Das Havelland begrüßte uns zu einem Zeitpunkt, zu dem es wieder einmal in eine missmutige Stimmung gefallen war. Wenn dieses als Omen für den Beginn einer Reise oder eines Abschnitts derselben gedeutet wird, standen uns ungemütliche Tage bevor. Doch Omen unterliegen ebenso den Launen des Zufalls wie eine verlässliche Wettervorhersage.
Wir waren von Westen gekommen, vom Arendsee her und hatten die Altmark durchquert und jetzt nur noch Hunger, unbändigen und beißenden Hunger. Unsere Erwartungen an das gastronomische Angebot dieser Region waren auf das Heftigste erschüttert worden. Wir durften doch annehmen, dass es mindestens in Seehausen, an der Straße von Wittenberge herunter gelegen und zudem mit einer Bahnstation versehen, eine Möglichkeit zur Einkehr gäbe. Ha! Weit gefehlt! Nun standen wir mit knurrenden Mägen in Räbel am Ufer der Elbe, enttäuscht und wütend darüber, dass die Fähre, die uns hinüber ans andere Ufer und damit zum Campingplatz nach Havelberg bringen sollte, still und so gar nicht zur Überfahrt bereit an ihrem Liegeplatz vertäut war. Sie fuhr nicht. Das Elbehochwasser machte ein Anlegen an den Fährstationen unmöglich. Hätte die Reederei nicht wenigstens eine Wurstbude für darbende Radreisende aufstellen können? Nein, unsere Mägen saßen schon auf den Sätteln auf, und wir mussten die 20 Kilometer nach Sandau hinter uns bringen, um die nächste Möglichkeit, über die Elbe zu kommen, zu erreichen. Ebenfalls eine Fährverbindung, die gemäß Aushang in Räbel jedoch allen Widrigkeiten zum Trotz noch ihren Dienst versah. Die Luftlinie dorthin war um ein gutes Drittel kürzer, doch mussten wir das Auengebiet der Alten Elbe umfahren, durch das unsere ansonsten ausgezeichneten Karten des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs keine Wege vorschlugen. Daher eine eintönige Landstraße ohne Gegenverkehr, dafür mit manchem Auto, das uns überholte, wohl in der Absicht, ebenfalls die Fähre in Sandau zu nutzen.
Auf der Straße zum Fährhafen staute sich eine unüberschaubare Menge von PKW, Lastwagen und Reisebussen. Wir rollten mit Schmackes an der langen Schlange vorbei, durchaus nicht immer mit Beifall bedacht. Das Manöver lohnte sich: ein Matrose, Decksmann oder wie auch immer die Bediensteten auf Fährschiffen heißen mögen, winkte uns auf die Rampe, und wir durften unsere Räder in einen Winkel des Kahns quetschen. Jetzt wurde auch klar, warum die Fähre hier in Sandau in Betrieb war und die in Räbel nicht: hier handelte es sich um eine Motorfähre, während die in Räbel eine Gierseilfähre war, deren Konstruktionsmerkmale es unmöglich machten, bei extremem Hochwasser sicher zu navigieren. Auch an der Fähre Sandau kein Wurststand.
Schnurgerade direkt nach Norden, nach Havelberg, dem Tor des Havellands. Ich weiß: das Havelland beginnt eigentlich erst mit dem Gülper See, doch bei Havelberg mündet die Havel in die Elbe, und wir wollten jetzt diesem Nebenfluss hinauf bis zum Schwielowsee folgen, also begann für mich hier das Havelland. Nicht erst in die Stadt hinein, sondern sofort auf die künstliche aufgespülte Insel auf den dortigen Campingplatz, einer unordentlichen, heruntergekommenen Anlage, deren Rezeption genau so verwaist war wie es der Platz zu sein schien. Egal – wir waren erschöpft und wollten nicht mehr weiter. Der ausgewählte Standplatz neben einem schmalen Sandweg mutete ideal an: größtmögliche Ruhe und ungehinderte Aussicht auf den Fluss. Das noch ungelöste Problem war der Hunger. Wir hatten beide keine Lust, noch einmal in die Stadt hinauf zu fahren, um Lebensmittel einzukaufen, weil wir ohnehin nicht mehr damit rechneten, noch geöffnete Geschäfte anzutreffen. Also begnügten wir uns mit Mars, Snickers und heißem Tee.
