung verabschiedet, noch an ihrer Schwäche des Französischen arbeiten zu wollen. In Wahrheit hatte sie sofort gemerkt, dass zwischen ihrer Freundin und Roald etwas passierte.

Roald beklagte sich bei Verenas Vater darüber, dass die norwegische Literatur in Mitteleuropa nicht ausreichend gewürdigt werde, dabei sei sie doch ungeheuer erdverbunden und voller poetischer Kraft. Florian wollte gerade antworten, da wurde er von einem lauten Ruf von der gegenüber liegende Seite des Parks daran gehindert.

Da ist sie ja, diese verdammte Zigeunerschlampe!“ Fünf schwarz gekleidete Gestalten mit kahl rasierten Schädeln rannten quer über die Wiese auf sie zu. Florian hielt seine Tochter am Arm fest.

Wer ist das denn?“ fragte er entsetzt.

Das ist Peter Rieger mit seinem Schlägertrupp vom „Hamburger Sturm“. Ich glaub´, dass wird jetzt richtig Scheiße.“

Florian Vombusch stellte sich vor seine Tochter und trat der Bande entgegen.

Wer bist du denn, du Saftsack?“ rief der Anführer, ein muskulös gebauter Mann mit beeindruckenden Oberarmen. „Geh´ aus dem Weg, zu Zigeunerfreund!“

Ich bin Verenas Vater. Und wenn du noch einmal Zigeunerschlampe sagst, bekommst du es mit mir zu tun!“

Ach, da hab´ ich jetzt ja richtig Angst. Du bist also der gesinnungslose Lump, der dieses Gewürm von Diebesgesindel auch noch zur Fortpflanzung verhilft. Hau´ ab, du Zigeunerficker!“

Florian sprang auf Peter Rieger zu. Verena schrie verzweifelt: „Nein, Papa, nein!“ Es war zu spät. Ihr Vater packte den Neonazi am Halssaum des schwarzen T-Shirts. Peter Rieger war zu überrascht, um sich zu wehren. Dafür machte einer seiner Kumpane einen Satz auf Florian Vombusch zu und versetzte ihm mit einer Eisenstange und voller Kraft einen mächtigen Schlag auf den Hinterkopf. Bei dem Geräusch begann Verena zu würgen. Roald Mosken stieß sie zurück und entriss dem Angreifer die Eisenstange. Bevor er sich Peter Rieger stellen konnte, bohrte ihm ein dritter Angreifer ein Messer in den rechten Bizeps. Mit einem Aufschrei packte er die Stange mit der linken Hand und schlug blindlings um sich. Ein weiteres Mitglied der Glatzen hatte sich unbemerkt von hinten an Verena angeschlichen und packte sie um die Taille. Sie drehte den Kopf und biss dem Angreifer in die rechte Schulter. Mit einem Wutschrei ließ er sie los und versetzte ihr einen gezielten Tritt in die kurzen Rippen. Sie fiel zu Boden. Ein Springerstiefel traf sie an der Schläfe. Sie verlor das Bewusstsein.

 

*

 

Verena schlug die Augen auf. Nur verschwommen nahm sie ihre Umgebung wahr. Intuitiv erkannte sie, dass sie in einem Krankenbett lag. Als sie den rechten Arm hob, bemerkte sie zwei dünne Schläuche, die von ihren Fingerkuppen zu einem Gerät neben ihrem Bett führten. Mit der linken Hand betastete sie ihre Stirn. Da war keine Haut zu spüren, nur weicher Stoff. Sie versuchte sich zu erinnern. Als letztes Bild stand ihr vor Augen, wie ihr Vater von einer Eisenstange getroffen wurde. Mehr wusste sie nicht mehr. Sie schloss wieder die Augen. Als sie sie erneut öffnete, entdeckte sie einen Klingelschalter, der an einer Schnur neben ihr hing. Es dauerte keine halbe Minute, und eine hochgewachsene Frau mit blonder Kurzhaarfrisur trat an ihr Bett.

