SCHAALSEEGESCHICHTEN
Morgens um sechs Uhr in der Frühe war es noch entsetzlich kalt. Es mochte so um die zehn Minusgrade betragen. Was machte es uns aus? Die entsprechende Kleidung angezogen, die Taschen an die Fahrräder gehängt – und los ging`s! Wir schrieben den 22. Dezember 1997. Barbara und ich wollten zum Schaalsee, nach Dargow. Wir hatten dort im Schoppenhof, einem großen alten, liebevoll restaurierten Bauernhof bis zum 6. Januar eine Ferienwohnung gemietet. Die Vermieter hatten das Angebot gemacht, uns von Mölln oder Ratzeburg abzuholen. Aber doch nicht mit uns! Selbstverständlich fuhren wir mit dem Rad nach Dargow. Schließlich betrug die Entfernung nicht einmal 80 Kilometer.
Es war zwar kalt aber trocken. Vorausschauend hatten wir zwei Thermoskannen mit heißem Tee eingepackt und fühlten uns gegen die Kälte gut gewappnet. Anfangs lief es auch sehr gut. Auf trockenen Straßen kamen wir sehr zügig voran, lediglich der Fahrtwind biss ein wenig auf den Wangen. Die von uns genutzten Wirtschaftswege waren autofrei und von mit dickem Reif überzogenen Büschen, Hecken, Knicks und Bäumen gesäumt. Die Sonne am strahlend blauen Himmel beleuchtete eine wunderbare Winterlandschaft, der allerdings noch der Schnee fehlte. Auf einer Koppel in der Nähe von Trittau tobten einige junge Pferde herum, mit den Nüstern Dampfwolken in die klare winterkalte Luft blasend. Auch noch in Koberg hielt das wunderbare Wetter an. Wenn ich allerdings Richtung Westen blickte, sah ich eine bedrohliche Wolkenwand hinter der Hahnheide aufsteigen. Essensvorräte hatten wir nicht mitgenommen – wir wollten in Mölln in einem Schnellrestaurant an der Hauptstraße und abends in Dargow in einem Landgasthof etwas essen.
Bei der Teepause am Löschteich von Borstorf wurde es erstaunlich warm. Noch schien die Sonne, doch bezweifelte ich, noch bei trockenem Wetter unser Ziel zu erreichen. Na, ja, dann fuhren wir eben das letzte Stück durch Schneetreiben, dachte ich. Regen hatte in meinen Gedanken noch keinen Platz. Zunächst machte ich mir Gedanken über das rostrote Eichhörnchen, das in einem Haufen gefrorenen Laubs neben dem Teich herum wühlte. Wohl zu wenige Vorräte gesammelt, gell?
Wunderte es mich, dass Barbara im Restaurant das gleiche Mahl bestellte wie ich? Sie tat es fast immer. Sie wartete, bis ich meine Bestellung aufgegeben hatte und nahm dann das selbe Gericht, so war es in den meisten Fällen. Heute genossen wir eingelegte Bratheringe mit – natürlich – Bratkartoffeln und einem gemischten Salat. Als wir wieder auf die Straße traten, war die Wolkenfront bereits über uns, von Sonne keine Spur mehr. Vorsichtshalber die Wetterkleidung übergezogen und weiter ging`s. Nachdem wir die letzten Häuser Möllns Richtung Sterley hinter uns gelassen hatten, begann der Niederschlag. Eben nicht als Schnee, sondern als Regen.
Wir fuhren gerade locker eine leichte Steigung hinauf, als ich merkte, dass das Treten immer leichter wurde. Es war kein Wunder: Das Hinterrad fand überhaupt keinen Halt mehr! Der Regen gefror auf der immer noch sehr kalten Fahrbahn sofort zu blankem Eis. Es hatte keinen Zweck mehr, wir mussten absteigen und schieben. Im nachmittäglichen Dämmerlicht (es war der kürzeste Tag des Jahres) rutschten vor uns zwei Autos wie in Zeitlupe auf der leicht gewölbten Straße in den Straßengraben. Noch lachten wir. Aber nicht mehr lange. Ohne eine Bewegung zu machen, schlidderten wir ebenfalls langsam in den Graben. Jeder Versuch, das Rad auf die vereiste Fahrbahn zu stellen und es zu schieben, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es nützte nichts: Wir mussten unsere Räder im Graben, dessen Grasbewuchs einigermaßen Halt bot, mit viel Mühe voran stoßen. Große Gedanken machte ich mir nicht, denn inzwischen war es so warm geworden, dass bald wohl auch das Eis auf der Straße wieder schmelzen würde. Die Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt: Auch nach 90 Minuten war noch längst nicht an ein Fahren zu denken. Das Schieben im Graben wurde durch den Umstand erschwert, dass sich nicht mehr ein einziges Auto auf der Fahrbahn befand, alle waren ohne Ausnahme in den seitlichen Gräben gelandet. Es kostete erhebliche Mühe, uns und die Räder durch das dichte Unterholz an ihnen vorbei zu quälen. Dabei hatten wir es doch noch vergleichsweise gut, wir konnten unsere Fahrzeuge noch mit eigener Kraft bewegen, während die Autofahrer entweder orientierungslos auf der Fahrbahn herum rutschten oder sich hilflos an ihren Wagen festklammerten und verzweifelt in ihre Handys brüllten. Wen sie auch anriefen, ob Polizei, Feuerwehr oder private Abschleppunternehmen, es gab niemanden, der auch nur die Spur einer Chance hatte, bei diesen Straßenverhältnissen Hilfe zu leisten. Die vernünftigen Menschen sammelten sich zu Nothilfegruppen und setzten sich gemeinsam in einen Wagen, um dort im Trockenen und bei laufender Heizung auf Unterstützung zu warten, die hoffentlich in einigen Stunden kommen würde.
In Neu-Horst sprach uns ein Mann an der Abzweigung nach Alt-Horst an:
„Um Himmels Willen, wo wollt ihr denn hin?“
„Nach Dargow zum Schoppenhof.“
„Seid ihr verrückt? Da kommt ihr doch erst mitten in der Nacht an, wenn ihr so weitermacht. Ihr kommt erst einmal mit zu mir, wärmt euch auf, trinkt einen schönen Tee, und in ein, zwei Stunden, wenn das Eis wieder weggetaut ist, fahre ich euch nach Dargow.“
Jedes Protestieren nützte nichts, wir mussten dem Mann etwa 150 Meter auf dem buckeligen Kopfsteinpflaster folgen, das den Anfang der Straße nach Alt-Horst bildete. Wie oft war ich diese Strecke schon im Sommer gefahren, über mir wie ein klösterlicher Kreuzgang die leuchtenden Blüten der schnurgeraden Kastanienallee? Jetzt sah ich über mir nur Schwärze, nasse, schwere Schwärze.
Vor dem letzten Haus auf der rechten Seite hielt unser Samariter und bat uns hinein. Und was war das für ein Haus! Ein ungeheuer großes Bauernhaus mit allem was dazu gehört. Fachwerk mit schwarzen Balken und roten Ziegeln, ein mächtiges Reetdach, Stallungen, die offensichtlich gerade umgebaut wurden, wie sorgfältig in einem geschützten Unterstand gestapelte Balken verschiedener Abmessungen und noch mit Eisenbändern umfasste Mauersteine zeigten. Die Fahrräder stellten wir in der Garage ab, in der ein betagter Rover und ein glänzendes neues VW-Reisemobil standen. Die Regenkleidung und die Schuhe legten wir in der geräumigen Diele ab. Jetzt erst konnte ich den Mann betrachten, der uns aus der Kälte geholt hatte. Er mochte um die 50 Jahre alt sein, um die einsachtzig groß, eisgraue Stoppelhaare betonten einen kantigen Schädel, ein Dreitagebart gab ihm ein legeres Aussehen, das durch ein Holzfällerhemd und ausgefranste Jeans noch verstärkt wurde. Der geflieste Boden, eindeutig mit Fußbodenheizung versehen, die alten Schränke an den Wänden, eine antike eisenbeschlagene Truhe, die weiträumige Garderobe aus dunklem Eichenholz mit blinkenden Messinghaken, die kleine Sitzgruppe aus Rattan, in ihrer Modernität durchaus zum Ambiente passend, der an einer Kette herab baumelnde Leuchter und die Spiegel mit Facettenschliff in schweren Rahmen zeugten von Wohlstand. Ich war beeindruckt. Mir blieb jedoch der Mund offen stehen, als wir nach Passieren eines kleinen Ganges das Wohnzimmer erreichten. Es war ein saalähnlicher Raum, der mittig um etwa einen Meter tiefer gelegt war, so dass sich eine Art Empore von einem Meter Breite an den Wänden entlang zog, gesichert durch ein wuchtiges Eichengeländer, unterbrochen nur von der Fensterfront an der Gebäuderückseite, deren Flügel bis zum Boden reichten und einen weiten Blick über die Landschaft zuließen, wenn denn überhaupt etwas zu erkennen war. Jetzt war draußen nur die erwähnte nasse Schwärze.
„Kommt weiter, bei diesem Wetter wollen wir es gemütlicher haben“ Der Mann zog uns weiter. Gemütlicher? War denn dieses Wohnzimmer, diese Gute Stube, dieser Wohnsaal nicht gemütlich? Er machte mir mit den verschiedenen Sitzgruppen durchaus nicht in Couchtischhöhe (!) und Läufern auf dem dunklen Dielenboden einen wirklich anheimelnden Eindruck. Einen Fernsehapparat konnte ich nicht entdecken. Gehorsam folgten wir unserem Gastgeber weiter in eine Küche von wahrhaft riesigen Ausmaßen. Sie wurde von einem gewaltigen Tisch aus Kiefer beherrscht, der wohl an die vier Meter Länge haben mochte und eineinhalb Meter breit war. An der Stirnseite saßen vier Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten aussehen können. Darunter eine blonde Frau mit nordisch herben Gesichtszügen, die blonden krauswolligen Haare nach hinten geflochten, eine Vielzahl von kleinen Fältchen im Gesicht, die jedoch keine Chance gegen die beherrschende Masse der Sommersprossen hatten. Als sie aufstand und ein buntbedrucktes wadenlanges Kleid zeigte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, während sie sagte:
„Willkommen, ich bin Trude-Klara. Ihr nehmt doch bestimmt Tee und Kuchen, nicht?“ Sie sprach es mit einem so drolligen skandinavischen Akzent aus, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte. Sie mochte ebenfalls um die fünfzig sein und strahlte eine Aura von Stärke aus, die mich sofort in den Bann zog. Sie war ungefähr einen halben Kopf größer als ich und genau so schlank. Es war mir sofort klar, dass sie das Licht der Familie war. Auch die anderen drei Personen standen auf und Trude-Klara fragte:
„Viktor, willst du unsere Gäste nicht vorstellen? Das sind unsere Kinder Anton, Knut und Anja. “ Bei letztgenannter verklärte ein liebevoller Ausdruck ihr Gesicht. Als Kinder konnte ich die drei Menschen allerdings nicht bezeichnen, es waren junge Erwachsene von Anfang bis Mitte zwanzig Jahren. Der offensichtlich Älteste, Anton, hochgewachsen und genau so flachsblond wie seine Mutter, trug einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd mit offenem Kragen, Knut, scheinbar der mittlere Spross, wirkte mit seiner spiegelnden Glatze und einer verwaschenen blauen Latzhose wie Lenny aus von „Mäusen und Menschen“ von John Steinbeck. Er begrüßte uns mit einem breiten Grinsen. Der Knüller war allerdings das Nesthäkchen Anja: Die linke Hälfte des Schädels war kahl rasiert, während auf der rechten Strähnen in Handspannenlänge in wechselnden Farben von rot, grün, blau, lila bis violett wie ein Regenbogen herab zu fallen schienen. Das Gesicht hätte einem Eisenwarengeschäft alle Ehre gemacht. Eine Art Hundehalsband mit äußeren Stacheln umspannte den gertenschlanken Hals. Das zerrissene schwarze ärmellose Hemd bedeckte kaum die kleinen Brüste, die in keinen Halter gezwängt waren. Über einer löcherigen Strumpfhose undefinierbarer Farbe wippte ein kurzer Schottenrock in einem großartigen Muster. Trotz des etwas martialischen Outfits ging von ihr eine offene Herzlichkeit aus.
„Fön, daff ihr hier feid.“ lispelte die Punkerin, „der Kuchen ift gleich fertig, Den müfft ihr probieren, der ift einfach eine Fenfation! Niemand kann einen folchen Kuchen backen wie Trude-Klara. Waf hat euch denn hierher verflagen?“
Viktor nahm uns die Antwort ab:
„Barbara und Michael sind von Hamburg mit dem Rad gekommen und wollen noch nach Dargow. Und das bei diesem Scheißwetter!“
„Respekt, Respekt!“ Anton.
„Donnerschlag!“ Knut.
„Kraff!“ Anja.
„Dann wird es Zeit, dass ihr etwas heißes in den Magen bekommt, Setzt euch schon einmal. Wie Anja sagte: Der Kuchen ist gleich fertig, und ich kann wirklich stolz auf ihn sein! Ich mache eben noch frischen Tee.“ Trude-Klara.
Auch als sechs Personen an einem Ende des Tisches saßen, während Trude-Klara an der Küchenzeile hantierte, hatte ich das Gefühl, dass noch zehn Mal soviel Personen daran Platz hatten. Ich schaute mich in dieser Küche wie aus einem Märchenland um. Keine Eichendielen, nein, rostrote Terrakottafliesen bedeckten den Boden, wegen fehlender Heizkörper eindeutig auch hier mit einer Fußbodenheizung versehen. Geschwärzte, frei liegende Deckenbalken gaben dem Raum einen höhlenartigen Charakter, ohne bedrückend zu wirken. An drei Wänden zog sich eine Ahorn-Arbeitsplatte mit entsprechenden Unterschränken entlang. Die dritte Seite wurde genau wie im Wohnzimmer von bis an den Boden reichenden Fenstern beherrscht. Die blauen Vorhänge mit Mustern wie Gletscherzungen waren zu den Seiten gezogen und erlaubten einen Blick auf das gegenüber liegende Haus mit erleuchteten Fenstern und einer schaukelnden Laterne über der Eingangstür. An den zwei Stirnwänden zogen sich Reihen von Oberschränken entlang, die den Fenstern gegenüber liegende Wand wurde von einer mächtigen Kupferesse über einem sechsflammigen Gasherd beherrscht, rechts und links davon hingen an den Haken einer Edelstahlstange Gerätschaften aller Art, die einer Großküche alle Ehre gemacht hätten. In einen umlaufenden Deckenbaldachin waren eine Vielzahl von Halogenstrahlern eingelassen, die aber ausgeschaltet waren. Die Küche wurde vom Schein dreier Petroleumlampen erhellt, die von den Deckenbalken herab hingen. Neben den Glaskolben mit den brennenden Dochten waren jeweils drei Spiegel im Winkel von 45 Grad angebracht, die den Tisch in ein warmes Licht tauchten. Während einiger Minuten schwiegen wir, bis Trude-Klara den Tee in einer großen zerbeulten, sich nach oben verjüngenden Kupferkanne auf den Tisch stellte. Diese Kanne strahlte einen Glanz aus, der dem von Rembrandts Goldhelm um nichts nachstand. Sie verteilte flache Teeschalen auf Untertassen – wunderte es mich, dass es das Zwiebelmuster von Meißen war? -, legte zierliche Teelöffel dazu und drapierte ein Kännchen mit Sahne und ein Schüsselchen mit braunem Kandis genau vor meinem Gedeck. Die Familie schaute mich gespannt an, während Barbaras Gesicht ein einziges Fragezeichen war. Ich wusste genau, was zu tun war: Ich ließ einen Brocken Kandis in die Tasse gleiten, griff die Kanne und goss den Tee langsam darüber. Ich wagte nicht zu atmen, um das Geräusch der knisternden Kristalle nicht zu übertönen. Anschließend nahm ich den Löffel und ließ die weiße Sahne vorsichtig über den Löffelrücken in den dunklen Tee fließen. Ich rührte nicht um, sondern leckte den Löffel sorgfältig ab und legte ihn sachte auf die Untertasse. Trude-Klara, Viktor, Anton und Knut klopften mit den Knöcheln auf die hölzerne Tischplatte, während Anja begeistert in die Hände klatschte, begleitet von einem weiteren „Kraff!“ Trude-Klara bemerkte: „Er kennt Klüntjes und Wölkjes!“ Wir waren angekommen.