Ruhe und Abgeschiedenheit waren eine Illusion. Bei einem Rundgang um die Insel sahen wir mehrere Trabis in mehr oder weniger (meistens mehr!) abgehalftertem Zustand über die Brücke rollen, besetzt mit grölendem Jungvolk, männlich und offensichtlich bereits schwer betrunken. Nachdem am späten Abend der vierte Möchtegern-Fangio seine desolate Rennpappe auf dem eigentlich den Fußgängern vorbehaltenem Weg um Haaresbreite an uns vorbei geprügelt hatte, zogen wir die Konsequenz und uns selbst samt Zelt in weiter hinten liegende Büsche zurück. An Schlaf war noch lange nicht zu denken – bis spät in die Nacht blubberten überall auf der Insel die Zweitakter.
Der Missmut des Havellands setzte sich am nächste Morgen fort. Die immer noch verwaiste Rezeption war nutzlos, wenn es auf den Toiletten kein Klopapier gab. Leichtsinnigerweise hatten wir keines mitgenommen. Und die Besitzer der Rennpappen mochte ich nicht fragen, außerdem wäre es sinnlos gewesen, weil sie in ihren hermetisch verschlossenen Zelten mein Begehren sicherlich nicht wahrgenommen hätten, so sehr waren sie mit dem Ausschlafen ihres Rausches beschäftigt. Dabei war der Darmdrang gewaltig, höchst gewaltig. Also setzte ich mich doch auf eines der Löcher ohne Wasserspülung, mit gebremster Erleichterung einen kleinen Stapel älterer Ausgaben des „Spiegel“ neben dem Abort wahrnehmend. Wer einmal versucht hat, sich mit dem Glanzpapier dieses Magazins den Hintern abzuwischen, weiß wie sich Sisyphos gefühlt haben muss. Schadensbegrenzung: in den Waschräumen floss wenigstens das kalte Wasser.
Wie die Ankunft, so der Abschied. In einer Stadt wie Havelberg, immerhin nannte sie einen Dom ihr eigen, musste es doch eine Möglichkeit des standesgemäßen Frühstücks geben! Pustekuchen – es war Sonntag. Sogar das Hotel am Hafen, deprimierend trist, wies uns mit der Begründung ab, dass eine Verpflegung nur für Hotelgäste ausgegeben werde. Allmählich wurde die Lage kritisch. Es gab ja nicht einmal einen Bahnhof, der uns mit einem Kiosk oder gar Frühstückscafè hätte glücklich machen können. Ja, sollten wir denn im Herzen Mitteleuropas schmählich verhungern müssen? Es gab nur eine Lösung: Weiterfahren!
Die Landstraße Richtung Osten war wunderbar. Eine schattige Allee auf einem Damm, der wohl die Funktion eines Deichs erfüllte, durch die erhöhte Position ein herrlicher Blick auf die Landschaft bietend, die Havel schwang sich in weiten Bögen immer wieder heran. Aber auch hier keine Wurstbude. Jederitz, ein gottverlassener Ort von unerklärlicher Berechtigung, konnte sich nicht einmal eines Kirchspielkrugs rühmen – es gab keine Kirche. Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben, binnen Tagesfrist etwas in unsere Mägen zu bekommen, da erreichten wir Kuhlhausen, eine Ansammlung von Häusern dörflichen Charakters etwas abseits des Flusses. Ohne Erwartungen radelten wir auf der Havelberger Straße durch den Ort, ignorierten fast den trüben Dorfteich, auf dem sich lahme Enten mehr vom Wind treiben ließen, als dass sie mit Bewegungen ihrer Paddelfüßchen für eine Vorwärtsbewegung sorgten. Die dicke Schicht Entengrütze verlangsamte noch die einschläfernde Tätigkeit. Wir ignorierten den Weiher nur fast, denn Barbara warf einen prüfenden Blick darüber hinweg und sagte den erstaunlichen Satz: „Ich glaube, der Dorfkrug hat geöffnet.“ Und tatsächlich: in einem L-förmigen Gebäude – ein Flügel Wohnhaus und Gaststätte, ein Flügel Wirtschaftsräume und Stallungen – stand die Eingangstür offen, Geschirrklappern drang heraus, und über einem Fenster verkündete eine verblichene Leuchtreklame erwartungsfreudig „Gasthof Havelblick“. Von der Havel war weit und breit nichts zu sehen, doch das war mir vollkommen gleichgültig. Gleich ausgezehrten Wüstenwanderern betraten wir den Gastraum und fragten nach Frühstück. Es wurde uns gewährt! Die bäuerliche, mürrische und dicke Wirtin verabschiedete noch zwei Dorfbewohner, festtagsmäßig gekleidet und uns misstrauisch beäugend. Auf meine Frage, welche verschiedenen Arten von Frühstück es denn gebe, kam die brummige Antwort: „Na, Frühstück eben. Wollt ihr, oder wollt ihr nicht?