Hallo, Frau Vombusch! Schön, dass sie wieder wach sind. Ich bin Sabine Burgwald, ihre Ärztin. Wie geht es ihnen?“

Ich, ich weiß nicht.“ stammelte Verena. „Wo bin ich überhaupt?“

Sie sind im UKE und eindeutig auf dem Weg der Besserung, wie ich sehe.“

Was ist denn passiert?“

Sie wurden mit einer großen Platzwunde an der Schläfe, einer schweren Gehirnerschütterung, mehreren Rippenbrüchen und einer Quetschung im Lendenbereich in die Notaufnahme gebracht. Aber keine Sorge, es bestand zu keiner Zeit Lebensgefahr. Der Genesungsprozess macht außerordentlich gute Fortschritte.“ Trotz der guten Nachrichten behielt die Ärztin eine sehr ernste Miene. Zaghaft und mit großer Besorgnis fragte Verena:

Und mein Vater, ist er...?“

Die Antwort war ein trauriges Kopfschütteln. „Für ihn konnten wir leider nichts mehr tun. Er war bereits tot, als er eingeliefert wurde.“

Verena schluckte. „Und was ist mit Roald?“

Die Miene des Ärztin hellte sich auf. „Dem jungen Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Bitte sorgen sie dafür, dass er mehr Schlaf bekommt. Seit Tagen weigert er sich, das Krankenhaus zu verlassen, bevor sie nicht aufgewacht sind und nächtigt draußen auf dem Flur oder in der Cafeteria.“

Kann ich ihn sehen? Bitte!“

Es spricht nichts dagegen. Aber ich möchte sie warnen: er ist nicht allein hier. Sind sie sicher, dass sie schon Besuch empfangen möchten?“

Natürlich bin ich mir sicher! Bitte holen sie ihn herein.“

Marie Badžo stürzte ans Bett, blieb dann abrupt stehen und küsste Verena sanft auf beide Wangen. Sie brachte kein Wort heraus. Roald Mosken führte humpelnd Ehra herein. Den eingegipsten rechten Arm trug er in einer Schlinge, und das linke Auge verdecke ein schräg über den Kopf laufender Verband. Er schob Ehra einen Stuhl ans Bett und drückte sie vorsichtig darauf.Die alte Frau betastete zärtlich Verenas Gesicht, verharrte beim Verband und ließ schließlich die Hände auf den Schultern liegen.

Dein Vater war ein guter Mensch.“ begann sie leise. „Überhaupt nicht wie ein Gadjo. Er hat meine Tochter glücklich gemacht. Was kann ein Mensch mehr tun? Und dein Freund Roald ist genau so.“

Freund? Er ist nicht mein Freund. Ich kenne ihn doch erst seit wenigen Stunden.“

Weshalb verbringt er dann Tag und Nacht hier im Krankenhaus und wartet auf dein Aufwachen?“

Tag und Nacht? Wie lange liege ich denn schon hier? Ist es so schlimm?“

Es war schlimm, Kind. Du bist jetzt sechs Tage im Krankenhaus. Als wir hier ankamen, schlief Roald auf einer Bank im Flur vor dem Krankenzimmer.“ Ehra beugte vor und flüsterte Verena ins Ohr: „Sag´ ihm, dass er nach Hause gehen soll. Er kann sich doch kaum noch auf den Beinen halten.“

Verena blickte zu Roald hinüber, der mit abwesendem Blick aus dem Fenster starrte und das rotbraune Eichhörnchen nicht beachtete, das reglos in einer Buche saß und zum Fenster hinsah.