War schon der Tee zum Weinen köstlich, wurde er sogar noch vom Kuchen übertroffen! Trude-Klara zog vier große Pufferformen aus dem überdimensionierten Backofen, stürzte sie auf Holzbretter, stellte drei zur Seite und einen Kuchen vor uns hin.
„Fünf Minuten warten!“ befahl sie. Den anderen Familienmitliedern schien der Geifer aus den Mundwinkeln zu laufen. Endlich kam das ersehnte Kommando: „Jetzt!“ Viktor nahm ein großes Messer, schnitt dicke Stücke aus dem noch dampfenden Kuchen und schob uns die Teller hin. Ich nahm einen herzhaften Bissen und erstarrte. Ich brachte keinen Ton heraus und starrte wortlos das dicke Kuchenstück an.
„Ist dir nicht gut?“ fragte Trude-Klara besorgt.
„D-d-das i-ist ein Scho-schokoladenpu-puffer!“ stotterte ich mühsam hervor. „Und der schmeckt noch besser als der meiner Mutter. Und das ist einfach schier unmöglich! Niemand macht einen besseren Schokoladenpuffer als meine Mutter – oder doch...?“
„Ganf einfach!“ warf Anja ein, „ihr habt eben die felbe Mutter, und Trude-Klaras war noch ein wenig beffer alf deine.“
Die so hoch gelobte Schöpferin des himmlischen Kuchens errötete sogar ein wenig.
„Ich habe das Rezept tatsächlich von meiner Mutter, du wirst es nicht glauben. Es freut mich, dass es dir so gut schmeckt.“
Es dauerte nicht lange, und der große Puffer war bis auf den letzten Krümel weggeputzt. Das lautstark geäußerte Verlangen nach einem weiteren Kuchen wurde von Trude-Klara vehement abgewehrt. Sie meinte, die Köstlichkeit solle noch über die Weihnachtsfeiertage reichen.
„Pah! Daf Tfeug ift doch fpäteftenf morgen Abend nur noch Füllmaffe für unfere Mägen!“ protestierte Anja. Doch Trude-Klara blieb unerbittlich. Mit Freude sah ich, dass Anja ein Päckchen Schwarzer Krauser aus ihrem Schottenröckchen zauberte und sich eine Zigarette drehte.
„Dürfen wir hier rauchen?“ fragte ich hoffnungsvoll. Wir durften, obwohl die Brüder und Eltern Nichtraucher waren. Sie störten sich eben nicht am Zigarettenrauch.
Während unserer Verdauungszigarette ging Viktor nach draußen, um nach dem Wetter zu schauen. Resigniert mit dem Kopf schüttelnd kam er wieder herein.
„Wie es aussieht, müssen wir mindestens noch eine Stunde warten, wenn nicht länger. Aber habt keine Sorge: Ich fahre euch nach Dargow, und wenn es Mitternacht wird! Ich rufe nur mal eben im Schoppenhof an, dass ihr euch verspätet. Wollt ihr noch Tee?“ Mit dem größten Vergnügen. Als wir genüsslich das dunkle Gebräu schlürften, fragte ich, ob die Baumaßnahmen für die Einrichtung von Ferienwohnungen gedacht seien. Viktor wehrte lachend ab. Als er erzählte, was er mit dem Anbau vorhabe, wollte ich es zunächst nicht glauben. Er hatte tatsächlich vor, im alten Wirtschaftstrakt ein Theater zu bauen! Ein Theater in diesem kleinen Kaff mit geschätzten 60 Einwohnern! Und der Zuschauerraum sollte über 70 Besucher fassen! Er erklärte mir weiter, dass er eine kleine Laien-Theatergruppe leite, die seit langem nach einem geeigneten Spielort suche. Durch einen glücklichen Zufall sei er in der Lage, jetzt selbst eine solche Stätte zu schaffen. Bei diesen Worten lächelte Trude-Klara ihn wissend an. Ich hütete mich, weiter in der Tiefe zu bohren.
Anja stieß Wolken von Qualm aus und forderte uns auf: „Nun ertfählt mal, wiefo ihr mit dem Rad auf Hamburg gekommen feid, Warum habt ihr nicht Bahn und Buf genommen?“
Als wir erzählten, dass wir sämtliche Urlaube mit Rad und Zelt, im Winter manchmal mit Ferienwohnung machen, mussten wir erzählen, erzählen, erzählen. Selten habe ich eine so interessierte Zuhörerschaft erlebt. Ohne Zwischenfragen hingen diese Menschen an unseren, meistens meinen Lippen, höchstens manchmal unterbrochen durch ein heftiges „Kraff!“ von Anja. Schließlich machte uns Viktor sogar den Vorschlag, die Nacht in diesem exorbitanten Bauernhaus zu verbringen, statt noch nach Dargow zu fahren. Das lehnten wir nun vehement ab. Ich meinte sogar, dass wir allmählich doch wohl mit den Rädern weiterfahren könnten. Davon wollte Viktor überhaupt nichts wissen und bestand darauf, uns zu transportieren.
Zum Schluss fragte ich Trude-Klara, woher sie denn stamme.
„Ach, ich bin in Nordnorwegen aufgewachsen.“ erklärte sie in ihrem putzigen Idiom. „Da an der Wand hängt ein Bild meines Elternhauses.“ Ich stand auf und schaute es mir interessiert an. Die Fotografie zeigte ein helles Holzhaus aus Fichte oder Kiefer unter einem Spitzgiebeldach mit grauen Schieferschindeln gedeckt, eine große Terrasse halb von einem Vordach geschützt ragte in den steilen Hang hinaus, der zu einem Fjord abfiel. Es war eine beeindruckend schöne Szenerie.
„Wo ist denn das?“ fragte ich interessiert.
„Am Leirfjord in Höhe der Vesteralen und Lofoten.“
„Und dieses Paradies hast du verlassen?“
Trude-Klara sagte nichts, sondern schaute Viktor mit einer Zärtlichkeit an, die mir Gänsehaut verursachte.
„Kommt, lasst uns die Räder einladen. Ich denke, wir können jetzt los.“ Ich glaube, Viktor wollte in diesem Moment von der Situation ablenken.
„Ich helfe euch. Ich komme noch mit nach Dargow. Ich will noch mehr von euren Reifen wiffen!“ Anja.
In der Garage schob Viktor die Schiebetür des Bullis auf. „Nun mal rein mit euren Lastern!“ Anfänglich weigerte ich mich. Sollten unsere verdreckten und nassen Räder den blitzsauberen Innenraum dieses Schmuckstücks besudeln? Viktor wischte meine Bedenken mit der Bemerkung beiseite, dass der Bus kein Ausstellungsstück, sondern ein Gebrauchsgegenstand sei. Anja quetschte sich zu uns auf die hinteren Sitze. Während der Fahrt sah ich nichts von der vorbei fliegenden Landschaft. Es war nicht nur die Dunkelheit die Ursache dafür nein, ich hatte Gelegenheit, beim Erzählen Anjas Gesicht ausgiebig zu betrachten. Unter der Fassade von Sicherheitsnadeln und Steckern schien sich eine wahre Schönheit zu verbergen. Die Fahrt verging viel zu schnell, weil ich Lust am Erzählen hatte und dieses bemerkenswerte Gesicht gern länger angesehen hätte. Anja erzählte uns nebenbei, dass sie in Marburg Philosophie und Psychologie studiere.
Im Schoppenhof halfen Anja und Viktor noch, die Räder im Schuppen zu verstauen und das Gepäck in die Ferienwohnung im ersten Stock zu bringen. Zum Abschied gab er uns noch einen großen Karton, den wir erst öffnen sollten, wenn sie bereits wieder fort waren. Ich fragte ihn nach einem Gasthof in Dargow. Er lachte nur und meinte, dass die nächste Möglichkeit zur Einkehr in Seedorf auf der anderen Seeseite sei und das dortige Restaurant heute geschlossen habe. Nun, bis zum nächsten Tag würden wir schon nicht verhungern. Das sagte er mit einem verschmitzten Grinsen. Schließlich umarmte uns Anja heftig und meinte: „Wir fehen unf. Gantf beftimmt!“ Viktor winkte mit beiden Händen und polterte die Treppe hinunter.
Neugierig öffnete ich den Karton. Es waren ein ganzer Schokoladenpuffer und ein Beutel ostfriesischer Teemischung eines mir unbekannten Herstellers darin! So konnten wir wirklich nicht verhungern!
Vor dem Einschlafen lag ich noch lange wach und musste an Trude-Klara, diese außergewöhnliche Frau denken. Und es ging mir das Bild ihres Elternhauses nicht aus dem Sinn. Dort wollte ich einmal hin! Ich wollte mit dem Rad nach Norwegen.
Fünf Jahre später war es dann soweit: Ich machte eine fünfwöchige Tour durch Fjordnorwegen, die einfach überwältigend und unvergesslich war. Zwei Jahre später schaffte ich es sogar, die Lofoten und Vesteralen von Süd nach Nord zu durchqueren, um auf dem Festland den Rückweg anzutreten. Dabei fuhr ich auch am Leirfjord entlang. Und da stand es in Lisj-Sommerset, keine zwanzig Meter von der Küstenstraße entfernt, das Elternhaus von Trude-Klara! Es war einfach nicht zu verkennen, so sehr hatte sich das Bild bei mir eingebrannt. Ich war versucht, anzuklopfen und von der Tochter der Familie zu berichten. Ich ließ es lieber. Wusste ich denn, wer jetzt dort wohnte? Und aufdringlich wollte ich gerade in Norwegen nicht wirken. Aber auf jeden Fall musste ich dieses Haus fotografieren. Ich bin wirklich keine Koryphäe im Bereich der Fotografie, deshalb habe ich es in keiner Weise geschafft, den Zauber dieser Szenerie einzufangen. Ich hätte gern noch mehr Einzelheiten aufs Bild gebannt, doch ich habe Scheu davor, auf ein fremdes Grundstück zu gehen und wie ein Voyeur Interesse für alle möglichen Dinge zu zeigen. Leider kann das Bild überhaupt nicht die Atmosphäre dieses Ortes vermitteln, nicht die Reinheit der Luft, nicht den betörenden Duft der Birken und Nadelbäume.
Das Theater in Neuhorst. Es gibt es inzwischen tatsächlich. Wie weit Trude-Klara und Viktor noch darin involviert sind, weiß ich nicht. Gebt einmal bei Google „Theater im Stall“ ein. Ihr werdet euer blaues Wunder erleben!
Alltag
Eine Ferienwohnung hat den Nachteil (für mich eher ein Vorteil), dass keine Bediensteten vorhanden sind, die das Frühstück bereiten, die notwendigen Einkäufe tätigen, kurz: für das leibliche Wohl sorgen. Der erste Morgen in Dargow war geprägt von der Sehnsucht nach Kaffee, frischen Brötchen, gekochten Eiern, Rostbratwürstchen, Wurst, Käse, Honig und – der Süddeutschen Zeitung. All dieses hatten wir nicht. Wie denn auch? Ein Becher Tee und eine dicke Scheibe Schokoladenpuffer stärkten uns so weit, dass wir die Einkaufsfahrt nach Ratzeburg in Angriff nehmen konnten. Von den gestrigen katastrophalen Straßenverhältnissen zeugten nur noch vereinzelt im Graben liegende Fahrzeuge, die noch nicht geborgen worden waren. Die Straßen waren trocken, und es herrschten um die fünf Wärmegrade.
Pipersee, Salemer See – die Gewässer sahen uns kaum, schob uns doch ein kräftiger Ostwind zügig Richtung Ratzeburg. Bei der Einmündung der Seestraße in die Landesstraße 203 bog ein aus Richtung Ratzeburg kommender Trabi ohne Rücksicht auf Verluste links auf unsere Straße ein und schnitt die Kurve dergestalt, dass Barbara sich nur mit einem halsbrecherischen Manöver auf einen schmalen Waldweg retten konnte.
„Du Sohn einer blutpissenden Wanderhure! Du alter Fickscheißer!“ brüllte sie wutentbrannt dem davon fahrenden Wagen hinterher. Wenn Barbara erst einmal richtig in Rage war, konnte sie herrlich fluchen, und ihr Wortschatz an unflätigen Ausdrücken war schier unerschöpflich. Sie war so in Fahrt, dass sie beinahe das rotbraune Eichhörnchen, das die Fahrbahn kreuzte, mit dem Vorderrad pürierte.
Im Supermarkt an der Schweriner Straße in Ratzeburg war ihr Zorn immer noch nicht verraucht. Ein junger Mann in Schlabberjeans und mit Baseballmütze mit seitlich gedrehtem Schirm stand mit seinem Einkaufswagen so vor dem Gemüseregal, dass sonst dort niemand heran konnte.
„Willst du die Tomaten zu mehr Aroma hypnotisieren, oder darf der Rest der Menschheit vielleicht auch etwas einkaufen?“ knurrte Barbara. Der Mann drehte sich um und starrte die wohl 30 Zentimeter kleinere Barbara böse an. „Is was?“ Barbara musste einen Ausdruck gehabt haben, der einen Sherman-Panzer pulverisiert hätte, denn der Mann schob wortlos mit abgewandtem Blick seinen Wagen zur Seite. Und auch noch beim Bezahlen musste die arme Kassiererin unter Barbaras Laune leiden. Ich wollte die Rechnung mit meiner EC-Karte begleichen, doch der Automat hatte etwas gegen mein Plastik. Nur widerwillig bezahlte Barbara in bar, nicht ohne einen bissigen Kommentar abzugeben. „Wenn eure Lebensmittel so schmecken wie euer Kartengerät funktioniert, stopf` ich euch das Zeug in den Leergutautomaten!“ Barbara konnte sehr charmant sein. Als wir Tage später wieder einmal einkaufen waren meinte ich dem Automaten ein erleichtertes Grinsen zu entnehmen, als er unsere leeren Einkaufstaschen erblickte.