“ Wir wollten. Ein Körbchen mit trockenem faden Graubrot, reichlich Butter, nämlich in einer Dose mit Deckel ein wahrhaftiges halbes Pfund, weißlicher Käse, der aus einem holländischen Treibhaus hätte stammen können, eine fantastisch schmeckende Mettwurst der groben weichen Art, ein Klacks Erdbeermarmelade. Ach, ja, eine große Kanne Kaffee, brühend heiß und herrlich stark. Brötchen? Fehlanzeige, schließlich hatten wir Sonntag. Scheiß Backverbot! Auf mein vorsichtiges Ansinnen, ob wir nicht vielleicht Rühr- oder Spiegeleier mit Speck bekommen könnten, erhielten wir die bestimmte und wieder mürrische Antwort: „Eier gibt`s nur wochentags.“ Ja, dann. Um so größer war meine Verblüffung, als sie uns mit einem Lächeln (ich hatte nicht geglaubt, dass sie dazu fähig sei) ein Schälchen mit neun Stück Rosenkohl auf den Tisch stellte, butterglänzend und heiß. Rosenkohl im Mai? Zum Frühstück? Und warum ausgerechnet neun Röschen, warum nicht zehn oder acht? Schließlich waren wir zwei Personen. Letztendlich war es egal, denn Barbara war nicht nach Rosenkohl. Ich kannte in dieser Beziehung keine Hemmungen.
Mit dem Auftischen des Kaffees hatten auch die Dorfbewohner wieder den Gastraum betreten. Sie saßen am Tresen und tranken Fassbier, langgesichtig und immer noch misstrauische Blicke zu uns herüber werfend. Hatten sie Angst, wir würden ihnen den kostbaren Gerätewagen der Freiwilligen Feuerwehr stehlen? Oder störten sie unsere entnervten Augenaufschläge, wenn erneut ein Lied von Roger Whitaker aus den Lautsprechern dröhnte? Zu unserer Erbauung hatte die Wirtin zu Beginn unserer Mahlzeit eine CD eben dieses Sängers eingelegt und hatte auch noch die Chuzpe, nach Ablauf der Spielzeit der ersten eine zweite nachzuschieben. Schöne Erbauung. Na, wenigstens durften wir dort rauchen.
Ha! Mit neuer Kraft weiter auf unserer Flussexpedition. Es dauerte jedoch noch eine geraume Weile, ehe wir die Havel wieder erreichten. Das Land war flach und mochte eine Korn- und Rübenkammer sein. Wäldchen oder gar Wälder gab es kaum, höchstens stand einmal am Feldrand eine kurze Reihe Bäume. Unsere Allee war mit dem doppelten Baumspalier eine Ausnahme. Wegen der außerordentlich gut aufgelegten Sonne waren wir über die schattenspendenden Blätterdächer sehr dankbar, wenn auch durch das ständig wechselnde Licht die vielen Schlaglöcher der arg vernachlässigten Straße nicht immer rechtzeitig auszumachen waren. Barbara bedachte die Stolperstellen, wenn sie wieder einmal beim Hineingeraten kräftig durchgeschüttelt worden war, mit einer derart obszönen Bezeichnung, dass ich sie hier unmöglich wiedergeben kann. Der teilweise an vergangene Zeiten erinnernde Straßenzustand war für den Rest des Tages der einzige Misston während einer herrlichen Radfahrt. Trotz der kürzlichen negativen Erfahrungen waren wir in Bezug auf die Ernährungsfrage voller Zuversicht. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht in Rhinow oder spätestens in Rathenow eine uns zusagende Gaststätte aufzufinden wäre. Ein Storch auf einer sumpfigen Wiese schien unsere Ansicht zu bestätigen: während er mit staksigem Schritt uns langsam entgegen stolzierte, nickte er beifällig und leicht hochmütig mit dem Kopf. Vielleicht war er auch nur verbittert, dass ein Großteil des Geländes zwischen Straße und Fluss wegen der Havelflut unter Wasser stand und so sein Gebiet für die Nahrungssuche arg eingeschränkt war. Die beiden Graureiher, die unbeweglich und mit weit vorgerecktem Hals auf einem toten Ast hockten, waren wahrscheinlich völlig anderer Meinung.