Roald, komm´ doch bitte mal her.“ Verenas Stimme war weich, als sie es sagte. Als er neben dem Bett stand, nahm sie seine gesunde Hand und bat:

Berichte mir doch, was passiert ist, nachdem ich bewusstlos wurde. Das mit meinem Vater habe ich noch mitbekommen. Schon da war mir klar, dass es das nicht überlebt.“

Roald räusperte sich. „Nun, da gibt es nicht viel zu erzählen. Als ich sah, dass du umgekippt warst, habe ich einfach um mich geschlagen ohne zu zielen. Leider war nicht nur eine Eisenstange im Spiel. Ich hab´ einen Schlag auf das Auge und die Schulter bekommen, jemand ist auf meinen Knöchel gesprungen, dann war auch schon die Polizei da. Die Beamten waren am Abrücken und kamen zufällig am Park vorbei. In meiner Wut habe ich zwei Männer glaub´ ich ziemlich schwer verletzt. Hoffentlich geht es ihnen inzwischen besser.“

Ich sag´ es doch: er ist nicht wie ein Gadjo.“ sagte Ehra Badžo leise.

Verena drückte die Hand des langen Norwegers. „Roald, geh´ jetzt nach Hause, du musst dich ausruhen. Gib´ mir deine Telefonnummer. Ich ruf´ dich an, wenn es mir besser geht.“

Äh, die – die ist schon in deinem Rucksack.“ stotterte er.

Verena lächelte. „Dann ist ja gut. Geh´ jetzt Schlafen, tu´ mir den Gefallen.“

Roald beuge sich vor und drückte sanft einen Kuss auf den Verband. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, verbeugte sich vor Ehra, winkte Marie zu und ging aus dem Zimmer. Marie legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter.

Nein, überhaupt nicht wie ein Gadjo.“

 

*

 

Nein, ich bleib´ nicht in diesem kalten Kasten wohnen! Was soll ich denn mit den vielen riesigen Zimmern? Rollschuhlaufen vielleicht? Kommt überhaupt nicht in Frage!“ Verena richtete sich in ihrem Liegestuhl auf und blinzelte in die Sonne. Roald saß auf der Ufermauer und ließ die nackten Füße in die Alster baumeln.

Und was willst du mit dem Haus dann machen? Etwa leer stehen lassen? Es wäre doch schade drum. Von einem solchen Haus an der Alster mit diesem großzügigen Garten träumt doch wohl Jeder. Oder willst du es etwa verkaufen?“

Verena betastete ihre blutrote Narbe an der rechten Schläfe. Sie verspürte immer noch ein kribbelndes Gefühl darin. Sie versuchte nicht, sie zu überdecken. Womit auch? Sie besaß keine Schminke, hatte sie nie besessen, nicht einmal einen Lippenstift. „Nein, nicht verkaufen. Ich werde es Marie Badžo übereignen, die kann damit viel mehr anfangen als ich.“

Und wo willst du wohnen? Ins Hotel ziehen?“

Quatsch! Ich suche mir eine Wohnung in Uninähe. Weißt du, mein Vater hat so gut für mich vorgesorgt und mich auch noch als Alleinerbin eingesetzt, dass ich mir über Geld wirklich keine Sorgen zu machen brauche. Doch was nützt mir der größte Haufen Kohle, wenn ich mich hier nicht wohlfühle?“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ja, eine kleine Wohnung, das wäre das Richtige. Dann kann ich mich auch auf das Studium konzentrieren und muss mich nicht um diesen Monsterkasten kümmern.“

Roald stand auf und humpelte zum alten Ohrensessel unter dem Birnbaum. Mit einem Ächzen ließ er sich in die Polster sinken.

Weißt du was, Verena? Ich mach´ uns noch einen Kaffee, und dann gehe ich wieder nach Hause. Ich muss noch für die Klausur büffeln.“

Du willst uns einen Kaffee machen? Eher binde ich dich fest! Mit deinem Arm machst du überhaupt nichts, verstehst du? Du bleibst schön sitzen und wartest auf mich. Ich mache den Kaffee, und zwar nach Art des Hauses Badžo. Basta!“

Roald sah der jungen Frau nach, die leichtfüßig die Stufen zur Hintertür hinauf sprang, den knöchellangen weinroten Rock bis zu den Knien hochgerafft. Hatte er Verena schon einmal in Hosen gesehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er bewunderte diesen Menschen grenzenlos. Abiturdurchschnitt 1,2. Gleich drei Fächer an der Universität belegt, Politikwissenschaft, Geschichte und Biologie.