Trotz des genossenen Kuchens und der Aussicht auf ein ausuferndes und opulentes Frühstück in der Wohnung ließen wir es uns nicht nehmen, schon einmal vorzukosten. Über den Königsdamm, dann die steile Langenbrücker Straße hinauf, um bei der Bäckerei von Allwörden einzukehren und das Frühstücksangebot wahrzunehmen. Es war das „Fürstenfrühstück“ mit verschiedenen Brötchen, Schwarzbrot, Wurst, Käse, Honig, Konfitüre, Müsli und Rührei mit Schinken. Wir verzichteten auf das Müsli und baten um entsprechende Extraportionen Rührei. Das Essen war eine einzige Enttäuschung: die Zutaten lieblos auf einen riesigen Teller gehäuft, die Brötchen bar jeder Krossheit, viel zu wenig Butter, der Aufschnitt grauslich fade Industrieware, Honig und Marmelade einfach nur entsetzlich süß ohne jeglichen Eigengeschmack und das Rührei furztrocken mit Spuren angebrannten Kochschinkens. Wenigstens war der Kaffee gut. Mindestens die Hälfte des Angebots ließen wir auf den Tellern zurück. Die Bedienung, Typ verhärmte Hausfrau, besaß auch noch die Chuzpe, uns zu fragen, ob es uns denn geschmeckt habe. Na, da war sie bei Barbara an der richtigen Adresse! Ohnehin war die Frage angesichts der vielen Reste vollkommen sinnlos. Barbara war schon wieder auf achtzig und legte los:
„Hm, wenn auch das Ambiente der Lokalität nicht unbedingt zu längerem Verweilen verführt,“ dabei lehnte sie sich süffisant lächelnd zurück, „kann ich mich dem gewissen Reiz, den die Namen der angeboten Speisen ausstrahlen, nicht vollends entziehen. Man lasse sich das Wort einmal auf der Zunge zergehen: Kartoffelbrot. Kar-tof-fel-brot! Schwingt da nicht ein Hauch Poesie in diesen zarten vier Silben mit? Und dann dieses Fauchen eines Brötchens, Schrippe genannt. Wer hier weich „Schribbe“ artikuliert, erkennt nicht die Seele dieser Gabe des edlen Getreides. Nein, das Wort muss hart ausgespuckt werden, dass der Speichel über den Damast spritzt! Hier sind auch die Dekoration, die Präsentation der dargebotenen Ware nicht Selbstzweck und eitle Spielerei, im Gegenteil: Die Produkte sollen bar jeder Ablenkung für sich selbst sprechen, welch hehres Ansinnen. Wenn auch die Schrippe mit mindestens vier P`s ausgesprochen werden sollte, darf sie doch nicht den empfindlichen Gaumen plagen oder gar das verletzliche Zahnfleisch malträtieren. Deshalb das Brötchen nicht frisch auf den Tisch! Die Faustregel ist eine Ruhezeit von mindestens sechs Stunden, sagte schon der Clochard unter den Brücken von Paris, und der musste es wissen – seine Mundhöhle verunstaltete nicht ein Zahn. Hier werden wir auch von den Schrecken der Lebensmittelindustrie verschont: Nicht ein Produkt ist gefärbt, sämtliche Wurst- und Schinkensorten verstören nicht in ihrer farblichen Vielfalt, sondern prangen zurückhaltend in natürlichem Grau in Grau. Auch der Käse erinnert nicht an die Nummernschilder aus dem Land der Wohnwagen, ha! Vornehme Blässe ist angesagt. Zur großen Freude des unvoreingenommenen Genießers überdeckt der aristokratisch zurückhaltend angehauchte Eigengeschmack von Wurst und Käse nicht das kaum wahrnehmbare edle Aroma der minimalistisch gestrichenen Butter, die weise vorausschauend in kargen Portionen gereicht wird, damit die Streichmasse nicht zu sehr die ausgewogene Geschmackskomposition dominiert. In gewolltem Gegensatz zur bisher zelebrierten Dezentheit das wuchtig daher kommende Rührei mit dem scharf flambierten Hinterschinken, der es nur der virtuosen Fähigkeit des Kochs – ein wahrer Künstler! - verdankt, nicht als Holzkohle gereicht zu werden, weil der Herdzauberer genau die kaum auszumachende Grenze zwischen Genialität und Misslingen erkennt und die vortrefflichen Stücke vom Hinterteil des gemeinen Hausschweins rechtzeitig den gierig leckenden Flammen entreißt. Kein Eigensaft trübt die Freude auf den anschließenden Kaffeegenuss, der als Abschluss des Mahls die wahrhaftige Krönung darstellt.
Um es kurz zu machen: Der Kaffee war okay, der Rest absolute Oberscheiße! Und nun verpiss` dich!“
Die verhärmte Hausfrau war fassungslos.
„Was wollen sie denn jetzt machen? Möchten sie sich beim Filialleiter beschweren? Oder was haben sie vor?“
„Ich kann dir genau sagen, was wir vorhaben:“ zischte Barbara, „Ich bezahle diesen Schweinefraß hier, dann fahren wir nach Hause, mein Freund wird mich niederwerfen, als ob ich vom Blitz getroffen werde und mich spalten wie einen zarten Bambusschößling. Wie einen zarten Bambusschößling!“
Die arme Kellnerin erhielt nicht nur kein Trinkgeld von Barbara, sie musste auch noch den von mir über den Tisch geprusteten Kaffee aufwischen.
Während der Rückfahrt nach Dargow fragte ich Barbara, ob es wirklich nötig gewesen sei, die Kellnerin so abzufertigen.
„Ich brauchte das einfach. Jetzt ist mir erheblich wohler.“
Während wir in der Ferienwohnung die Lebensmittel verstauten, fragte ich:
„Wie war das jetzt mit dem zarten Bambusschößling?“
„Vergiss es! Jetzt wird gefrühstückt, aber richtig!“
Ich übergehe die Frühstücksorgie. In welchen Räumen tafelten wir denn überhaupt? Die Ferienwohnung war großzügig geschnitten mit einem großen Wohnraum einschließlich geräumiger Essecke. Der Laminatboden war nun nicht mein Fall, aber ich kann ja nicht alles haben. Dafür ein gemütliches Sofa und verlockende Ohrensessel, in denen es sich vorzüglich räkeln ließ. Ein großer Fernsehapparat (von uns nicht ein einziges Mal eingeschaltet) und eine gute Stereoanlage mit Radio, Kassettenrecorder und CD-Spieler. Vorausschauend hatte ich einen Stapel CDs und Kassetten eingepackt. Es war auch erforderlich, denn die in der Wohnung vorhandenen Tonträger enthielten Musik, die weder meinem noch Barbaras Geschmack entsprach. Große Fenster führte auf den Innenhof des alten Gutes hinaus – vom Schaalsee war nicht ein Zipfel zu sehen. Die Küche war klein, aber fein, eben alles vorhanden, was für eine Selbstversorgung erforderlich war. Das Bad wies sogar eine Badewanne auf, die uns manches Mal, so schien es mir, das Leben rettete.
Was machten wir nun den Tag über in dieser Abgeschiedenheit, wenn wir nicht unterwegs waren oder zarte Bambusschößlinge pflegten? Viel Zeit ging für das Kochen drauf, weil wir es beide mit Leidenschaft zelebrierten. Als begeisterte und eingefleischte Radiohörer war die Hörspielproduktion des Deutschlandfunks, die jedes Jahr zum Jahreswechsel in etlichen Folgen ausgestrahlt wird, Pflicht. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, was damals gesendet wurde. Es kann sein, dass es „Die Säulen der Erde“ nach Ken Follet war – sicher bin ich mir nicht. Jedenfalls saßen oder lagen wir nachmittags für zwei Stunden im Sessel oder auf dem Sofa und hörten gebannt zu. Wenn wir etwas vorhatten, programmierte ich den Recorder, und wir hörten uns die Folge abends an.
Unsere Hauptbeschäftigung in der Wohnung bestand jedoch aus dem Lesen. Wir hatten uns Stapel von Büchern mitgenommen, um nach Herzenslust schmökern zu können. Etliche Jahre zuvor hatte ich einmal den Versuch unternommen, den „Ulysses“ von James Joyce in der alten Übersetzung von Georg Goyert zu lesen: ein vergebliches Unterfangen. Um diesen Brocken verarbeiten zu können, bedarf es ungeheurer Konzentration und vor allen Dingen Zeit. Wie viel Zeit habe ich als in Arbeit stehender Mensch denn? Auch die Wochenenden reichen da nicht aus. Außerdem kam ich mit der deutschen Übersetzung nicht zurecht. Irgendwann kaufte ich mir die neue Übersetzung von Hanns Wollschläger, deren Sprache ich erheblich frischer und verständlicher finde, wenn er auch etliche kuriose Wortschöpfungen einfließen lässt. Auch damit kam ich nicht zurecht, weil ich einfach die nötige Muße nicht fand. In Dargow endlich schaffte ich es! Stunde um Stunde schlang ich dieses epochale Werk in mich hinein, durch nichts abgelenkt, schon gar nicht von Barbara, die viel zu viel Respekt vor der Persönlichkeit eines anderen Menschen hat und nebenbei selbst konzentriert mit ihrer eigenen Lektüre beschäftigt war. Ich glaubte sogar das Buch von Joyce zu verstehen. Ob es heute noch so ist? Ich sollte es wieder einmal auf einen Versuch ankommen lassen.
Auch in unserem gemeinsamen Urlaub entwickelten sich Barbara und ich nicht zu Langschläfern. Es geschah selten, dass wir erst nach sechs Uhr morgens am Frühstückstisch saßen. Es galt doch, den Tag zu erleben, zu genießen!
Die Katze auf dem kalten Holzstoß
Nun hatte der Winter Norddeutschland fest im Griff. Nicht nur die Kälte hatte wieder eingesetzt, auch der Schnee war reichlich vom Himmel gefallen. Der Schaalsee war teilweise zugefroren, doch wagten sich die Menschen noch nicht auf das Eis. Die umliegenden Wälder prangten wie im Winterwunderland, die Felder zeigten sich als weißwollige, faltige Bettlaken, und sogar auf den immerhin von den Bäumen geschützten Waldwegen war kaum ein Fortkommen möglich. Lediglich auf den Straßen ließ es sich einigermaßen gehen und fahren, hatten doch einige Fahrzeuge feste Spuren eingekerbt. Nach vier Tagen ununterbrochenen Schneefalls und einem Himmel gleich einem Sack geschorener und schmutziger Schafwolle zeigte sich plötzlich ein strahlender Morgen mit glitzerndem Neuschnee und wolkenlosem Himmel. Lag es nicht nahe, das Wetter auszunutzen und eine Radtour zu machen? Am Vorabend hatte der Wetterbericht zwar strengen Frost auch tagsüber angesagt – doch hatten wir nicht unsere Winterkleidung? Nach dem Frühstück also in die verschiedenen Schichten geschlüpft, meine von meiner langjährigen Lebensgefährtin Monika gestrickte, knallrote wollene Räubermütze übergezogen, die nur einen schmalen Schlitz für die Augen frei ließ, sogar in weißen Buchstaben meine Initialen aufwies und bis weit unter die Halsbeuge gezogen werden konnte, damit die dicke Daunenjacke ordentlich darüber geknöpft werden konnte. Die Hände schützte ich mit Fingerhandschuhen aus weicher Wolle und darüber gestülpten gefütterten Wildlederfäustlingen. Doppelte Wollstrümpfe und derbe Bergstiefel von Meindl komplettierten die Ausstattung. Ich fühlte mich bestens gerüstet.
Die ersten Schritte ins Freie konfrontierten uns mit einer im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Kälte. Es dauerte nur Sekunden, und auf den Bereichen vor Mund und Nase meiner Verbrechermütze hatte sich eine Reifschicht gebildet.
„Puh, ist das eisig!“ stöhnte Barbara.
„Strampeln wir uns eben warm.“ meinte ich noch voller Optimismus. Barbara fragte mich nicht, wo wir denn überhaupt hin wollten – in dieser Beziehung vertraute sie mir blind. Ich hatte vor, in einem Bogen nach Kittlitz zu gelangen, um dort im Dielencafè, das ich von früheren Besuchen kannte, einen wärmenden Kaffee zu trinken. Zwar hatten wir unsere Thermoskannen mit heißem Tee dabei, doch schien mir bei diesen Temperaturen ein Pausenaufenthalt in geheizten Räumen verlockender als bibberndes Sitzen auf einer eisüberzogenen Bank am Wegesrand. Das Dielencafè hatte seinen Sitz im Hof und Mittelflügel eines alten Gutsgebäudes, das ganz in der Tradition der alten wohlhabenden Höfe am Rand des Weilers mit zwei Längs- und einem Querflügel direkt am Hofsee erbaut war. Ich wollte dann weiter über Mustin und das Salemer Moor und Salem zurück nach Dargow. Ich freute mich jetzt schon auf den Schokoladenkuchen und Kaffee in der Ferienwohnung. Der Schokoladenpuffer von Trude-Klara war natürlich schon längst aufgebraucht, wir hatten uns in Ratzeburg mit fertigem Kuchen versorgt.
Die sechs bis sieben Kilometer nach Kittlitz gingen erheblich an die Substanz! Innerhalb kürzester Zeit war aus der Reifschicht eine dicke Eiskruste geworden, die das Atmen schier unmöglich machte. Also riss ich den unteren Teil der Haube unter das Kinn, um wieder Luft zu bekommen. Gut war das nicht! Die kalte Luft brannte wie Feuer in Luftröhre und Nase, die zudem noch nach weniger als einer Minute total verstopft war. Die doppelten Handschuhe brachten bei diesem eisigen Fahrtwind nicht den gewünschten Effekt: Schon bald hatte ich abgestorbene Finger. Das Schlimmste aber waren die Füße. Sie schienen nur noch aus zwei schmerzhaften kaum zu bewegenden Eisklumpen zu bestehen. Ich beschloss, nach der wärmenden Pause im Dielencafè auf direktem Weg wieder nach Dargow zurück zu fahren, egal was Barbara davon hielt. Als wir endlich vor dem Cafè hielten, war die Enttäuschung groß: Das Lokal wurde erst um 14 Uhr geöffnet, und dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr. Ich blickte mich zu Barbara um. Ihr liefen die Tränen über die Wangen, allerdings nicht weit, weil sie nach wenigen Zentimetern zu Eis gefroren.
„Nach Hause!“ nuschelte sie nur.
Die Rückfahrt war eine einzige Qual. Ich hatte mir zwar durch ein viertelstündiges strammes Marschieren im Cafèhof die Eisklumpen an meinen Füßen ein wenig antauen können, die Schmerzen waren jedoch kaum weniger geworden. Barbara schien es nicht besser zu gehen: Sie sprach bis zum Erreichen der ersten Häuser von Dargow nicht ein einziges Wort. Auch als wir zur Hälfte des Weges an der Bushaltestelle bei der Abzweigung zu den alten Fischerhütten am Ufer eine Pause einlegten und versuchten, uns am Tee aus den Thermoskannen ein wenig zu wärmen, kam keine Silbe über ihre Lippen. Leider war gegen diese Kälte auch die Doppelwandung der Kannen nicht wirklich erfolgreich, denn der Tee war nur noch lauwarm.
Während wir noch zitternd an der Haltestelle standen, kam ein alter Bauernmercedes vorbei, gehalten in der typischen gelben Farbe und eine dunkle Qualmwolke hinter sich herziehend. Hier war doch nicht etwa Heizöl im Spiel? Wir sahen ihn an der Abzweigung zum Kranichwinkel wieder. Der Fahrer war ausgestiegen und beugte sich über einen dunklen Gegenstand am Hinterrad. Als er uns herankommen sah, stieg er schnell ein und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon. Ich wollte nur noch in die Wärme, doch als ich näher war, sah ich, dass es sich um eine grauschwarz getigerte Katze handelte, die auf der Seite lag, die Augen geschlossen hielt, und vor der linken ausgestreckten Vorderpfote befand sich ein kleiner Blutfleck im weißen Schnee. Auch wenn mir erbärmlich kalt war – eine Katze, wenn sie vielleicht sogar tot war, konnte ich doch nicht auf der Straße liegen lassen! Ich stellte das Rad ab und schrie vor Schmerz auf, als ich mit meinem Eisklumpen von Fuß gegen den Ständer trat, um ihn herunter zu klappen. Ich beugte mich über die Katze. Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper. Die Augen waren geschlossen, und ich konnte keine Atmung feststellen. Ich wollte sie aufnehmen und irgendwo hin bringen, wohin, wusste ich selbst nicht. Doch als ich das Tier berührte, fauchte es, sprang auf und flüchtete sich mit ungelenken Sätzen auf einen mit Wellblech gedeckten Altholzstapel im Hof eines Anwesens auf der linken Straßenseite. So schnell es meine Frostfüße erlaubten, rannte ich hinterher. In meinem Rücken hörte ich das atemlose Keuchen von Barbara. Eine Windbö blies mir eine Wolke von Pulverschnee aus dem Holzstapel ins Gesicht. Ich nahm die beschlagene Brille ab und spähte unter das Wellblech. Keine Katze zu sehen. Es war ja auch kein Wunder – ohne Brille bin ich blind wie ein Maulwurf. Notdürftig reinigte ich die Gläser und schaute genauer hin. Da: In der hinteren rechten Ecke, halb unter einem zersplitterten Brett verborgen, lag das arme Tier flach auf dem Bauch und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich versuchte mit langem Arm die Katze zu erreichen, vergeblich, die dicken Fäustlinge passten nicht zwischen die Bretter. Ich zerrte die Handschuhe herunter und versuchte es erneut. Diesmal passten die Finger durch die schmalen Spalten. Ich schaffte es sogar, die Katze zu erreichen. Verängstigt und voller Panik hieb mir das Tier die Krallen in den Handrücken. Mit einem Aufschrei riss ich den Arm zurück und zerfetzte dabei den Ärmel der Daunenjacke. Trotz oder gerade wegen der Kälte war der Schmerz fast unerträglich. Ratlos wandte ich mich zu Barbara um.