Allmählich hatte sich die Straße nach Süden gewandt. Wenn wir nach Rhinow wollten, mussten wir die Flussseite wechseln. An einer Abzweigung fern jeglicher Ansiedlung deutete ein verwittertes Hinweisschild nach links: „Rhinow 11 km“ Na, also. Fast noch verlockender als die Aussicht auf größere Ortschaften und der damit (hoffentlich!) verbundenen Nahrungsaufnahme war der Zustand der nach Osten führenden Straße: sie war neu asphaltiert! Herrlich, bei schiebendem Rückenwind auf unbeschreiblich glatter Oberfläche dahinzugleiten. Der Übergang über die Havel machte mir keine Sorgen: meines Wissens gab es auf diesem Abschnitt des Flusses keine Fähren, sondern nur Brücken. Von Wald war immer noch keine Spur, und auch die schattenspendenden Kronen rechts und links der renovierten Straße waren konturlosen Gräben gewichen. Was machte es schon? Wir kamen gut voran, freuten uns auf das vor uns Liegende und störten uns auch nicht am Teergeruch, der vom schwarzen Asphaltband ausging.
Einen scheinbaren Dämpfer erhielt unsere Zuversicht, als wir die Brücke über die Havel erreichten. Eine rissige Betonkonstruktion, grau verwittert mit zwei Stützpfeilern in der Flussmitte. Und dann war sie sogar noch wegen des Hochwassers gesperrt! Ein ungeheuerlicher Affront. Nun gab es keine Schranke oder andere ernstzunehmende Sperre, sondern lediglich ein über die Fahrbahn gespanntes Flatterband sowie ein etwas dilettantisch hergestelltes Schild „Brücke wg. Hochwassers gesperrt! Vorsicht! Einsturzgefahr!“ Sowohl der korrekte Gebrauch des Genitivs als auch die Anzahl der Ausrufezeichen vermochten uns nicht zu beeindrucken. Ein Blick zwischen Barbara und mir, ich hob das rot-weiße Band an, und sie schob das Rad darunter hindurch. Ich folgte ihr auf dem Fuße. Kurz vor dem Erreichen der anderen Brückenseite hörte ich ein Rumpeln, Klappern und Blubbern hinter mir. Ein als Streifenwagen verkleideter betagter Wartburg schoss auf einem Feldweg der Brücke entgegen, eine gewaltige Staubwolke hinter sich herziehend. Er schlidderte auf die Straße und blieb Zentimeter vor der Absperrung stehen. Ich war ehrlich überrascht, dass ein so großer Mensch in einen Wartburg passte. Ein ellenlanger Uniformierter faltete sich hinter dem Lenkrad heraus und richtete ein Megaphon in unsere Richtung. „Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Die Brücke ist gesperrt, bitte kommen sie sofort zurück! Ich wiederhole: die Brücke ist gesperrt, bitte kommen sie sofort zurück!“ Ausrufezeichen waren in der Gegend schwer angesagt. Immerhin – er kleidete seine Aufforderung in die Form einer Bitte, wenn sie auch absurd war: wir hatten doch schon fast das rettende Ufer erreicht und sollten jetzt den ungemein gefährlichen Pfad wieder zurück gehen? Wir schoben unsere Räder weiter in die ursprüngliche Richtung. „Hallo! Das Betreten der Brücke ist verboten! Kehren sie um!“ Das klang jetzt eindeutig nicht mehr nach Bitte, doch wir dachten nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. „Jetzt reicht`s mir aber! Ihr kommt auf der Stelle zurück!“ Oha! Er meinte es tatsächlich ernst. Wir hatten inzwischen das jenseitige Absperrband erreicht, befanden uns also wieder auf sicherem Grund und ignorierten weiterhin flissentlich den Polizisten. „Sie begehen gerade eine Ordnungswidrigkeit! Ich belange sie mir einem Bußgeld von 30 Mark! Pro Person!“ Barbara stellte das Rad ab, drehte sich um und hob mit einer Hand und aufreizender Langsamkeit das Flatterband in die Höhe. Sie fingerte ein Feuerzeug aus der Hosentasche und hielt die Flamme an das straff gespannte Plastikband. Lautlos zerfiel es in zwei Teile und flatterte (wie sonst?) träge zu Boden, nun wirkungslos. Dabei vollführte Barbara eine so obszöne Geste, dass ich eigentlich mit roter Farbe weiter schreiben müsste. Sie konnte so etwas ausgezeichnet. Ich konnte fast die Hitze spüren, die vom hochroten Kopf des Streifenbeamten ausging, als er hektisch etwas in das Mikrophon seines Funksprechgeräts brüllte. Ich konnte es leider nicht verstehen. Der Grund lag nicht in der mangelnden Lautstärke, sondern an seinem stark sächsisch eingefärbten Idiom. Dabei befanden wir uns doch in Brandenburg.