Und er war verliebt – unsterblich verliebt. Sie wirkte so viel erwachsener als er selbst, reifer, abgeklärter. Trotz ihres überraschenden Reichtums – ihr Vater hatte ihr nie erzählt, welch außerordentlichen Profit er mit seinen Büchern machte – war sie durch und durch bodenständig. Was sollte eine solche Frau mit einem Nordländer, der auf jeden Fall in seine Heimat zurückkehren wollte und sein Leben lang nicht mehr würde richtig laufen können? Überdies war noch keineswegs sicher, dass er jemals seinen rechten Arm über Schulterhöhe wieder würde heben können. Nein, Verena hatte etwas Anderes verdient.

Badžo an Erde, Badžo an Erde! Träumst du schon wieder? Komm´, trink´ deinen Kaffee, nein, nicht sofort! Du wartest fünf Minuten, rührst noch einmal um, lässt wieder fünf Minuten vergehen und kannst ihn dann richtig genießen. Dann hat er auch trinkbare Temperatur und ist nicht so bitter und kochend heiß wie euer norwegisches Gift, das in den Straßenrestaurants den gesamten Tag auf der Heizplatte steht.“ Lachend stellte Verena das Tablett ab. Auch Roald musste lachen. Dann wurde er wieder ernst.

Du hast ja Recht. Aber weshalb willst du eigentlich studieren? Und als was später arbeiten? Wieso überhaupt arbeiten? Das hast du doch überhaupt nicht nötig, oder?“

Verstimmt stemmte Verena die Fäuste in die Hüften. „Was meinst du, Roald Mosken? Kennst du mich so schlecht? Glaubst du denn wirklich, dass ich nur Tochter und Erbin sein will? Nein, nein, mein Lieber, das, was ich zum Leben brauche, will ich mir selbst verdienen, nicht geschenkt bekommen. Tja, und als was ich später arbeite, weiß ich noch nicht. In die Fußstapfen meines Vaters werde ich nicht treten, dafür fehlt mir das Talent. Ich werde die Entscheidung während des Studiums treffen. Weil wir gerade bei Geschenken sind: hast du eigentlich einen Führerschein?“

Ja, wieso?“

Roald, du wirst irgendwann nach Norwegen zurückkehren, in eine Landschaft, die ihresgleichen sucht. Es wäre doch schön für Jemanden, der dort lebt, etwas zu haben, um das richtig ausnutzen zu können. Richtig die Natur genießen, findest du nicht?“

Klar, so stell´ ich mir das auch vor. Meine Eltern können zwar...“ Er stockte. „Verena, wenn das stimmt, was ich gerade vermute, kannst du dir das auf der Stelle abschreiben. Außerdem kann ich so etwas nicht annehmen.“

Warum denn nicht? Was ist schon dabei? Ich brauch´ die Kiste doch in Hamburg nicht. Und für dich ist sie an den Fjorden einfach ideal!“

Ich kann mir doch für Nichts und wieder Nichts ein Auto schenken lassen, das zwar alt ist, aber einen Wert von etlichen zehntausend Euro hat. Du sprichst selbst vom Verdienen, und mir willst du so Etwas in den Rachen schmeißen, einfach so?“

Vergiss bitte nicht, dass du mir höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hast. Ist das nicht etwa eine Belohnung wert? Überleg´s dir noch mal, wenn du zuhause bist. Ich werd´ dann gleich mal den Wohnungsmarkt durchforsten.“