„Wir müssen von irgendwo Hilfe holen! Wir können das Tier nicht dort liegen lassen! Die verreckt doch da!“
„Und von wo bitteschön? Hier ist doch der Hund begraben!“
Eine weitere Diskussion erübrigte sich. Ein etwa 13- bis 14-jähriges Mädchen in einer viel zu großen Wolljacke und in Reitstiefeln kam auf uns zugelaufen.
„Ist das Mimi?“ rief sie schon von Weitem. „Das ist doch nicht etwa Mimi?“
„Auf jeden Fall `ne Katze!“ knurrte Barbara missvergnügt. Ihr machte die Kälte wohl sehr zu schaffen. „Schau` doch selbst nach!“
Das Mädchen blickte unter das Wellblechdach.
„Das ist Mimi! Unsere Katze! So bekommen wir sie nicht heraus. Bleibt hier, ich hol` uns was!“
Damit rannte sie davon.
„Michael! Dein Arm! Was ist mit deinem Arm?“ schrie Barbara entsetzt.
„Was soll schon sein? Die Katze hat mich gekratzt.“ Damit schaute ich auf meinen Unterarm und erschrak. Der Ärmel der Daunenjacke war blutdurchtränkt. Vorsichtig zog ich mit der linken Hand die Ränder des Risses in der Jacke auseinander. Auch das Hemd darunter war zerfetzt und ließ den Blick auf einen tiefen Kratzer frei, der sich etwa 20 Zentimeter an der Innenseite des Unterarms entlang zog und heftig blutete. Barbara zog erschrocken die Luft ein.
„Du brauchst sofort einen Arzt! Ich such` das nächste Telefon!“ Sie drehte sich um und wäre fast mit dem Mädchen zusammen geprallt, das wieder zurück gehastet kam und eine lange Voltigierpeitsche in der Hand hielt.
„Michael braucht einen Notarzt! Wo ist hier das nächste Telefon?“ brüllte Barbara fast hysterisch.
„Notarzt? Quatsch! Lass` mal sehen!“
Sie untersuchte oberflächlich meine Wunde und meinte resolut:
„Jetzt holen wir erst einmal Mimi dort raus und gehen gemeinsam zu meinem Onkel. Der ist Tierarzt und hat seine Praxis drei Höfe weiter. Ich hab` ihm wegen Mimi schon Bescheid gesagt. Er bereitet die Praxis vor und kann auch deinen Arm versorgen.“
„Ein Veterinär!“ schnaubte Barbara entrüstet.
„Liebes Stadtkind:“ zischte das Mädchen giftig, „Der sogenannte Pferdedoktor auf dem Land kann nicht nur glitschige Kälber aus den Kühen heraus zerren, sondern viel mehr! Diese Bagatelle hier behandelt er mit verbundenen Augen hinter dem Rücken, während er gleichzeitig die Goldberg-Variationen von Bach spielt und den Kölner Dom aus Streichhölzern zusammen setzt! Also jetzt kein Gequatsche mehr, Mimi muss da raus!“ Freunde würden die beiden nicht werden.
Das Mädchen band das lose Ende der Voltigierpeitsche kunstvoll zu einer zuziehbaren Schlinge und schob sie vorsichtig über den Kopf der Katze. Das Tier rührte sich nicht. Sie zog langsam die Schlinge zu und zog energisch die Peitsche heraus.
„Bist du wahnsinnig?“ Barbara war außer sich. „Du zerreißt Mimi doch in Stücke! Denkst du denn nicht an die Nägel?“ Meine Wunde war vergessen. Gut so.
„Kümmer` dich um Sachen, von denen du etwas verstehst!“ Mit diesen Worten zog das Mädchen die Katze endgültig ins Freie. Sie nahm Mimi auf den Arm und löste die Schlinge vom Hals, dabei nicht die Blutflecken beachtend, die die Kratzwunden des kleinen Körpers verursachten. Das Tier war jetzt erstaunlich zutraulich und versuchte nicht mehr zu entkommen.
„Los, jetzt zu meinem Onkel! Wie geht`s deinem Arm?“ fragte mich das Mädchen.
„Keine Ahnung.“ antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich fühl` nichts mehr.“
„Ich fühl` auch nichts mehr!“ klagte Barbara. „Gar nichts und nirgendwo etwas. Ich muss sofort in die Wärme, und zwar lange in die Wärme. Ich fahr` jetzt zur Wohnung. Wenn ich Glück habe, falle ich vorher nicht als Eiszapfen vom Rad. Kommst du allein zurecht, Michael?“
Das Mädchen kam mir zuvor.
„Natürlich kommt er das! Fahr` ruhig nach Hause, was sollst du denn schon hier helfen?“
Ganz bestimmt würden die beide keine Freunde werden.
Am Haus des Tierarztes schaute ich auf das Thermometer außen neben der Eingangstür. Minus 23 Grad! Im Behandlungszimmer wartete nicht nur der Veterinär auf uns, sondern auch seine Frau, die als Assistentin fungierte. Sie legte Mimi auf den Edelstahltisch in der Mitte des Raumes, während der Arzt mich auf einen Stuhl an der Wand drückte.
„Wollen doch mal sehen, was wir hier haben. Mhm, schaut ja ganz schön böse aus. Die Jacke ist wohl ohnehin versaut, du hast wohl nichts dagegen, wenn ich den Ärmel weiter aufschneide?“
„Nee, nee, mach` nur. Ich kann sie doch nur noch als Weste verwenden.“
Der Tierarzt legte die Wunde frei, bei der auch der Hemdsärmel sein Leben ließ. Er säuberte vorsichtig die Ränder der Wunde, aus der immer noch heftig das Blut quoll, mit einem alkoholgetränkten Wattebausch. Er drückte den Riss zusammen, um den Blutstrom zu hemmen und meinte nachdenklich:
„Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du hältst durch und lässt dich ins DRK-Krankenhaus in Ratzeburg bringen, wo die Wunde fachmännisch versorgt und genäht wird, dann siehst du in einem Jahr nichts mehr davon, oder ich klammer` dir an Ort und Stelle das Ding zusammen. Mehr Risiko ist auch nicht dabei, allerdings wirst du dann für immer kaum einen Job als Model für ärmellose Herrenunterwäsche ergattern können. Nun – was ist?“
Ich musste nicht lange überlegen. Ich hatte Zutrauen zu dem Mann, und eine schöne Narbe am Unterarm konnte vielleicht sogar attraktiv wirken.
„Mach` schon! Denk` einfach ich sei ein Hund.“
„Sehr witzig!“
Meine Bemerkung hätte ich lieber unterlassen sollen. Der Tierarzt ging nicht sehr sorgsam mit mir um. Ohne Vorwarnung träufelte er eine rosa Flüssigkeit in die Wunde. Ich schrie vor Schmerz fast auf. Doch diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben.
„Soll ich dir `ne Spritze vor dem Klammern geben?“ fragte er mich.
„Ach was, die paar Piekser halt` ich aus!“ Hätte ich mir doch nur die Schwäche eingestanden und die Betäubung akzeptiert! So musste ich die Zähne zusammen beißen, um bloß nicht vor Pein zu brüllen. Durch die Kälte war die Haut extrem empfindlich geworden. Endlich war der Veterinär fertig, die Wunde verschlossen, mit einer Kompresse versehen und mit einem veritablen Verband geschützt.
„So, jetzt kannst auch du nach Hause.“ meinte er versöhnlich zu mir. „Das hält erst einmal. Aber geh` bitte nach spätestens drei Tagen zu einem praktischen Arzt, um den Verband wechseln zu lassen. Die Klammern lösen sich nach ungefähr drei Wochen auf, dann wird noch einige Zeit ein Pflaster erforderlich sein, und gut ist.“
„Verdammt! Mein Rad steht doch noch beim Holzstapel!“ rief ich erschrocken.
„Kümmer` dich nicht drum, das erledigt schon Birthe.“
„Birthe?“
„Ja, meine Nichte, die Mimi da rausgeholt hat.“
„Oh, Mensch: Das hatte ich völlig vergessen! Wie geht es überhaupt Mimi?“
„Och, das ist ein zähes Luder,“ schaltete sich die Frau ein, „sie hat zwar ein paar böse Kratzer, aber das kommt schnell wieder in Ordnung. Mach` dir darum keine Sorgen.“
Der Weg zum Schoppenhof war zwar nicht weit, doch als ich dort ankam, fühlte ich mich, als hätte ich in Badehose die Antarktis im Februar durchquert. Dennoch schaute ich zunächst im Schuppen nach, ob mein Rad auch da war. Da stand es, wohlbehalten an Barbaras Exemplar gelehnt. Mit der linken Hand fummelte ich die Schlüssel aus der Tasche und schloss die Räder zusammen. Danach war mir wohler. Beim Schließen der Schuppentür wischte ein rotbraunes Eichhörnchen durch den Spalt und verschwand um die Ecke.
In der Wohnung sah ich zunächst keine Barbara, bis ich die Stimme aus dem Badezimmer hörte.
„Komm mit rein! Das heiße Wasser erweckt dich wieder zum Leben!“ Barbara lag fast bis zur Nasenspitze im Nass und grinste mich an. Mühsam zerrte ich die Kleider vom Leib und die Stiefel von den Füßen und ließ mich stöhnend ins Wasser gleiten. Den rechten Arm ließ ich über den Rand hängen. Das Wasser war so heiß, dass ich es kaum aushielt. Barbara stupste mich mit ihrem Zeh unter der linken Achselhöhle und schmunzelte:
„Wärm` dich erst einmal auf! Und dann möchte ich dein zarter Bambusschößling sein...“
Zarrentiner Miniaturen
Der böige Wind blies Staubfahnen über die Einfallstraße nach Zarrentin. Es war nicht leicht, das schwer bepackte Rad auf dem mit Baumwurzeln durchzogenen Sandweg neben der Fahrbahn in der Spur zu halten. Wegen der tief hängenden Äste der Chausseebäume war kaum an ein durchgängiges aufrechtes Fahren zu denken. Immer wieder war ich gezwungen, wegen der tiefen Löcher abzusteigen und das Rad vorsichtig um sie herum zu bugsieren. Wusste ich denn, was sich unter dem losen Sand in den Kuhlen verbarg? Ich hätte ja gern die Fahrbahn genutzt, doch sollte ich mein schönes Rad auf dem groben und lückenhaften Kopfsteinpflaster zu Schrott fahren?
Anfänglich war es noch ein leichtes Fahren gewesen, nachdem ich den Campingplatz in Groß Zecher verlassen hatte. Die Straße war glatt und eben. Es war ein Leichtes, mit zügiger Geschwindigkeit nach Süden zu rollen. Mein Ziel war ein Campingplatz am Dümmersee vor Schwerin. Dort wo die Straße den Knick rechts nach Hollenbek machte, führte seit Kurzem ein Schotterweg halblinks ab, um nach wenigen hundert Metern in eine Senke abzufallen, die den notdürftig eingerichteten Grenzübergang nach Zarrentin verbarg. Rechts und links des Durchlasses erstreckten sich noch die Zaunanlagen und der Panzerweg mit den durchlöcherten Betonplatten. An ein Weiterfahren hatte ich in diesem Moment nicht denken können, sondern hatte innehalten und nachdenklich die jetzt sinnentleerten Grenzanlagen betrachten müssen. Wie oft war ich in den vergangenen Jahren an genau dieser Grenze entlang geradelt! Jedes Mal mit ohnmächtiger Wut über dieses Schandmal einer verfehlten Politik erfüllt. Und nun durfte und konnte ich erstmals auf die andere Seite! Ich freute mich unbändig, endlich die DDR, die freie DDR kennen zu lernen.
Auf dem Weg von der Grenze nach Zarrentin war mir keine Menschenseele begegnet. Erst an der scharfen Linkskurve, die in den Ort hinein führte, kam mir ein Uniformierter auf einem altertümlichen Motorrad mit Beiwagen knatternd entgegen. Wegen der Unebenheit der Straße schaukelte der Fahrer auf seinem breiten Sitz hin und her, während im Beiwagen ein hölzernes Fass von einer Seite zur anderen kippte. Als der Mann mich erblickte, stoppte er, stellte sein Gefährt quer zur Fahrtrichtung, stieg aus und hob mit gewichtiger Miene eine rote Kelle in die Höhe. Meinte der etwa mich? Es war tatsächlich so: Als ich mich näherte, bedeutete er mir mit der freien Hand, anzuhalten. Ich stellte das Rad ab und ging neugierig auf ihn zu. Was wollte er von mir?
„Junger Mann, wissen sie eigentlich, wo sie sich befinden?“ fragte er mich mit strenger Stimme. Die Situation wurde zunehmend lächerlich. Der Polizist, Volkspolizist oder Angehöriger der Volksarmee – ich hatte doch keine Ahnung von den Uniformen und Rangabzeichen der DDR – war ungefähr einen Kopf kleiner als ich, was an sich schon bemerkenswert ist, hatte einen beachtlichen Schmerbauch und stand breitbeinig da, als müsse er einem Erdbeben trotzen. Er löste den Riemen seines topfartigen Helmes, legte ihn auf das Fass, zog eine Mütze mit grüner Kokarde aus einem Fach und setzte sie auf. Er starrte mich mit durchdringendem Blick an. Dem Fass im Beiwagen entströmte ein penetranter Geruch nach Sauerkraut. Ein rotbraunes Eichhörnchen huschte über die groben Pflastersteine und sprang auf das Schutzblech des Seitenwagenrads. Es schnüffelte kurz und verschwand wie der Blitz in einem Gebüsch neben der Straße.
„Na, am Rand von Zarrentin, denke ich.“ antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Sie denken, sie denken also. An ihrer Stelle würde ich einmal nachdenken! Dann würde ihnen nämlich bewusst werden, dass sie sich auf dem Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik befinden! Und hier gibt es wahrscheinlich genau wie bei ihnen eine sogenannte Straßenverkehrsordnung, schon einmal davon gehört? Glauben sie denn, die würde für sie nicht gelten? Sie kennen doch unsere Straßenverkehrsordnung oder?“
„Ich nehme an, dass sie ähnlich der der Bundesrepublik ist. Warum?“
„Warum, warum! Weil sie dagegen verstoßen haben, darum!“
Ich war vollkommen verblüfft. Ich hatte gegen die Straßenverkehrsordnung der DDR verstoßen? Wie das denn? War ich zu schnell gefahren? Hatte ich trotz des Überholverbots einem Panzer mein Hinterrad gezeigt?