Bei der Weiterfahrt war ich von leicht düsteren Gedanken erfüllt. Der Funkverkehr des Uniformierten machte mir Sorgen. Ich war nicht der Einzige: Barbara bog in den nächsten befahrbaren Feldweg nach Süden ab. Ich hielt sie nach kurzer Strecke auf und fragte verblüfft:
„Was soll das denn jetzt? Ich denke, wir wollen nach Rhinow!“
„Ach, hast du den Polizisten vergessen`“
„Wieso? Der weiß doch überhaupt nicht, wo wir hin wollen.“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Außerdem: hat er unsere Personalien aufgenommen?“
Barbara lächelte spöttisch. „Das braucht er wohl kaum. Schau dir doch unseren Aufzug an! Und wohin führt die einzige Straße in dieser Gegend? Bitteschön!“
Sie hatte Recht. Wir waren wirklich kaum zu verkennen. Zwei schwer bepackte Räder, jeweils zwei Ortlieb-Taschen vorn, zwei hinten, auf dem Gepäckträger ein großer Zeltsack, ein kleinerer für den Schlafsack, ein Päckchen für die Isomatte – Lastwagen auf zwei Rädern. Unsere persönlichen Erscheinungen waren auch nicht gerade alltäglich: Michi mit sehr langen strohblonden Haaren zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein langes über die Hosen fallendes Batikhemd, weite weiße Leinenhosen, nur der rechte Aufschlag mit einem Klettband vor der öligen Kette geschützt. Barbara mit ihren streichholzkurzen schwarzen Haaren, ein locker sitzendes Top und hautenge beige Jeansshorts, die ihre unverschämt gebräunten Beine prachtvoll zur Geltung brachten.
Ich hatte meinerseits andere Bedenken. „Um den Gülper See zu umrunden, müssen wir auf jeden Fall über den Rhin. Und das ist erst in Rhinow möglich. Also können wir auch gleich auf der Straße bleiben.“
Es war eine wenig abwechslungsreiche Fahrt mit etwas bangen Erwartungen. In Rhinow jedoch, fast zu unserer Enttäuschung, keine Hundertschaft der Polizei, kein Sondereinsatzkommando, ja, nicht einmal ein gewöhnlicher Verkehrsposten, der uns mit grimmiger Mine die Kelle entgegen streckte. Wir hatten uns viel zu wichtig genommen. Und eine geöffnete Speisegaststätte gab es in Rhinow auch nicht.
Barbara bestand darauf, die Bundesstraße 102 nach Rathenow zu nehmen, weil sie unser Ziel so schnell wie möglich erreichen wollte und keine Lust hatte, sich auf schlechten Wegen zeit- und kraftraubend durch Feld und Wald zu schlagen. Murrend erklärte ich mich einverstanden. Als wir etwas außerhalb von Rhinow in der üblichen Formation nach Süden rollten, Barbara hinten, ich führend, hörte ich den aggressiven Ruf: „Nun mach` mal zu, du alter Sack!“ Alter Sack! Dabei war ich noch nicht einmal 46 geworden und Barbara lächerliche 18 Jahre jünger. Aber, was sollte es? Ich trat kräftiger in die Pedale. Die Strecke nach Hohennauen am gleichnamigen See legten wir auf der wenig befahrenen Straße in weniger als einer halben Stunde zurück. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so war, doch in der Erinnerung habe ich das Gefühl, dass wir ständig am Rand eines Waldes entlang fuhren, hinter dem sich verheißungsvolle Hügel verbargen. Im Westen jedoch große Felder mit schnurgeraden Ackerfurchen. Nur wenige Pflanzen waren schon aus dem Boden geschossen. Es war doch gar nicht mehr so früh im Jahr!