Halt´ mal. Ich hab´ da eine Idee: du weißt doch, dass ich in der Wohngemeinschaft in diesem tollen Altbau im Loehrsweg an der U-Bahn wohne. Andrea und Wolfgang sind endlich ein Paar geworden, was ich schon viel eher vermutet hätte, und sind in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Also sind jetzt zwei Zimmer frei geworden. Wenn du hier nicht mehr wohnen möchtest, kannst du, solange du noch keine Wohnung hast, ein Zimmer in dieser WG nehmen. Der Mietanteil ist allerdings nicht ganz billig, 375 Euro im Monat. Ich weiß, dass es für dich nur Peanuts sind, aber...“

Sprich bitte nicht so mit mir!“ Verena sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Klingt aber trotzdem verlockend. Sind da Möbel drin?“

Nein, die Zimmer sind leer.“

Hm, nicht schlecht... Augenblick, Roald Mosken! Du sagst, dass Andrea und Wolfgang ausgezogen sind? Wer wohnt denn da noch? Ich weiß, ich weiß, Roald Mosken ganz allein. Allerdings glaube ich nicht von dir, dass das nur ein plumper Annäherungsversuch ist. Ich würde es sogar machen, aber nur unter einer Bedingung: du nimmst den alten Bulli!“

 

*

 

Verena und Roald saßen auf dem großen Balkon im Loehrsweg und frühstückten. Heute war es an der Reihe von Roald, den Küchendienst zu übernehmen. Während der drei Monate, die sie sich nun die Wohnung teilten, klappte dieses Arrangement hervorragend. Trotz ihrer teilweise unterschiedlichen Auffassungen gab es keine Spannungen zwischen ihnen. Roald konnte nicht begreifen, dass Verena trotz ihres immensen Reichtums immer noch als Kellnerin arbeitete, jetzt im „Café Borchers“ in der Geschwister-Scholl-Straße. Bisher hatte er noch nicht den Mut aufbringen können, ihr zu sagen, dass er in sie verliebt sei. Merkwürdigerweise hatte er es nie erlebt, dass sie mit anderen Männern ausging oder gar einen Freund mit nach Hause brachte.

Oh, Mann! Das wird allmählich scheißkalt!“ Verena wärmte sich ihre Hände am Kaffeebecher.

Es ist immer das Selbe mit der verweichlichten mitteleuropäischen Weiblichkeit.“ entgegnete Roald und biss herzhaft in ein Brötchen mit geräuchertem Lachs. „Ich könnte auch nackt hier sitzen, und mir wäre nicht kalt.“

Solange du nicht verlangst, dass ich dann auch ohne einen Fetzen am Leib hier sitze – mach es doch!“

Roald errötete. „Ich muss mich beeilen, ich will um neun Uhr in der Staatsbibliothek sein. Und was hast du heute vor?“

Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach: ich spiele die Rolle der Tochter und Erbin und bleibe zuhause. Nein, ernsthaft: du weißt doch, dass ich in drei Wochen die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule habe. Ich muss noch üben, üben, üben. Und wenn du nicht da bist, kann ich dich auch nicht mit meinem Geschrammel nerven. Also verschwinde schon!“

Die Violine blieb noch lange im Schrank. Verena holte sich eine Wolldecke und setzte sich warm eingewickelt wieder auf den Balkon. Sie sinnierte fast zwei Stunden lang. Was sollte sie nur mit Roald machen? Sie merkte doch sehr deutlich, was er für sie empfand. Warum sagte er denn nichts? Es blieb ihr wohl nichts Anderes übrig, als selbst die Initiative zu ergreifen. Sie war nicht verliebt in Roald, noch nicht. Sie mochte ihn sehr gern, diesen etwas unbeholfenen Norweger. Um sich wirklich verlieben zu können, musste sie einen Menschen erst sehr genau kennenlernen. Und die Art von Monica, sich jedem männlichen Wesen an den Hals zu werfen, das zufällig vorbei kam, war ihr vollkommen fremd. Seufzend nahm sie einen Schluck von ihrem inzwischen kalt gewordenen Kaffee.