„Was habe ich denn falsch gemacht?“ fragte ich jetzt wirklich interessiert. Der Geruch aus dem Fass stach mir immer unangenehmer in die Nase.
„Vielleicht ist es bei Ihnen ja nicht üblich, aber bei uns wird auch mit dem Fahrrad auf der Straße gefahren, wenn kein Radweg vorhanden ist!“
„Aber ich fahre doch auf der Straße!“
„Auf der Straße? Junger Mann,“ mich begann dieser Ausdruck zu nerven. „junger Mann, ich will ihnen etwas sagen: Sie sind nicht auf der Straße gefahren, sondern auf dem Fußweg. Auf dem Fußweg! Wissen sie, was das bedeutet?“
„Ja, das bedeutet, dass mein Rad noch heil ist und nicht in Einzelheiten auf diesem erbärmlichen Kopfsteinpflaster herum liegt.“ Allmählich wurde ich wütend.
„Na, na, sachte. Nicht auch noch frech werden.“ Der Uniformierte plusterte sich immer mehr auf. „Das war eine Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrs, eine Ge-fähr-dung!“
„Aber auf dem Weg ist doch kein Mensch! Und auf dieser Fahrbahn ist doch an ein Radfahren überhaupt nicht zu denken!“ begehrte ich auf.
„Aber das Potential, das Potential! Es hätte doch ein Fußgänger, vielleicht ein alter gehbehinderter Mann dort gehen können. Und dann? Sehen sie!“
„Aber was hätte ich denn machen sollen?“
„Natürlich ihr Rad auf der Fahrbahn schieben, was sonst? Dann gelten sie als Fußgänger mit Handkarren, der berechtigt ist, auf der Fahrbahn seinen Weg zu nehmen. Aber das Fahren auf dem Fußweg ist ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung.“
Allmählich wurde mir die Sache leid, ich wollte einfach nur noch weiter. Außerdem wurde der Gestank aus dem Fass fast unerträglich.
„Dann entschuldige ich mich dafür, dass ich einen Fehler gemacht habe und werde ab sofort mein Rad auf der Fahrbahn schieben, bis die Beschaffenheit wieder ein Fahren erlaubt.“
„Nein, nein, so kommen sie mir nicht davon! Eine Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrs wird bei uns mit einer Verwarnung geahndet.“
„Nun gut, dann verwarnen sie mich jetzt. Kann ich dann endlich weiter fahren?“
„So einfach geht das nun auch wieder nicht. Eine Verwarnung zieht in ihrem Fall ein Ordnungsgeld von 20 Mark nach sich.“
Du meine Güte! Ein Ordnungsgeld! Ich zog mein Portemonnaie aus der Tasche, entnahm ihr einen 20-D-Mark-Schein und hielt ihn dem Mann entgegen.
„Aber eine Quittung bekomme ich wohl dafür, oder?“
„Was soll ich denn damit?“ entrüstete sich mein Gegenüber. „Haben sie denn kein DDR-Geld?“
„Natürlich nicht! In zwei Wochen wird bei euch doch auch die Deutsche Mark eingeführt. Da will doch kein Mensch mehr Reichsmark haben!“
„Sagen sie nicht Reichsmark! Das heißt Mark der Deutschen Demokratischen Republik! Aber ich sehe schon, dass wir so nicht weiter kommen. Zahlungswillig sind sie ja. Also will ich es darauf beruhen lassen. Außerdem bin ich in Eile. Also halten sie sich in Zukunft an die Vorschriften!“
Damit setzte er den Helm wieder auf, schwang sich schwerfällig auf sein Motorrad, trat den Motor an und schaukelte Richtung Grenze von dannen. Ein Weißstorch zog im Tiefflug über ihn hinweg und landete mit ungelenken Sprüngen auf dem daneben liegenden, frisch gepflügten Acker. Ich wusste nicht, ob ich über die Sache lachen oder mich ärgern sollte. Ich entschied mich für das Lachen. Ich wartete, bis dieses seltsame Gespann außer Sicht war und nahm meine Fahrt wieder auf, entlang einer Reihe von einheitlich grau verputzten Ein- und Zweifamilienhäusern, die mit ihren Vorgärten, abgegrenzt zur Straße mit den typischen halb verrosteten Eisenzäunen aus Stanzresten der Stahlblechproduktion zwischen bröckeligen Betonpfosten, sämtlich einen etwas herunter gekommenen Eindruck machten und umhüllt vom Geruch der Ausdünstungen der vielen Kohleofen, die trotz der sommerlichen Witterung in Gebrauch waren, um das Mittagessen darauf zu kochen. Die Gärten waren augenscheinlich nicht zur Zierde angelegt, sondern dienten einem praktischen Zweck: Fast überall sah ich kleine Gemüsebeete mit Rüben, Kartoffeln, Möhren und den unvermeidlichen Gurken.
Moment mal! Das ist doch nicht der Jahreswechsel 1997/1998, nicht der Urlaub in der Ferienwohnung im Schoppenhof! Nein, es war Mitte Juni 1990 gewesen, und ich hatte die Gelegenheit genutzt, meinen zweiwöchigen Resturlaub aus dem vergangenen Jahr für einen Exkurs in den anderen deutschen Staat, der mir so fremd wie eine karibische Bananenrepublik war, zu verwenden.
Als ich in dann den ersten Januartagen 1998 durch die Töpferstraße in Zarrentin rollte (Barbara war in der Wohnung geblieben, weil sie sich nicht fühlte und ihre Ruhe haben wollte, die Kälte war in den letzten Tagen zurück gegangen, und es herrschte ein ruhiges Winterwetter), überkam mich die Erinnerung an meinen ersten Besuch in der ehemaligen DDR und die Begegnung mit diesem merkwürdigen Polizisten. Diesmal konnte konnte ich wirklich die Fahrbahn nutzen – sie war frisch asphaltiert und glatt wie ein Kinderpopo. Ich war sehr froh darüber, schmerzte doch der Arm immer noch bei jeder Bewegung.
Die Töpferstraße war fast nicht mehr wiederzuerkennen: Die Fassaden der Häuser glänzten in neuem Verputz, wenn sie nicht gar mit Wärmedämmung und neuem Klinkerverblend versehen waren. Auffallend war, dass jedes Haus ein neues Dach aufwies. Waren vor siebeneinhalb Jahren noch brüchige Tonziegel oder sogar Wellblech das Eindeckmaterial, glänzten jetzt teilweise sogar glasierte Dachpfannen in der blassen Wintersonne. Zwei der älteren Häuser schmückten sich selbstbewusst mit noch hellgelben Reetdächern. Und die Zäune, die Zäune! Nur noch drei oder vier Gärten schmückten sich mit den Eisengittern. Sie waren auch nicht mehr verrostet, sondern strahlten in den lebhaftesten Farben. Ansonsten prangten wundervolle Holzkonstruktionen in den verschiedensten Ausführungen an den Grundstücksgrenzen.
Der Storch hätte keine Chance mehr gehabt, dicht über dem Kopf eines Polizisten auf einem Motorradgespann den Landeanflug anzusetzen, er wäre unweigerlich in die Front eines der vielen schmucken Neubauten gekracht, die jetzt statt eines Ackers die Straße säumten. Keine Mietskasernen, nein, aufwändig gebaute Einfamilienhäuser standen auf dem ehemaligen Feld, im Gegensatz zu den Heimen auf der anderen Straßenseite kahl wirkend, weil Bäume noch keine Zeit gehabt hatten, empor zu wachsen. Die Gärten waren einheitlich grün, grün wegen der überwiegenden Rasenflächen mit spärlich dazwischen gesetzten Büschen. Auch gegenüber hatten die Gemüsebeete dem Gras Platz machen müssen. Wozu denn auch sich die Mühe mit Unkraut Jäten, Setzlinge Einpflanzen und Ausbuddeln der Kartoffeln machen, wenn es doch alles im Überfluss im nahe gelegenen Supermarkt gibt?
Denn einen großen Supermarkt gab es inzwischen in Zarrentin. Erblickte ich vor siebeneinhalb Jahren in der Bahnhofsstraße noch einen verfallenen und mit brüchigen Holzbrettern verrammelten HO-Markt, der auch geschlossen kaum an Trostlosigkeit gegenüber dem geöffneten Zustand mit dem deprimierenden Warenangebot gewonnen hatte, sah ich jetzt einen großen blitzenden Supermarkt mit überbordenden Auslagen. Neugierig geworden inspizierte ich den Markt von innen und schaute interessiert besonders auf die Herkunft der Produkte. Wunderte es mich, dass fast keine Waren aus den neuen Bundesländer stammten? Das Gemüse kam aus den Niederlanden, aus Spanien, Südafrika, Neuseeland oder Argentinien, der Fleisch durchweg aus westeuropäischen Mastbetrieben oder – wenn es sich um Schweinefleisch handelte – aus Dänemark. Gerade in Zarrentin hätte es doch Schweinefleisch aus heimischer Produktion geben müssen! 1990 war ich noch an der Südostecke des Schaalsees auf abseitigen Waldwegen herum gekurvt und hatte eine riesige Schweinemastfarm halb versteckt hinter einem dichten Wald entdeckt. Aus den langgestreckten flachen Gebäuden hatte ein ätzender und beißender Geruch zu mir herüber geweht. Die Anlage war so groß gewesen, dass sie mindestens halb Mecklenburg mit Koteletts hätte versorgen können. Gab es sie denn nicht mehr?
Meine Neugier trieb mich dazu, eine ältere Verkäuferin anzusprechen. Ich fragte sie, ob es wohl noch die große Schweinefarm außerhalb Zarrentins gebe. Sie lachte und antwortete in einem Idiom, das ich nun wirklich nicht wiedergeben kann, in einem nicht zu stoppendem Redefluss:
„Ach, diese Dreckskiste, die haben sie doch schon vor vier Jahren dicht gemacht. Das war doch ein Schweinestall, ein Schweinestall im wahrsten Sinne des Wortes! Die haben ihre Brühe doch glatt in den See geleitet! Die Turbinenblätter im Kraftwerk bei Ratzeburg können nicht lange gehalten haben, so ätzend war das Zeug. Und wenn die mal den Kram in das Abwassersystem geleitet haben, was sie natürlich offiziell nicht durften, genau wie die Entsorgung in den See, müssen den Kanalarbeitern die Augen gebrannt haben. Nee, nee, junger Mann,“ schon wieder diese Bezeichnung! „das war `ne richtige Sauerei, was dort abgelaufen ist. Laut Direktive von oben durften wir überhaupt nicht wissen, dass etwas in den See oder die Abwässer gepumpt wurde, ja, nicht einmal, dass dieser Betrieb überhaupt existierte. Nur die Arbeiter, die dort angestellt waren, wussten Bescheid, doch die durften natürlich nichts sagen. Aber sie wissen ja, wie die Leute trotzdem reden. Hier in Zarrentin wusste doch jeder, dass dort kein Danziger Goldwasser aus den Rohren kam. Ich jedenfalls, ich hab` meine Kinder hier nicht im See baden lassen. Wollte ich denn, dass die als mutierte Monster wieder heraus kamen? Nee, nee, eine Schande war das, eine Schande. Wenn du fotografiert hast, brauchtest du deinen Film nur in den See schmeißen und konntest eine Viertelstunde später die fertigen Dias heraus fischen. Wenn du Glück hattest, waren sie sogar schon gerahmt. Und woanders durften die Lütten nicht baden, war ja alles Sperrgebiet! Wir durften ja nicht einmal nach Lassahn, das müssen sie sich mal vorstellen! Das war ja noch schlimmer als zur Herrschaft der Bernstorffs. Meine Güte, wie im Ghetto haben wir uns hier gefühlt. Wer durfte uns denn besuchen? Weißt du,“ inzwischen war sie zur vertrauteren Anrede übergegangen – wahrscheinlich als Belohnung dafür, dass ich sie nicht unterbrach, „auf die Parteikader konnt` ich doch verzichten, wenn die hier herum stromerten und den dicken Max machten. Weiß sowieso nicht, was die eigentlich hier wollten. Hier war doch nichts, abgesehen vom See und dem Kloster. Den See konntest du wegen der Schweinefarm vergessen, und das Kloster – abgesehen davon, dass es ja schon lange keines mehr ist, meine Herrschaft, wofür wurde das eigentlich nicht genutzt? -, das Kloster ist doch nur noch eine Ruine. Daran siehst du, wie im Sozialismus mit den Kulturgütern umgegangen wurde. Schau` dir mal diese Baracke an, es werden dir die Tränen kommen. Rein darfst du nicht, ist doch alles wegen Baufälligkeit gesperrt. Und so etwas nennt sich nun das Volk der Dichter und Denker! Ein Volk der Lenker und Verrenker war das hier, jawohl! Doch vom Kloster hätten wir kleinen Leute doch ohnehin nichts gehabt, dafür war manches Andere besser als heute. Vor allen Dingen sind es doch die Lebenshaltungskosten, die uns zu schaffen machen. Was nützen uns denn das schöne Warenangebot, die Möglichkeit, ins westliche Ausland zu reisen, wenn wir es uns nicht leisten können, weil die Mieten unseren Verdienst auffressen? Bis 1990 waren die Wohnungen noch bezahlbar, machten nur einen geringen Teil des Verdienstes aus. Aber jetzt? Ein Drittel meines Lohns muss ich für die Miete abdrücken, stell` dir das mal vor! An die Kindergärten mag ich gar nicht denken. Meine sind ja nicht mehr betroffen, die sind schon aus de Haus und flügge, aber andere Eltern haben die größten Schwierigkeiten, Krippenplätze zu bekommen, weil es sie nicht mehr gibt. Weil es sie nicht mehr gibt! Ich weiß, wovon ich rede, schließlich bin ich gelernte Kindererzieherin. Doch wo soll ich denn arbeiten, wenn es kaum noch Kindergärten gibt? Meinst du, dass es mir Spaß macht, in diesem blöden Supermarkt, der mir einen Scheißlohn zahlt, Tomaten aus Holland oder Spanien in die Regale zu packen und dabei sehen zu müssen, dass junge Mütter nichts zum Familieneinkommen beitragen können, weil sie sich in Vollzeit um ihre Kinder kümmern zu haben und deshalb keine Arbeit annehmen können? Das war in der DDR anders, sag` ich dir! Das gab es nicht, dass Frauen keinen Job bekamen, im Gegenteil, es wurde doch ausdrücklich gefördert! Und so schlecht ging es uns wirklich nicht! Was ich nach der Wende in den westdeutschen Zeitungen gelesen hatte, war einfach zum Kotzen! Als ob wir hier am Hungertuch genagt hätten! So ein Quatsch! Wir hatten doch alles, was wir benötigten. Sicher, manches exotische Produkt war schwer oder überhaupt nicht zu bekommen, doch was wir – also mein Männe und ich, der ist schon längst rüber und spielt den großen Mann in Bremerhaven – ein paar Tage nach der Grenzöffnung in Lübeck erlebten, war schlicht furchtbar. So groß meine Freude war, endlich in den Westen fahren zu können, so groß war die Enttäuschung über das Erlebte. Wie entwürdigend war es, hinter fast allen Scheibenwischern der Trabis Bananen zu finden! Als ob wir Ausstellungsstücke im Tierpark wären, die entsprechend gefüttert werden wollten. Wie hätte ich mich über einen angeklemmten Zettel gefreut, der uns zu einer Familie nur des Kennenlernens wegen eingeladen hätte oder mit der Bitte verbunden war, uns einmal besuchen zu dürfen. Nichts von alledem! Auf den Straßen war es doch das Selbe: Die Menschen schoben sich aneinander vorbei, ohne zueinander zu kommen. Viel besser ist es doch heute immer noch nicht. Hier sind die Ossis, dort die Wessis. Wovon hatte der dicke Kohl gefaselt? Von blühenden Landschaften im Osten! Ha, wo sind sie denn, diese blühenden Landschaften? Abgewickelt und ausgeblutet, das sind sie! Manchmal wünsch` ich mir die DDR zurück. Ich muss nur an meine Freundin Marion denken, die..., und mein Großneffe Peter hat auch nicht..., geht nicht gut..., keine Arbeit..., wovon denn leben..., …, ...“
Über die Bahnhofstraße tönte ein heiseres Pfeifen. Nach meiner Flucht aus dem Supermarkt wusste ich zunächst nicht, wohin ich mich als nächstes wenden sollte. Jetzt wusste ich es: zum Bahnhof! Wieso hörte ich hier einen Zug pfeifen? Ich war der Meinung, dass der Eisenbahnverkehr nach Zarrentin längst eingestellt worden sei. Als ich um das dunkelrote Backsteingebäude des Bahnhofs bog, sah ich eine blassblau lackierte zweiteilige Triebwagengarnitur den Bahnsteig verlassen. Eine Schneefahne, die der böige Wind wehte, beeinträchtigte zunächst die Sicht. Als ich wieder ungehindert blicken konnte, sah ich den Schienenbus unter der Brücke der Pampriner Straße hindurch fahren. Das Heck wirbelte eine weiße Wolke empor, die sich nur langsam auflöste und sich auf den schneebedeckten Schwellen verteilte. Hastig kramte ich mein Fernglas aus der Tasche.