Kurz hinter der Ortseinfahrt in Hohennauen lag rechter Hand ein Gasthof, dessen Namen ich vergessen habe (oder nicht nennen möchte). Er wirkte wenig einladend, war lieblos dort hin geklatscht. Doch er hatte geöffnet! Die Speisekarte im Aushang neben der Eingangstür stammte wohl noch auch sozialistischer Zeit, lediglich die Preise waren überklebt und neu ausgezeichnet. „Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat – 4,80 DM, Kohlroulade mit Specksauce (Entschuldigung: Specksoße) und Petersilienkartoffeln – 5,20 DM, Schweinebraten mit Rotkohl und Kartoffelklößen – ebenfalls 5,20 DM, Rinderrouladen (2 Stück) mit Blumenkohl, Sce. Hollandäs (so stand`s tatsächlich geschrieben) und Salzkartoffeln – 5,80 DM“ Ich musste nicht weiterlesen. Rinderroulade war eine meiner Lieblingsspeisen. Erwähnenswert ist vielleicht noch: In der Rubrik „Suppen“ war unter dem Aufkleber bei einer Speise noch der alte Preis zu erkennen. „Soljanka – 0,87 M“ Der neue Preis betrug 2,20 DM. Beim Betreten des Speiseraums schlug uns ein durchdringender und beißender Karbolgeruch entgegen. Ich packte Barbara am Arm und zog sie wieder hinaus. Heute keine Rinderroulade. Doch die Abschreckung hatte auch etwas Gutes: Als wir mit energischem Tritt und grimmig entschlossen, so schnell wie möglich Rathenow zu erreichen, durch das Dorf rasten, lachte uns am Ortsausgang ein verlockendes Schild an. „Fischrestaurant Strandgut 150 m links. Ganzjährig geöffnet. Sommergarten und Terrasse mit Seeblick“ Ich hatte noch nicht einmal den Arm gehoben, um meinen Richtungswechsel anzuzeigen, da fegte Barbara schon an mir vorbei, den entzückenden Hintern hoch in die Luft gereckt.
Der Seeblick war wirklich toll, das Essen auch. Im Schatten alter Kastanien aßen wir auf Empfehlung der Kellnerin eine Fischsuppe, danach eine Fischplatte für zwei Personen, bestehend aus Süßwasserfischen teils gebraten, teils gedünstet mit verschiedenen Gemüsen und verboten leckeren Bratkartoffeln. Was eine gegrillte monströse Garnele auf diesem Arrangement zu suchen hatte, war mir schleierhaft. Ich gab sie Barbara.
Der restliche Weg nach Rathenow war dann nur noch ein Klacks. Unser vordringliches Ziel dieser Reise war das Radfahren, nicht das Sightseeing. Daher begnügten wir uns, in Rathenow die mannigfaltigen Wasserläufe abzufahren, die die Stadt durchziehen (wirklich sehenswert!) und beim verlassen wirkenden Bahnhof mit Irina in Berlin zu telefonieren und zu fragen, ob wir sie in Charlottenburg besuchen kommen könnten. Leider wollte sie Übermorgen nach Peru aufbrechen. Also kein Berlin, keine Kneipenbesuche mit dem überbordenden Lachen von Irina, dann eben ohne zusätzliche Umwege nach dem Havelland weiter in den Spreewald. Nach dem Telefonat fragte mich Barbara: „Schaffen wir es heute bis Brandenburg?“ Oh, sie konnte sehr diplomatisch sein, wenn sie wollte. Natürlich wollte sie wissen, ob ich alter Sack es denn schaffe. Selbstverständlich!
Es bestand keine Möglichkeit, in der Nähe des Havellaufs weiter zu fahren, also nahmen wir wohl oder übel wieder die B 102 unter die Räder. Gegen alle Erwartungen wurde es eine wundervolle Fahrt! Verkehr und Wind waren uns günstig gesonnen, die Landschaft zeigte sich abwechslungsreich, von manchen Feldrändern schrie uns der erste Klatschmohn an, die beifällig hochmütigen Störche wurden zahlreicher, bei einer Zigarettenpause an einem kleinen Teich gaben uns Frösche ein ohrenbetäubendes Platzkonzert, Premnitz und Havelsee flogen vorüber, und in Brandenburg konnten wir sogar an einer geöffneten Tankstelle Lebensmittel für Abendessen und Frühstück erstehen. Dann ein kurzes Stück die Bundesstraße 1 zurück nach Westen, Eindrücke mörderischen Verkehrs und Gefahr für Leib und Leben, der Campingplatz auf der Halbinsel im Plauer See rettete uns. Auch hier war die Rezeption unbesetzt, doch die Anlage wirkte gepflegt, kaltes und heißes (!) Wasser waren kostenlos, die Duschen funktionierten ohne das Einwerfen von Münzen oder Wertmarken, einfach nur durch das Aufdrehen eines Hahns. Konnten wir mehr verlangen?