 

*

 

Roald hob überrascht den Kopf, als es an seiner Zimmertür klopfte. Er unterbrach die Arbeit an seiner Dissertation und rief laut „Herein!“

Verena trat ein. „Hast du Zeit?“

Für dich immer.“

Das weiß ich sehr wohl, mein Lieber. Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“

W..., w..., wie bitte?“

Ich möchte heute Nacht bei dir schlafen, mit dir schlafen. Ist das so schwer zu verstehen?“

Aber wieso...?“

Frag´ doch nicht. Darf ich nun?“

 

*

 

Verena räkelte sich wohlig und rollte sich vom Futon. Roald schlief noch tief und fest. Sie ging in die Küche und kam bald mit zwei Bechern dampfenden Kaffees zurück. Sie stellte die Becher vorsichtig auf den Boden, beugte sich vor und gab Roald einen sanften Kuss auf die Stirn. Blinzelnd öffnete er die Augen.

Bist du schon wach?“

Nein, ich schlafwandle gerade. Möchtest du einen Kaffee?“

Ja, gern. Ich mach´ schnell einen.“ Er warf die Bettdecke beiseite. Verena war sehr erfreut über das, was sie dort sah. Sie reichte ihm den Kaffeebecher.“

Nicht nötig. Hier, bitte.“ Sie blickte ihn sehr lange intensiv an.

Ist irgend Etwas?“ fragte er ein bisschen verwirrt.

Das will ich wohl meinen. So geht es also auch.“

Was geht also auch so?“

Na, der Sex natürlich, was dachtest du denn?“

Ich denke momentan überhaupt Nichts. Ich kann es immer noch nicht fassen, was heute Nacht passiert ist.“

Meinst du ich denn? Ich sagte doch eben, dass es also auch so geht.“

Ich versteh dich immer noch nicht.“

Ach, Roald,“ sie strich ihm zärtlich über die Wange. „mein Liebster. Vielleicht überrascht es dich: ich habe noch nicht viel Erfahrung in Sachen Sex. Und diese Erfahrungen waren nicht immer erfreulich. Doch was ich heute Nacht mit dir erlebte, übertrifft sogar noch das Fest in Langeneicke.“

Fest in Langeneicke?“

Erzähl ich dir später mal. Nein, du deckst dich nicht wieder zu! Du hast mich geradezu in einen Rausch versetzt, aus dem ich noch nicht wirklich wieder aufgetaucht bin. Ich möchte es auch überhaupt nicht.“ Sie begann zu kichern. „Ich seh´ schon, bei dir regt sich auch schon wieder Etwas. Also trink´ den Kaffee aus und lass´ mich zu dir.“

 

*

 

Verena und Roald gingen Hand in Hand die Bellealliancestraße hinauf. Sie wollten endlich einmal den Besuch nachholen, der vor langer Zeit so brutal verhindert worden war. Beim Spielplatz an der Ecke zur Marthastraße saß ein älterer Mann mit langem Haar auf einer verwitterten Holzbank und tippte versunken auf einem kleinen Netbook herum, das er auf den Knien balancierte. Trotz des kühlen Wetters und des bedeckten Himmels trug er einen hellgelben Sonnenhut aus Stroh. Als das junge Paar vorüber kam, hob er den Kopf, murmelte ein undeutliches „Moin, moin“ und vertiefte sich wieder in sein Schreiben.

Schwungvoll öffnete Verena die Kneipentür. „Guten Abend allerseits! Komm´, Roald, wir setzen uns zunächst an den Tresen. Nachher gehen wir zur Kuschelecke dort hinten. Ich hab´ was mit dir zu besprechen. Zwei große Indian Pale Ale bitte!“

Die Wirtin, eine attraktive dunkelhaarige Frau mit auffallender Stupsnase, nickte.