„Jau, junger Mann,“ ich nahm mir vor, mir in Zukunft ein Schild mit meinem Geburtstag um den Hals zu hängen, „sehen sie man genau hin. Lange werden sie unser Ferkeltaxi nicht mehr sehen können.“ Verwirrt drehte ich mich um. Vor mir stand ein Mann in Eisenbahneruniform, vielleicht der Stationsvorsteher oder wie dieser Dienstrang heißen mochte.
„Ferkeltaxi?“ Diesen Begriff hatte ich noch nie gehört. „Werden denn die Schienenbusse hier als Viehtransporter genutzt?“
„Nein,“ lachte der Beamte, „die heißen so, weil sie vornehmlich auf Nebenbahnen in ländlichen Gebieten eingesetzt werden. Na, ja, so manches kleines Schweinchen wird da auch einmal mitgefahren sein.“
„Und warum kann ich die Busse nicht mehr lange sehen?“ fragte ich. „Werden die Fahrzeuge ausgemustert?“
„Nicht unbedingt. Aber dieser Streckenabschnitt von Zarrentin nach Hagenow-Land wird demnächst endgültig stillgelegt. Schade um die alte Kaiserbahn.“
„Kaiserbahn?“ Als Eisenbahnenthusiast wurde ich neugierig. „Was hat das denn zu bedeuten? Ist hier schon einmal ein Kaiser entlang gefahren?“
„Du wirst dich vielleicht wundern,“ schon wieder geschah der Wechsel in die vertrauliche Anrede – war ich denn so anschmiegsam? - „aber Zarrentin sah häufig den Kaiser, also Wilhelm den Zweiten vorbei fahren. Du musst wissen,“ jetzt wurde er ein wenig oberlehrerhaft „der olle Wilhelm war doch so ein Flottenfreak, da war ihm tatsächlich der Weg über Lübeck oder Hamburg zu weit, um von Berlin nach Kiel zu gelangen. Also äußerte er den Wunsch nach einer kürzeren Strecke. Und des Kaisers Wunsch war Befehl. Angeblich soll er sogar an der Festlegung der neuen Linienführung beteiligt gewesen sein. Die neue Bahnverbindung Berlin-Kiel zweigte in Hagenow-Land von der Hamburger Strecke ab und erreichte in Bad Oldesloe die Linie nach Lübeck, führte aber weiter über Bad Segeberg und Neumünster nach Kiel.“ Der Mann war ein wandelndes Lexikon. „Tja, nach der Teilung Deutschlands war`s dann aus mit einer kurzen Verbindung nach Kiel. Zuletzt zuckelte nur noch ein Rübenexpress nach Hollenbek, nicht von Zarrentin natürlich, sondern von Ratzeburg. Das Gleisbett von hier nach Hollenbek existiert ja nun nicht mehr. Allerdings vertreten einige Interessengruppen die Absicht, die Strecke wieder zu aktivieren, der Unterbau ist dafür noch vorhanden. Aber ich glaub` nicht daran, dass daraus etwas wird. Die da oben haben es doch nicht einmal geschafft, die Verbindung zwischen Dannenberg und Ludwigslust mit der wunderbaren Elbbrücke wieder aufzubauen, dabei wäre das doch ein wirklich wichtiges Projekt gewesen. Nun denn, ich als kleiner Stationsfuzzy hab` ohnehin nichts zu sagen.“
Ich hütete mich, weitere Fragen zu stellen. Der Mann hätte mich mit Informationen glatt erschlagen. Als er merkte, dass das Interesse seines Zuhörers erlahmte, drehte er sich um, stapfte in seinem langen Mantel durch den Schnee auf einen Anbau des Bahnhofsgebäudes zu und verschwand hinter einer groben Brettertür. Es war die Stationstoilette.
Der Hunger machte sich bemerkbar. Im Juni 1990 hatte ich doch eine köstliche Currywurst am Ausgang von Zarrentin direkt am Seeufer gegessen! Im Garten eines Einfamilienhauses hatten einige Klappstühle und Tische gestanden, die Speisen – das typisch beschränkte Angebot eines einfachen Imbiss – waren durch das Küchenfenster heraus gereicht worden. Dem Geschmack hatte diese Tatsache nichts anhaben können. Die Currywurst hatte eben nicht nur nach Tomatenketchup und Currypulver geschmeckt (warum bestelle ich normalerweise bei einer Currywurst denn immer als Grundlage eine Schinkenwurst oder Krakauer?) sondern auch ein kräftiges Eigenaroma aufgewiesen. Das wollte ich noch einmal genießen!
Der Weg am Seeufer entlang bot einige Abwechslung. Auf dem Eis in Ufernähe tummelten sich etliche Kinder, die Eishockey spielten oder sorgsam beäugt von den Eltern erste tapsige Laufversuche machten. Es musste erhebliche Mühe gemacht haben, die Fläche von dem vielen Schnee frei zu räumen, der in den vergangenen Tagen gefallen war. Ein Greifvogel (Bussard, Habicht, Falke: für mich sehen sie alle gleich aus) näherte sich im eleganten Gleitflug und setzte sich auf einen weit vorstehenden Ast. Er machte den Eindruck, interessiert dem Hockeyspiel zuzusehen. Nein, er entfaltete keine Fahne der Berliner Eisbären und blies auch nicht in eine Tröte.
Wo war es denn, nun das Haus mit dem Küchenfenster und dem kleinen Garten? Ich wusste doch noch genau um die Stelle, wo es stand! Hatte es sich was mit kleinem Garten! Auf einem weitläufigen Areal mit locker angelegten Sitzgruppen und Tischen stand ein großer Wintergarten, der heute jedoch verwaist war. Ein glasüberdachter Gang führte ins Haupthaus, das in seiner ursprünglichen Form wegen der vielen Anbauten kaum noch zu erkennen war. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, meine Wurst im Freien essen zu müssen, war jetzt aber froh, mich ins Warme setzen zu können. Es war keine Frage, dass ich erneut Currywurst mit Pommes rot-weiß bestellte, obwohl es eine große Auswahl durchaus leckerer Gerichte wie Kohl- und Rinderrouladen, Schweine- und Sauerbraten, eingelegte Bratheringe, Holzfällersteaks, Königsberger Klopse, Zürcher Geschnetzeltes, Filetsteak und Linsensuppe gab.
„Scharf oder nicht scharf?“ fragte die junge Bedienung, kaum dem Schulmädchenalter entwachsen. Bei dem Anblick konnte es nur eine Antwort geben: „Extra scharf!“ Es kam eine Wurst, die in Konsistenz und Geschmack genau so langweilig war, wie ich es vom Westen her kannte. Dafür war die Sauce exzellent, pikant scharf und fruchtig. Für meine Belange war auch die genau richtige Menge Currypulver darüber gestreut. Die Pommes Frites waren zwar in modische Wellenform geschnitten, beeinträchtigten dadurch aber in keiner Weise den Geschmack. Die Mayonnaise war locker und cremig, die Sauce für die Pommes hob sich durch die Milde angenehm von der Currysauce ab. Das Essen war also für mich ein voller Erfolg.
Auf dem Rückweg schaute ich noch am Nonnenkloster vorbei. Dieser Bau aus dem 13. Jahrhundert ist nur noch mit dem Ostflügel erhalten und diente lediglich etwa 200 Jahre dem ursprünglichen Zweck. Später beherbergte es unter anderem eine Brauerei und sogar eine Schnapsbrennerei. Der noch erhaltene Rest des Klosters machte auf mich einen deprimierenden Eindruck. Wenn nicht bald etwas geschah, würde das längliche Gebäude das selbe Schicksal wie die anderen Teile erleiden und verfallen. Als ich um das Gemäuer herum stolperte, das Betreten war wegen Baufälligkeit verboten, keimte doch ein wenig Hoffnung in mir auf. Auf einem leicht zu übersehende Schild las ich, dass der Ostflügel in Kürze umfassend renoviert und restauriert werden solle. Die Hoffnung sank wieder, als ich die Jahreszahl unter dem Text sah: 1992! Bei näherer Betrachtung erkannte ich im halbdunklen Inneren einige Stützbalken, auch die schon der Vermoderung anheim gefallen.
Mit trübsinnigen Gedanken verließ ich den Ort. Der Gedanke an die Ferienwohnung, heißen Kaffee, Marzipankuchen, den ich im Supermarkt in Zarrentin erstanden hatte und an Barbara ließen die gedrückte Stimmung bald verschwinden.
Die Wohnung war leer – keine Barbara zu sehen. Nanu, es war ihr doch am Morgen nicht gut gegangen. Hatte sie jetzt die Unternehmenslust überrannt? Ich ging auf die Empore vor der Eingangstür hinaus. Da saß sie doch, saß unten in der Kaffeestube des Schoppenhof mit einer jungen Frau zusammen. Beim Näherkommen entpuppte sie sich nicht als junge Frau, sondern als pubertierendes Mädchen – es war Birthe, ausgerechnet Birthe! Sie hatte eine Cola vor sich stehen, während Barbara an einem Glas Tee nippte. Beim Hinsetzen fragte ich neugierig:
„Na, wichtige Sachen?“
„Durchaus!“ erwiderte Barbara. „Mimi wird keine bleibenden Schäden davon tragen. Sie ist jetzt schon fast so putzmunter wie zuvor. Birthe ist deshalb gekommen, um uns das mitzuteilen.“
„Nicht nur das,“ mischte sich Birthe ein und wandte sich an mich, „dir soll ich ausrichten, dass du auf keinen Fall deinen Termin beim Arzt versäumen sollst. Er muss nachsehen, ob sich dort etwas entzündet hat.“
„Keine Sorge, das vergess` ich schon nicht. Beim Radfahren hat sich der Arm in dieser Beziehung nachdrücklich gemeldet.“
„Was? Bist du verrückt? Du kannst doch mit dieser Wunde, die gerade anfängt, zu verheilen, mit dem Rad durch die Gegend gondeln!“
„Wieso, ging doch ganz gut.“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich hab` vom Arm kaum etwas gespürt. Es wird schon alles glatt gehen.“
Birthe blickte Barbara an. „Ist der immer so?“ fragte sie. Barbara zuckte nur mit den Schultern.
„Na, dann will ich mal wieder. Mein Onkel braucht mal wieder Hilfe in seiner Praxis. War nett, mit dir zu klönen. Tschüß, ihr beiden.“ Sie stand auf und ging mit energischem Schritt hinaus.
„Nanu?“ Ich war nicht wenig verwundert. „Ich glaubte, ihr würdet nie mehr miteinander sprechen.“
„Hab` ich auch gedacht. Sie scheint jedoch ein sehr netter Mensch zu sein. Ich find`s toll von ihr, uns das mit Mimi mitteilen zu wollen. Sie hat sich sogar dafür entschuldigt, dass sie vor ein paar Tagen so garstig zu mir war.“ Barbara wurde ernst. „Aber jetzt sehen wir uns erst einmal deinen Arm an.“
„Nee, nee!“ wehrte ich ab. „Zunächst machen wir etwas anderes!“
Barbara starrte mich erwartungsvoll (und ein wenig lüstern?) an. Ich beugte mich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Marzipankuchen...“
Sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
Spaziergang nach S...
Nebel legte sich über den See wie der zähe Rauch aus einem undichten Ofenrohr. Die kleine Holzbrücke über den Zufluss des Schaalseekanals in den Phulsee machte aus der Ferne den Eindruck eines halb fertigen Bauwerks, weil der weiße Dunst die gegenüber liegende Seite verbarg. Kaum ein Laut war zu hören; es war, als hätte uns der Januar wattige Kopfhörer aufgesetzt.
Barbara hatte beim Frühstück bekundet, über das Eis nach Seedorf gehen zu wollen, ein Unterfangen, an dem ich sie zur Not mit Gewalt gehindert hätte. In Ufernähe übten sich die Menschen zwar fleißig im Eislauf, doch ausgerechnet im Seebereich zwischen Dargow und dem Seedorf vorgelagerten Werder hatte sich in den letzten Tagen keine Seele herum getrieben. Hier sammelte sich das Wasser, um zur Stromerzeugung nach Ratzeburg geleitet zu werden. War die Fließgeschwindigkeit bereits hier so groß, dass sie das Bilden eines dauerhaft tragfähigen Eises verhinderte? Ich vertraute lieber dem Verhalten der Einheimischen als Barbaras Einschätzung der Eisdicke.
„Hast du etwa Angst?“ hatte sie mit vollem Mund gefragt und dabei mit der Brötchenhälfte gewedelt, von der in dicken zähen Tropfen der Honig auf die Tischdecke geklatscht war, eine Tischdecke aus blassblauem Wachstuch, das Spießigkeit und Kleinlichkeit assoziierte. Spießigkeit mit Honigklecksen.
„Ja, hab` ich tatsächlich!“ hatte ich entgegnet, „Angst um dich! Dass du nämlich in deiner Unbekümmertheit auf Nimmerwiedersehen in einem Eisloch verschwindest. Ich gehe jedenfalls nicht über den See, und du auch nicht – selbst wenn ich dich am nächsten Laternenpfahl anketten muss!“
Zu meinem großen Erstaunen hatte Barbara eingelenkt, ein bei ihr recht seltenes Ereignis. Nun waren wir also unterwegs, hinunter die abschüssige Dorfstraße und eingebogen in den Waldweg Richtung Seedorf, warm eingepackt in Daunenjacken, Thermohosen und Doppelsocken. Es herrschte ruhige Winterwetter mit einer Sonne, die sich vergeblich bemühte, den Hochnebel zu durchdringen. Die Temperatur betrug etwa fünf Grad unter Null, also kein Vergleich zum Tag mit der Rettung von Mimi. Die Landschaft war tief verschneit, die Äste der Bäume schwer und niedergedrückt von der weißen Last. Der Waldweg war offensichtlich gestern geräumt worden; ein hoher Schneewall auf der linken Seite wies darauf hin. Die grobstolligen Reifen des Schneepflugs hatten sich tief eingegraben, ohne zum Untergrund durchgedrungen zu sein. Die festgefahrene Schneedecke war wie von einem Pfefferstreuer auf weißem Seezungenfilet mit Granulat gesprenkelt. Eine Schar Raben bekrächzte uns laut protestierend, als wir uns der kleinen Brücke näherten. Höher steigend verschwanden sie im Nebel wie nicht zündende Silvesterraketen. Die immer leiser werdenden Laute versetzten mich in die Berghütte in Maren Haushofers Roman Die Wand, so unwirklich verschwanden die Vögel aus der Realität. Ich versuchte Barbara, meine Empfindungen zu vermitteln, was bei ihrer angesagten Nüchternheit ein vergebliches Bemühen war.