Auch der nächste Morgen sah kein Personal in der Rezeption. Barbara schrieb einen Zettel „Zwei Erwachsene, 2 kleine Zelte, 1 Standplatz, 2 Fahrräder, große Zufriedenheit“ und steckte ihn zusammen mit dem fälligen Betrag in einen Briefumschlag, den sie in den Briefkasten neben der Bürotür warf. Unser gutes Gewissen war ja schon fast unerträglich!
Brandenburg sah uns nur kurz: wir wollten keine Stadt, wir wollten Natur. Doch hatte die Stadt auch ihre Vorteile, konnten wir doch, gelernt aus der Erfahrung in der Altmark unsere Vorräte dergestalt auffüllen, dass uns sogar ein mehrtägiger Aufenthalt fern jeglicher Zivilisation nicht in Verlegenheit gebracht hätte. Die kleinen Landstraßen nördlich des Flusslaufs boten anschließend reichlich Natur. An einem idyllischen Wiesenstück hörte ich das unisone Blöken einer kompletten Schafherde hinter mir. Ich drehte mich nicht um – Barbara hatte gerülpst.
Doch was lief schief an diesem Vormittag? Das Wetter war herrlich, wir hatten noch viele Urlaubstage vor uns, Barbara und ich verstanden uns prächtig – warum bog ich, als Barbara einmal ein Stück voraus war, in einen breiten Waldweg ab, dann in einen schmaleren, um schließlich auf einem Pfad zu einer kleinen Lichtung zu gelangen, mit Lichtflecken gesprenkelt und hohem Waldgras bedeckt. Achtlos ließ ich das Rad fallen, legte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Mich hatte eine total fatalistische Stimmung überfallen. Mir war alles egal – sollten mich doch die Ameisen auffressen, mich das Wasser der Havelflut in die Elbe und ins Meer spülen, sollte mich doch ein Waldbrand zu Asche werden lassen, konnte ich nicht für ewige Zeit dort liegenbleiben und verdursten und verhungern (ich weiß, dass das so nicht geht)? Was hatte es schon für eine Bedeutung? Was hatte ich für eine Bedeutung? Keine. Die Erde würde sich nicht um einen Deut langsamer drehen. Reinhold Messner hat einmal in einem Dokumentarfilm von Werner Herzog über die Nanga-Parbat-Expedition gesagt „Wenn ich sterbe, hört auch die Welt auf zu existieren.“ Wie egozentrisch! Mein Verschwinden aus dieser Welt wäre folgenlos. Verschwendete ich denn in diesem Moment keinen Gedanken an Barbara, an die Freunde, an die Bekannten, Kollegen? An die Familie - mit der hatte ich längst radikal gebrochen. Nein. Ich dachte an Nichts. Ich wusste vordem nicht, dass so etwas möglich ist. Ich muss irgendwann eingeschlafen sein. Als ich erwachte und die Augen aufschlug, sah ich Barbara im Schneidersitz vor mir hocken. Sie blickte mich nachdenklich an. Sie, die burschikose, die manchmal so herrlich obszöne, die absolut unbeeindruckbar wirkende, die sich niemals wirklich zeigende Person, sie fragte leise mit Tränen in den Augen: „Ist es so schlimm?“ Ich konnte nur nicken. Sie fragte nicht weiter, nahm meine Hand, zog mich hoch und sagte leise: „Ich möchte, dass du mir jetzt etwas Schönes zeigst!“ Jetzt etwas Schönes? In dieser Situation? „Na, komm schon! Du weißt doch bestimmt Etwas, das weißt du doch immer.“ Damit hatte sie mich gefangen, aus meiner Lethargie geweckt. Ich beugte mich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Lütt Dirn, kumm man röwer, ick hebb `ne Birn.“ Barbara kannte ihren Fontane und wusste, was ich vor hatte. Sie schwang sich aufs Rad und rief: „Du fährst vor!“
Ich benötigte keine Karte, um den Weg zu finden. Ich wusste genau, wo der Birnbaum stand. Alleen, brandenburgische Alleen sahen uns dahin rasen, dichter Wald hielt uns nicht auf. Auch nicht die pfeifenden Rotorblätter der Windkraftanlage, die auf dem Hügel über der Ortschaft die Luft peitschten. Ein kurzes Innehalten, dann die Hauptstraße hinunter ins Dorf, links eingebogen, und wir standen vor der kleinen Kirche. Mit etwas enttäuschter Miene betrachtete Barbara den Bau. „Und wo ist jetzt der Baum?“ fragte sie. Ich zog sie ins Kircheninnere. In einer Ecke stand ein Baumstumpf, trocken und tot. „Gibt`s denn keinen neuen?“ fragte sie traurig. Ich schüttelte den Kopf. Der Originalbaum auf dem Grab der Ribbecks wurde wurde Anfang des Jahrhunderts bei einem Sturm umgeweht und bisher nicht neu angepflanzt. „Schade.“ Es war ein kaum hörbares Flüstern von Barbara. Was sie genau damit meinte, weiß ich nicht. Zum Trost kaufte ich ihr im Dorfladen eine Birne.