Geht auf´s Haus, Roald.“

Wie bitte? Kennst du mich?“

Nur aus der Zeitung. Die Medien waren doch damals voll mit den Berichten über den Überfall im Innocentiapark. Ich find´s toll, dass du ganz allein zwanzig Glatzen fertig gemacht hast.“

Verena mischte sich ein. „Stimmt nicht, es waren mindestens hundert. Bruce Lee ist ein Fliegenschiss gegen Roald Mosken! Ich bin übrigens Verena, ich war damals dabei.“

Weiß ich doch, hab´ nur deinen Namen nicht parat gehabt. Wollt ihr´noch ´n Korn dazu?“

Während des Wortgeplänkels hatte Roalds Gesicht eine zunehmend dunklere Farbe angenommen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

Könnt ihr mal damit aufhören? Es waren nur fünf Männer. Und wäre die Polizei nicht so schnell erschienen, würde ich jetzt hier nicht sitzen können. Also macht aus einer Mücke keinen Elefanten!“

Und ich auch nicht!“ unterbrach Verena ihn. „Ohne dich würde ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein. Du bist schon mein Held.“

Solche Helden hätten die Italiener im Dolomitenkrieg brauchen können!“ mischte sich ein halb ergrauter kurzhaariger Mann ein, der ein schreiend buntes Hawaiihemd trug.

Nach zwei Bier und Korn wurde Verena ungeduldig. „Komm´, wir setzen uns dahinten in die Ecke. Nicole, machst du uns noch zwei Bier?“

Sie versanken fast in den weichen Ledersofas am Fenster unter der Wand mit den vielen Fotos. Verena fasste Roalds Hand und wollte Etwas sagen. Roald ließ sie nicht und meinte mit äußerstem Ernst:

Verena, bevor du etwas sagst. Ich muss dich Etwas fragen. Du musst nicht sofort darauf antworten. Und ich stelle die Frage in aller Ernsthaftigkeit: willst du mich heiraten?“

Verena stand auf und gab ihm einen langen innigen Kuss.

Nein, Roald, ich werde dich nicht heiraten. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich werde überhaupt Niemanden heiraten. Die Ehe ist für mich eine total überflüssige Einrichtung. Entweder die Liebe ist da, oder die Liebe ist nicht da. Nein, erzähl´ mir nichts von Steuerersparnis! Wenn eine Ehe auf rein materiellen Grundlagen fußt, ist sie ohnehin nichts wert. Nun schau doch nicht so betroffen! Ich sagte doch, dass es nichts mit dir zu tun hat. Und damit du es weißt: würde ich die Ehe als Institution akzeptieren, wäre meine Entscheidung ebenso eindeutig. Ja, ich würde dich heiraten. AUF! DER! STELLE!“

Roald saß eine Weile wie erstarrt da, dann brüllte er in voller Lautstärke:

Lokalrunde!“

Jetzt war es an ihm, Verena einen Kuss zu geben. „So, jetzt bist du an der Reihe. Was wolltest du mit mir besprechen?“

Entschuldige bitte, aber ich muss erst einmal aufs Klo. Ich will mich ausheulen.“

Sie kam mit geröteten Augen zurück und setzte sich neben ihn. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und meinte mit Bewegung in der Stimme:

Eigentlich hast du mir die Antwort schon gegeben. Du gehst doch nächstes Frühjahr wieder zurück nach Norwegen. Ich hab´ mich fast nicht getraut, dich zu fragen, doch nach deinem Antrag fällt es mir leicht. Ich möchte gern mit nach Løpsmarka kommen, Darf ich?“

Wieder konnte sich Roald kaum rühren. „Ich kann mir doch nichts Schöneres vorstellen! Aber was ist dann mit deinem Studium?“

Du musst mir verzeihen: ich kann doch in Bodø Biowissenschaft und Wasserkultur studieren. Von meinen Fächern hier ist das nicht so weit entfernt,“ sie konnte ein verschmitztes Grinsen nicht unterdrücken, „also sehe ich die vergangenen Semester nicht als verloren an. Und es ist doch ideal: ich kann mit dem Fahrrad zur Uni fahren.“