„Scheiß Krähen.“ nuschelte sie in ihren Schal. „Haushofer hat die Vogellaute besser beschrieben als die Viecher das hier krächzen können. Sie sollten besser den Roman lesen.“ Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit das Buch in die Rabensprache (ins Rabische, ins Rabensische?) zu übersetzen.
Beim Überqueren der Holzbrücke war Vorsicht angesagt, denn die Bohlen waren mit Eis überkrustet und entsprechend rutschig. Barbara blieb abrupt stehen, glitt prompt aus und setzte sich auf den Hintern.
„Ist doch alles für`n Arsch!“ knurrte sie, wirkte aber nicht wirklich sauer.
„Was bleibst du auch stehen wie vom Güterzug gerammt!“ kommentierte ich.
„Hast du denn nicht die Ente gesehen? Die steckt im Eis fest!“ Ich sah nach unten. Und tatsächlich: Vor der Barriere aus rohen Holzstämmen mühte sich ein Erpel vergeblich, den rechten Fuß aus einem kleinen Eisloch zu zerren. Wie sehr er auch mit den Flügeln schlug, es wollte ihm nicht gelingen, sich zu befreien. Seeseitig der Brücke lag ein kleiner Anleger für Kanus, der sogar einen Rettungsring und einen Bootshaken aufwies. Ich krabbelte den Abhang zum kleinen Holzplateau hinunter.
„Du machst gar nichts!“ brüllte Barbara mir hinterher. „Denk` an deinen Arm!“
„Das geht schon,“ wehrte ich ab, „der Verband ist doch gewechselt.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage!“ Sie polterte hinter mir her. „Du stellst dich hier ans Geländer und achtest darauf, dass mir nichts passiert.“
„Wie? Wieso sollte dir etwas passieren?“ Ich war entgeistert.
„Vielleicht im Eis einbrechen? Deshalb hältst du den Rettungsring bereit.“ Damit schnappte sie sich den Bootshaken, legte sich bäuchlings auf das Eis und robbte Richtung Erpel. Mir kam die Situation komisch vor, doch konnte ich nicht lachen. Ich wusste genau, dass Barbara eher im See versinken würde als den fest sitzenden Vogel im Stich zu lassen. Vielleicht war es sogar besser, dass Barbara den Versuch wagte, schließlich war sie fast 20 Kilogramm leichter als ich, hatte aber mehr Mut als drei Michis zusammen. Als sie nahe genug heran war, pickte sie mit dem Haken das Eis um den Fuß des Erpels herum auf. Es gelang ihr tatsächlich, das Federvieh zu befreien. Mit einem lauten Quaken flatterte es Richtung Zarrentin davon. Kein Wort des Dankes.
Vorsichtig arbeitete sich Barbara zum Steg zurück. Als sie sich auf den Holzbohlen aufrichtete, machte sie den Eindruck eines puderzuckerbestäubten Berliners. Vorsichtig klopfte ich ihr den Schnee von der Kleidung.
„Musst du mich so obszön antatschen?“ protestierte sie.
„Wieso, hier ist doch kein Mensch! Wir könnten es hier auf dem Steg treiben, und niemand wäre da, um daran Anstoß zu nehmen.“
„Das könnte dir so passen! Ich hol` mir hier doch keine Erfrierungen! Außerdem sind wir gar nicht so allein.“ Mit diesen Worten deutete sie auf den See. Wie eine Formation von Kampfjets stürzte eine Schar Enten aus dem Nebel auf uns zu. Was hatten die Vögel vor? Offensichtlich wollten sie landen. Landen auf dem Eis? Tatsächlich: Kurz vor der Holzbarriere gingen sie in den Gleitflug über und ließen sich mit vorgestreckten Füßen aufs Eis nieder. An ein kontrolliertes Bremsen war natürlich nicht zu denken. Nacheinander purzelten sie über die festgefrorenen Stämme, überschlugen sich und versammelten sich unter lautem Protestgeschnatter in der Nähe des Anlegers. Barbara konnte sich vor Lachen kaum halten. Sie prustete so laut los, dass die Entenschar erschrocken aufflog und wieder im Nebel verschwand. Sogar das rotbraune Eichhörnchen hatte sich dermaßen verjagt, dass es in Spiralen hektisch einen Baumstamm hinauf flitzte.
Ich hatte wenig Lust, mitten durch den Wald über den Seedorfer Werder zu wandern. Die Bäume standen dort so dicht, dass ich mich wie in einem Tunnel vorkam. Dafür waren wir doch nicht an den Schaalsee gefahren! Es bedurfte nur weniger Argumente, um auch Barbara für den Umweg am Ufer des Seedorfer Küchensees zu gewinnen. Der Hochnebel war inzwischen immer lichter geworden, und im Südosten zeigte sich bereits eine fahle Sonne, während die Sicht über der Eisfläche bereits kristallklar war. Auf der gegenüber liegenden Seite des Gewässers zeigten einige Prachtvillen stolz ihre beeindruckenden Fassaden. Es war ein mühseliges Stapfen durch den tiefen Schnee – hier hatte der Schneepflug nicht für eine feste Decke gesorgt. Es machte jedoch großen Spaß, durch die noch unberührte Landschaft zu streifen. Die Anstrengung ließ uns auch nicht frieren. Unangenehm war lediglich der Schneeball, der mich genau in dem Moment in der Halskuhle traf, als ich die Jacke ein wenig öffnete. Barbara war einige Meter voraus gelaufen und freute sich diebisch über ihren erfolgreichen Wurf. Ich versuchte gar nicht erst, ebenfalls einen Schneeball zu formen und nach ihr zu werfen. An Flinkheit war sie mir einfach über. Doch so ganz unberührt war die Landschaft dann doch nicht. Vor uns zog sich eine Fährte schräg über den Weg. Barbara beugte sich darüber und meinte entschieden:
„Aha: Paarhufer.“
„Paarhufer. Ganz klar. Was denn sonst?“ Barbara fand meine Bemerkung überhaupt nicht witzig.
„Wenn du auch einmal wichtige Bücher lesen würdest und dich nicht immer in deinem Joyce vergräbst, könntest auch du erkennen, dass hier entweder ein Hirschtier oder ein Wildschwein entlang gelaufen ist.“ versetzte sie grimmig.
„Ohne Zweifel ein Wildschwein! Ganz eindeutig!“ Ich versuchte sehr entschlossen zu wirken.
„Ach nee: Zunächst hast du keine Ahnung, und dann kannst du genau erkennen, dass ein Wildschwein unseren Weg gekreuzt hat. Wieso das denn auf einmal?“
„Welch eine Frage! Wildschwein schmeckt mir erheblich besser als Hirsch.“ Der nächste Schneeball traf mich leider im ungeschützten Nacken.
Kurz vor der Einmündung in die Schlossstraße kam uns ein alter Mann mit langem Bart und schlohweißem Haar entgegen, dessen brauner, an vielen Stellen geflickter Mantel eine Spur im Schnee hinterließ und hinauf bis zur Wade völlig durchnässt war. Er trug eine Laterne in der Hand, eine von der Sorte, wie ich sie aus der Kindheit von Laternenumzügen kannte, also wirklich selbst gebastelt und mit einer echten brennenden Kerze versehen, nicht mit einer neumodischen unromantischen Leuchtdiode. Er ging geradewegs auf uns zu und blieb direkt vor uns stehen. Er schaute uns in die Augen. Dabei musste er empor blicken, denn er war sogar noch kleiner als Barbara.
„Was suchst du denn hier?“ fragte Barbara verwundert.
„Einen ehrlichen Menschen!“ war die erstaunliche Antwort. Barbara starrte ihn einige Augenblicke wortlos an. Dann schüttelte sie resigniert den Kopf und ging an dem Mann vorbei. Beschämt schlich auch ich hinterher.
Auf der Schlossstraße war es wieder ein erheblich leichteres Gehen. Unsere Wanderstiefel waren zwar absolut wasserdicht, doch hatte der Schnee auf dem Uferweg so hoch gelegen, dass wir bis über die Knöchel eingesunken waren und Socken und lange Unterhosen langsam aber sicher die Feuchtigkeit aufgenommen hatten. Es war kein angenehmes Gefühl. Ich war dann auch dankbar für Barbaras Vorschlag, zunächst im Gasthaus am See etwas zu essen und das Schloss unbeachtet zu lassen. Ich wusste auch überhaupt nicht, ob es besichtigt werden konnte.
Trotz sorgfältigen Fußabtretens ließ es sich nicht vermeiden, auf dem hellbeigen Teppich des Restaurants dunkle Feuchtigkeitsflecken zu hinterlassen. Die grauhaarige Frau an der Rezeption – das Gasthaus diente auch als Hotel – bedachte uns mit einem missbilligen Blick. Ich gab es in gleicher Weise zurück. Warum wurde auch der schöne alte Dielenboden von Textil verdeckt! Wir hatten keine Mühe, einen Fensterplatz mit Blick über den See zu ergattern, denn der Gastraum war bis auf einen kleinen, etwa dreißigjährigen Mann, der eine merkwürdig altmodische Kleidung trug und sich in einer abgelegenen Ecke verkrochen hatte, leer. Er hatte eine halbleere Flasche Rotwein vor sich stehen und biss herzhaft in ein Schinkenbrot. Hinter dem kleinen Tresen polierte eine junge Frau mit knallroten Haaren und beängstigendem Brustumfang mit gelangweilter Miene Weingläser. Vor unserem Fenster stritten sich zwei Krähenvögel um eine trockene Brötchenhälfte. Auf dem See tummelten sich bis weit draußen zahlreiche Schlittschuhläufer. Neben zwei baufällig wirkenden Schuppen lag ein halbes Dutzend geklinkerte Boote umgedreht am Ufer.
Ich bat den Kellner um die Speisekarte – und dieser Kellner war einfach eine Wucht! Weißes Hemd, schwarze Fliege, schwarze Jacke mit enormen Revers, eine knöchellange blaue Schürze umgebunden Es fehlte nur noch, dass hinten aus der Schürze die Schöße eines Fracks heraus gelugt hätten. Sie lugten nicht. Doch das Tollste war der Typ an sich: Wirre krause Haare so schwarz wie die Nacht wellten sich um einen Römerschädel mit der markantesten Hakennase, die ich je gesehen hatte. Auf ihr saß ganz vorn an der Spitze eine Halbbrille, über die er und scharf musterte. Ein bleistiftdünner Schnurrbart zierte seine Oberlippe, und zeigte er seine Zähne, blitze in der oberen Reihe ein Goldzahn auf. Statt zu gehen und die Karten zu holen meinte er mit einer entschuldigende Geste:
„Essen warrrm errrst ab zwölf Uhrrr, vorrrherrr Mamsell macht nicht!“ Sein aufgesetzter italienischer Akzent mit dem ellenlang rollenden R war eine einzige Parodie. Und er benutzte tatsächlich den Begriff Mamsell. Es war jetzt 11 Uhr 30. Ich unterdrückte ein Lachen, derweilen Barbara auf unnachahmliche Art die Augen verdrehte, und fragte höflich, ob wir nicht wenigstens schon eine heiße Suppe bekommen könnten, schließlich brauchten wir nach dem langen Weg von Dargow etwas zum Aufwärmen.
„Ah, Darrrgow. Schoppenhof! Ich habe rrrecht?“ Es war fast nicht zum Aushalten. „Schoppenhof kein Küche,“ fuhr er unerbittlich fort, „nicht wirrrklich gastfrrreundlich. Aberrr Zimmerrr sehrrr gut!“
„Was ist denn nun mit der Suppe?“ insistierte ich.
„Ah, Suppe! Ich frrrage Mamsell. Vielleicht ist noch Sparrrgelcrrreme da.“ Mit eigentümlich watschelndem Gang eilte er in Richtung Küche.
„Wenn das ein Italiener ist, bin ich Miss Marple!“ versetzte Barbara.
Ich stöhnte. „Muss es denn unbedingt Miss Marple sein? Warum nicht Pamela Anderson oder Lara Croft?“
„Du bist ein verdammtes sexistisches Schwein, hab` ich dir das schon einmal gesagt?“
„Ach, häufig.“
„Dann bleib` gefälligst so! Und wenn dir mein Brustumfang nicht passt, kannst du dich ja des Tittentieres hinter dem Tresen annehmen. Dann hat es sich mit Bambusschößling.“
Der merkwürdige Kellner kam wieder heran gewatschelt. Diesmal hielt er die Speisekarten in der Hand.
„Mamsell macht Sparrrgelcrrreme ferrrtig. Auswählen ist auch schon möglich.“ Abwartend blieb er am Tisch stehen.
„Lass` man die Karten hier und bring` uns lieber zwei Kaffee, Signor Amaretto!“ knurrte Barbara unfreundlich. Der Mann betrachtete sie mit einem missbilligendem Blick und wandte sich ohne ein Wort abrupt um. In erstaunlich kurzer Zeit kam er mit zwei Kaffeegedecken zurück und servierte in aller Zurückhaltung und Höflichkeit.
Ich schaute aus dem Fenster. Zwischenzeitlich hatte sich jeglicher Dunst verzogen und sogar die Stintenburg war zu erkennen. Mittlerweile hatte sich die Krähenschar verdoppelt und die Brötchenhälfte arg dezimiert.
Endlich kam die ersehnte Suppe und bereitete uns eine herbe Enttäuschung. Sie war lauwarm und erinnerte nur dem Namen nach an Crrreme. Dafür war der nachfolgende rheinische Sauerbraten, den nach meiner Bestellung selbstverständlich auch Barbara wählte, von herausragender Qualität. Beim abschließenden Kaffee stieß mich Barbara an.
„Schau doch mal, was die Möhre da macht!“
„Die Möhre?“
„Na, der Karottenkopf hinter dem Tresen, das Busenwunder!“
Ich blickte mich um. Die Bartenderin wärmte über einer Kerze die Spitze einer enormen Zigarre an und schenkte mit der anderen Hand eine trübe flockige Flüssigkeit in ein Weinglas. Die gelangweilte Miene hatte sie dabei nicht abgelegt. Sollte es sich etwa um Federweißer handeln? Mich schauderte. Ich hatte das Zeug einmal Anfang der neunzehnhundertsiebziger Jahre probiert. Mit verheerendem Ergebnis. Ich war stundenlang nicht mehr von der Toilette herunter gekommen. Das Mädel wollte doch wohl nicht dieses Gesöff während ihres Dienstes trinken und dazu eine dicke Zigarre schmöken? Nein, sie wollte nicht. Aus dem Hotelflur schlurfte ein etwa sechzigjähriger Mann, angetan mit einer am Schlag ausgefransten, viel zu weiten Cordhose, einem grünen Rollkragenpullover unter einem blauen, verschossenen Nadelstreifenjackett und einem vollkommen ausgeblichenen Trenchcoat, über und über mit Flecken bedeckt. Das schüttere Haar wurde nur unvollständig von einer braunen Baskenmütze mit zwei sich überkreuzenden Ankern auf der Stirnseite bedeckt.