Nun aber auf anderem Weg zurück zur Havel! Es war ein Toben, ein Rasen. Würden wir noch den ausgesuchten Campingplatz südlich des Schwielowsees erreichen? Ich glaubte nicht daran. Na, und? Wir hatten Zelte, ausreichend Lebensmittel und Trinkwasser. Und wollten wir nicht Natur? Was war eigentlich mit der Landschaft zwischen Ribbeck und Ketzin, wo wir schließlich wieder an die Havel gelangten? Ich weiß es nicht, ich habe keine Erinnerung daran. Es war, als wollte ich die Stimmung vom Vormittag förmlich aus mir heraus treten. Alle Anstrengung nützte ohnehin nichts, denn in Ketzin gab es eine Verzögerung. Die Fähre, die uns hinüber nach Schmergow bringen sollte, wurde von einem übervorsichtigen Fährmann gesteuert. Es war eine Seilfähre, bei der das Führungs- auch gleichzeitig als Antriebskabel diente. Nur war es hier kein Seil, sondern eine Kette. Gibt es denn die Kategorie „Kettenfähre?“ Bei unserer Ankunft lag die Kette auf dem Grund der Havel. Nachdem wir auf den Kahn gerollt waren, spannte der Fährmann die Kette mittels einer am Ufer verankerten Motorwinde und setzte an Bord einen tuckernden Dieselmotor in Gang. Zwei sich drehende Antriebsrollen klemmten sie ein, und die Fähre begann sich langsam Richtung Flussmitte in Fahrt zu setzen. Die Antriebseinheit gab ein beunruhigendes Rumpeln von sich. „Verdammte Scheiße!“ rief der Fährmann und prügelte mit bedenklichem Krachen den Rückwärtsgang ein. Am Ufer angelangt, ließ er die Kette wieder auf den Grund sinken. Im Westen erschien in einer Flussbiegung ein großer Schubverband. Berufsschifffahrt hat eben Vorrang. Es dauerte jedoch noch eine geschlagene Dreiviertelstunde, ehe uns der Verband passiert hatte. In der Zeit hätten wir locker drei Mal hin und her kreuzen können. Beim Verlassen der Fähre bedachte Barbara den Fährmann wieder einmal mit einem Ausdruck, bei dem sich der Füller weigerte, ihn niederzuschreiben.
Den Schwielowsee hatten wir gestrichen. In einem versteckten Waldstück schlugen wir unser Nachtlager auf. Es war wunderbar dort, zum Waschen war die Havel da, das Gras war weich und duftete herrlich. Im nahen Wasser zog in der einbrechenden Dämmerung majestätisch ein Schwanenpaar vorbei. Beim Auspacken der Lebensmittel kam auch die Birne wieder zum Vorschein. Sie war angestoßen und hatte sich bräunlich verfärbt. Mit einem Schulterzucken warf sie Barbara in hohem Bogen ins Wasser.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Dauk).
Der Beitrag wurde von Michael Dauk auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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halbwertzeit der liebe
von Ditar Kalaja
In meinen Gedichten, schreibe ich mir meine eigene Realität, meine Träume auch wenn sie oft surreal, meistens abstakt wirken. Schreiben bedingt auch meine Sprache, meine Denkmechanismen mein Gefühl für das Jetzt der Zeit.
Ich vernehme mich selbst, ich höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Die Sprache ist dabei meine Helfershelferin und Komplizin, wenn es darum geht, mir die Wirklichkeit vom Leib zu halten. Wenn ich mein erzähltes Ich beschreibe, beeinflusse, beschneide, möchte ich begreifen, wissen, welche Ursachen Einflüsse bestimmte Dinge und Menschen auf mein Inneres auf meine Handlung nehmen, wie sie sich integrieren bzw. verworfen werden um mich dennoch im Gleichgewicht halten können.
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