Roald schaute skeptisch drein. „Im Winter? Außerdem gibt es in Bodø keine Universität, sondern nur eine Hochschule.“

Nur? Alter Besserwisser! Weiß ich doch. Außerdem kenne ich einen Menschen, der einen alten T1 besitzt. Den frage ich, ob ich den im Winter benutzen kann. Und ein Bus fährt dort bestimmt auch.“

Ist ja schön und gut, aber wirst du in Bodø denn auch aufgenommen? Dauert es nicht auch eine Weile mit dem Einschreiben?“

Auf die Gefahr hin, dass du jetzt sauer bist: Bodø nimmt mich auf. Und eingeschrieben habe ich mich auch schon.“

Lokalrunde!“

 

*

 

Der Hafen von Bodø lag im hellen Sonnenlicht, als die „Finnmarken“ der Hurtigruten langsam ihren Liegeplatz anlief. Nach dem Festmachen strömten die Touristen die Gangway hinunter und machten teilweise den Eindruck, als seien sie auf einer Safari im tiefsten afrikanischen Busch. Ausgebeulte Breeches, Khakihosen über dürren Altmännerbeinen, Buschhemden, Westen mit einer Unzahl von Taschen, verwegene Schlapphüte oder gar Tropenhelme komplettierten das Bild totaler Albernheit. Verena konnte ein Lachen nicht unterdrücken als sie den alten Bulli auf den Parkplatz lenkte und die Passagiere in ihrer abenteuerlichen Aufmachung sah. Von der langen Schlange der wartenden Autos auf die Fähre nach Moskenes ertönte wütendes Gebrüll. Der Fahrer eines italienischen Wohnmobils hatte seinen Abwassertank mitten auf dem Parkplatz entleert.

Roald hockte völlig verkatert auf dem Beifahrersitz. Der gestrige Abend mit seiner Fußballmannschaft anlässlich des Gewinns der Bezirksmeisterschaft steckte ihm noch in den Knochen. Verena empfand kein Mitleid. Sie hatte sich genau so vergnügt wie Roald, aber keinen Tropfen Alkohol getrunken. Sie sah seinen Kater auch nicht als Strafe an, sondern einfach als Konsequenz. Sie machte ihm auch keine Vorwürfe. Roald trank so selten Alkohol, dass schon geringe Mengen genügten, ihn in Rausch zu versetzen und ihm am nächsten Tag eine Menge Kopfschmerzen zu bereiten.

Im schmucklosen Bahnhofsgebäude der Nordlandsbane mit dem Uhrturm, der an das Rathaus von Oslo erinnerte, schauderte Verena angewidert, nachdem sie den ersten Schluck ihre Kaffees genommen hatte.

Norwegen ist ein so fantastisches Land mit genau so fantastischen Männern.“ Sie strich zärtlich über Roalds Wange. „Doch warum nur ist hier Niemand fähig, in einem Café einen halbwegs trinkbaren Kaffee zu bereiten? Weshalb muss es immer diese kochend heiße bittere Brühe sein?“

In Land wird langweilig, wenn es nichts daran auszusetzen gibt.“ meinte Roald lakonisch.

Ein rot lackierter Bombardier Talent in Doppeltraktion fuhr langsam in den Bahnhof ein. Die Schar Möwen, die einen Prellbock des Kopfbahnhofs besetzt gehalten hatte, stob mit einem empörten Kreischen davon. Nach dem Öffnen der Türen half eine auffallend schöne Frau mit knöchellangem Rock einer Greisin die kleine Klapptreppe hinab. Die jüngere Frau fasste die ältere an den Schultern und drehte sie Richtung Verena und Roald. Unter den Arm geklemmt hielt sie eine eine Hardangerfiedel.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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