„Na, Hinnerk,“ begrüßte die Barfrau den Mann in breitestem Norddeutsch-Missingsch, „büscha mol wedder pünktlich, nä?“
„Jau, soll woll, Stinchen.“ Der Mann nahm das Weinglas, leerte es in einem Schwung, zündete sich mit einem Streichholz von Stine gereicht die Zigarre an, nahm einen tiefen Zug, paffte dann ein paar Mal – und eilte augenblicklich und schnurstracks zur Toilette. Stine grinste zu uns herüber.
„Is man besser als sechs Esslöffel Rhinozeros!“ Sie sagte tatsächlich Rhinozeros. Es schien sich also tatsächlich um Federweißer gehandelt zu haben. Aber wird der nicht nur bis Oktober hergestellt und verkauft? Wegen der fortschreitenden Gärung kann er doch nicht gelagert werden. Ich nahm mir vor, Stine beim Gehen danach zu fragen.
Der kleine Mann in der abgelegenen Ecke verlangte mit spürbar sächsischem Akzent nach der Rechnung. Der nachgemachte Italiener wieselte heran.
„Das macht dann heut` einundzwansch dreisch, Herr S...“ murmelte er ebenfalls in eindeutigem Sächsisch.
„Psst! Keine Namen!“ zischte der kleine Mann. „Soll mir denn Bona auf die Spur kommen? Reich` er mir den Knotenstock und das Rückenfell! Ich muss heut` noch den Krater erreichen.“ Der Kellner gab ihm einen derben Spazierstock und einen pelzbesetzten Rucksack, die genau neben dem Gast abgelegt waren. Der Gast griff in den Rucksack, nahm einen zerknüllten Schein heraus, gab ihn dem Kellner und meinte abschätzig und kopfschüttelnd:
„Was heutzutage so als Dukaten bezeichnet wird! Behalt` er den Rest, ich weiß ihn doch nicht zu schätzen.“ Damit stolzierte er krummbeinig zur Garderobe, warf sich einen wollenen Umhang über und verschwand durch die Eingangstür.
Ich wartete vergeblich auf den Kellner, um die Zeche zu bezahlen. Schließlich rief Barbara ungeduldig zum Tresen hinüber:
„Wo bleibt denn euer Don Bosco di Pepperoni?“
„Ritchie ist zur Pause,“ war die erstaunliche Antwort. „Bezahlen könnt ihr bei mir.“ Während ich das Geld auf die Platte legte, fragte Barbara:
„Wo habt ihr denn diesen Typen aufgegabelt?“
„Ostzonenvermächtnis.“ meinte der Rotschopf. „Ihr könnt von Glück sagen, dass er heute nur den Italiener gemacht hat. Wenn er den Südstaatencowboy heraus kehrt, ist er einfach unerträglich. Leider gehört er zum Inventar.“ Darüber vergaß ich glatt, sie nach dem Federweißen zu fragen.
Auf dem Rückweg schaute ich mir die Fassade des Schlosses an. Rudimentär mich an meine Tischlerausbildung erinnernd, die auch Stilkunde beinhaltet hatte, stufte ich den Baustil als Neorenaissance ein, genau wie das Hamburger Rathaus. An der Weggabelung, wo der Uferpfad abzweigte, ging Barbara geradeaus weiter.
„Nanu?“ rief ich ihr hinterher, „jetzt willst du durch den Wald? Wieso das denn?“
„Ich hab` keine Lust, dass mir der Typ mit der Laterne wieder ein schlechtes Gewissen bereitet.“
Das sagte ausgerechnet Barbara, der aufrichtigste Mensch, der mir jemals begegnet war.
Ohne eine Begegnung verlief der Weg durch den Wald dann doch nicht. Zu meiner Überraschung tauchte hinter einem Busch rechts des Pfades das kleine Hutzelmännchen aus dem Gasthaus auf, hastig seine Kleidung ordnend. Er kam unterwürfig auf uns zu und meinte leise, fast flüsternd:
„Hat mich das Weibsbild doch noch zum nicht ausgegorenen Wein gedrängt. Wid`res besseren Wissens nahm ich den Trunk. Doch sagt mir: Ich hielt mich nach Norden, doch scheint es mir dem Ziele entgegen gesetzt. Tut mir eure Meinung kund: Wo find` ich meinen Krater?“
Barbara ergriff das Wort. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh`n? Dorthin musst du dich wenden.“
„Wie viele Millien mögen es wohl sein, ehe ich am Rand stehe?“
„Rechne nicht in Millien, sondern in Tagen oder besser Monden. Und heute solltest du noch einmal deinen Knotenstock im vorherigen Gasthaus an den warmen Ofen lehnen. Bis zur nächsten Herberge ist es ein tüchtig` Tagwerk!“
„Habt Dank ihr lieben Leut`! So will ich denn euren teuren Rat befolgen, lebt wohl, lebt wohl!“ Damit stapfte er auf seinen kurzen Beinen den Weg entlang, den wir gekommen waren.
„Und fürcht` er den Bona nicht!“ rief ihm Barbara hinterher. „Die Macht seines Armes reicht gerad` so lang wie die der Pfote einer toten Katz`.“ Der Mann stieß dankend noch einmal seinen Knotenstock in die Luft und verschwand hinter einer Wegbiegung.
„Was war das denn nun?“ fragte ich verblüfft.
„Ich sag`s doch:“ versetzte Barbara. „Du und dein Joyce, hast du denn nichts anderes im Kopf?“
„Was hat denn dieses Männchen mit Ulysses zu tun? Und was sollte das mit den blühenden Zitronen?“
„Ach, Homer und er sind schon rechte Freunde. Du weißt wirklich nicht, wer das war? Und was die Zitronen betrifft: Es haben auch andere Dichter als Joyce große Werke geschaffen. Wilhelm Meisterwerke.“ Damit ging sie weiter. Kopfschüttelnd folgte ich ihr.
An der kleinen Holzbrücke war erneut eine Schar Enten versammelt, die dafür sorgten, dass das kleine Wasserloch nicht einfror, damit sie daraus trinken konnten. Sie fanden Unterstützung durch die zahlreichen Krähen, die mir ihren furchterregenden Schnäbeln für den nötigen Respekt sorgten, um auch selbst an der Quelle teilhaben zu können.
Im Waldstück nach Dargow hinauf fragte Barbara:
„Meinst du, dass wir uns im Schoppenhof Schlittschuhe leihen können? Ich hab` unbändige Lust, meine Kreise zu ziehen.“
„Fragen wir doch einfach.“
Émile Waldteufel hätte die helle Freude an uns gehabt.
Rund und herum
Am Tag vor der Rückfahrt wollten wir noch einmal eine Gewalttour unternehmen: einmal komplett um den See herum. Das Gepäck für die Rückfahrt war vorbereitet. Die Küche der Wohnung wollten wir an diesem vorletzten Tag nicht mehr in Anspruch nehmen, um nichts mehr sauber machen zu müssen. Das morgige Frühstück wollten wir in Ratzeburg einnehmen – aber nicht bei von Allwörden! Die Verpflegung während der heutigen Fahrt sollte in Imbissbuden und Restaurants vorgenommen werden. Es war merkwürdig: Ohne darüber gesprochen zu haben, bestand Einigkeit darüber, dass wir um den See entgegen dem Uhrzeigersinn fahren wollten. Um während des Radelns nicht ganz auf gastronomische Einrichtungen angewiesen zu sein, nahmen wir vorsichtshalber zwei Thermoskannen mit Tee und einige belegte Brote mit.
Das Wetter versprach toll zu werden: Die Vorhersage erfreute mit angenehmen ein bis drei Minusgraden, wolkenlosem Himmel und fast völliger Windstille. Auf dem Weg hinunter zur kleinen Holzbrücke wurden wir wieder vom Protestgeschrei der Krähen begleitet. Auf dem Geländer saßen fünf Lachmöwen aufgereiht wie auf einer Perlenschnur, zum Scheißen bereit und lauthals schimpfend. Wir konnten von Glück sagen, dass sie nicht auf Peitschenlaternen hockten. Eine der Emmas verstieg sich sogar zu einem heiseren Bellen. Seit wann können Möwen bellen? Das kleine Wasserloch auf der Seeseite war zwischenzeitlich vollständig zugefroren, daher fehlte auch die aufgeregte Entenschar. Der Weg durch den Wald auf dem Seedorfer Werder war unaufgeregt: kein alter Mann, kein langer Mantel, keine brennende Laterne. Bei Barbara also auch kein schlechtes Gewissen.
Beim Passieren vom Gasthaus am See in Seedorf bot sich ein erstaunliches Bild: Einige Männer (gehörten sie vielleicht der fast ausgestorbenen Zunft der Schaalseefischer an?) klopften das Eis von den Planken der umgedrehten Boote. Wollten sie etwa Kufen unter den Rumpf montieren und mit einem provisorischen Mast das Eissegeln praktizieren? Mit diesen plumpen und schweren Booten kaum vorstellbar. Nein, sie kippten die Boote um und ließen sie vorsichtig auf bereit gelegten Pallhölzern nieder. Beim letzten Boot wischte, kaum war das Dollbord ein wenig angehoben, ein rotbraunes Eichhörnchen hervor und flitzte nahezu lautlos einen nahen Baumstamm hinauf. Nachdem der Rumpf umgedreht war, warf einer der Männer leise fluchend Nüsse, Zweige und Tannenzapfen heraus.
Das Restaurant am Ortsausgang sah uns nicht. Dafür war das Frühstück noch nicht lange genug her. Barbara wollte geradeaus die Wittenburger Chaussee fahren, um zur Lassahner Chaussee zu gelangen. Das wollte ich nun gar nicht. Ich musste mir doch die alte Schweinefarm ansehen - wenn es sie denn noch gab. Also vor dem Seepavillon nach links auf den Schotterweg abgebogen und parallel dem Seeufer gefolgt. Bald kam das Gelände in Sicht: ein rostiger Maschendrahtzaun mit wackeligen Pfosten, ein schief in den Scharnieren hängendes Doppeltor mit der Aufschrift auf einer verwitterten Holzplatte „Zutritt verboten“. Etwas zurück gesetzt stand noch ein länglicher Holzschuppen mit den beiden typischen quadratischen Lüftungstürmen auf dem wellblechgedeckten Satteldach. Und sonst? Kaum erkennbare Fundamentreste und einige verstreut liegende Mauerbrocken waren die Überbleibsel der einst Dutzenden von Aufzuchtsställen. Warum wurde dieses Sahnestück von Grundstück nicht anderweitig genutzt? Vielleicht war es zu aufwändig, zunächst Grund und Boden von der ungeheuren Schadstoffbelastung zu sanieren.
In engen Kurven an einigen Fischteichen vorbei, über eine schmale Holzbrücke die Schaale gequert und nach wenigen Kilometern auf verschlungenen Waldwegen die Landstraße nach Lassahn erreicht. Auf einer Anhöhe nach einem kurzen Waldstück stand am linken Straßenrand ein Telegrafenmast, der seine ursprüngliche Funktion längst verloren hatte. Es führten von ihm keine Leitungen fort, und auch die verbliebenen Isolatoren waren längst zerschossen. Der Mast diente nur noch einem Zweck: Er beherbergte auf der Spitze ein großes Storchennest. Ich war bereits einige Male im Frühjahr und Sommer an dieser Stelle vorbei gefahren und wusste genau, dass spätestens Anfang April der Horst wieder bevölkert sein würde. Es war ohnehin eine Freude zu sehen, welch große Anzahl von Störchen östlich der ehemaligen Grenze beheimatet waren. Dieses Storchennest war für eine längere Strecke der einzige Lichtblick, ansonsten herrschten kahle, leicht hügelige Felder vor, die einen merkwürdig trostlosen Eindruck machten.
Erst in Lassahn wurde es wieder interessanter: Hier bestand die Möglichkeit, hinunter zur Stintenburg zu rollen, dem Herrschaftsbesitz derer von Bernstorffs. Die Geschichte dieses Adelsgeschlechts ist eng mit dieser Gegend verbunden. Ich bin Fürstengeschlechtern von Grund auf kritisch eingestellt (mit welchen Mitteln waren sie denn zu ihrem Status gekommen?), doch auf die Bernstorffs blickte ich mit einigem Respekt, war doch Albrecht Theodor Andreas Graf von Bernstorff ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der sein Engagement mit dem Leben bezahlte. Kurz vor Kriegsende wurde er in seiner Haft von der SS ermordet. Ich weiß nicht mehr, wer mir die Geschichte erzählte: Nach Wiederherstellung der Besitzverhältnisse 1993 soll die jetzt wieder auf der Stintenburg wohnende Familie Bernstorff die ihnen gehörenden umliegenden Ländereien zu einem symbolischen Spottpreis an die Bauern verpachtet haben, die bereits zu DDR-Zeiten die Äcker bewirtschaftet hatten. Diese Legende konnte ich bisher leider noch nicht verifizieren.
Auf dem Friedhof der Lassahner Kirche war die Grabstelle der Bernstorffs gepflegt und mit Sorgfalt wieder hergerichtet, ganz im Gegensatz zum Sommer 1990, als Monika und ich unseren ersten Besuch dort machten. Nach der Enteignung durch die Nazis hatten auch die DDR-Oberen kein Interesse an der Erhaltung des Familienbesitzes, schließlich waren hier Grenztruppen mit einer geheimen Sonderabteilung stationiert. Aber nicht nur die Grabstelle bot einen erfreulichen Anblick. Von dem auf einem Hügel gelegenen Kirchhof bot sich ein wunderbarer Blick auf die Stintenburg, Kampenwerder und einen großen Teil des Schaalsees. Von dort oben war auch gut zu sehen, dass weite Bereiche noch eisfrei waren und nur die Areale am Ufer ein ideales Revier für die Schlittschuhläufer boten, die sich jetzt am späten Vormittag schon eifrig in der Kunst des Gleitens übten.
Ich wollte eigentlich nicht den steilen Weg hinunter, schließlich musste ich ihn anschließend wieder hinauf. Barbara betitelte mich als alterndes Weichei – hatte ich da noch eine Wahl? Am Westufer von Kampenwerder blickte ich auf das gegenüber liegende Ufer. Waren tatsächlich Ende der Vierzigerjahre wahre Heerscharen von Menschen mit Booten samt Hab und Gut von hier auf die andere Seite gefahren, um nicht unter einem kommunistischem Regime leben zu müssen? Die Geschichtsbücher schreiben es so.
Nach dem anstrengenden Wiederaufstieg bestand ich auf einem Mittagessen im Restaurant bei der Kirche, schließlich hatte ich mir eine Belohnung verdient. Wieder zum Sommer 1990: Dieses Restaurant hatte ich in bester Erinnerung. Monika, die Kinder und ich kehrten das erste Mal in ein Restaurant der damals noch real existierenden DDR ein. Die Ausstattung war schlicht, die Speisekarte handgeschrieben. Es waren nur wenige Gerichte gutbürgerlicher Natur im Angebot – Rinderrouladen, Schweinebraten, das unvermeidliche panierte Schnitzel, Karbonaden und Seelachsfilet. Keine Fische aus dem Schaalsee. Und es stand Tomatensalat auf der Karte, Tomatensalat mit Feldfrüchten aus eigener Ernte. Und dieser Salat war eine einzige Sensation! Nun, er bestand aus Tomaten, Zwiebelringen und Petersilie, dazu wurden Salz und Pfeffer, Essig und Öl gereicht. Nicht einmal die Zutaten waren erforderlich, denn die Tomaten schmeckten tatsächlich nach Tomaten! Nach Tomaten, nicht nach Wasserprodukten aus niederländischen und spanischen Treibhäusern. Ich fühlte mich an einen Urlaub im damals noch sozialistischen Jugoslawien Ende der Siebzigerjahre erinnert, als ich am ersten Tag in Istrien auf dem Markt Tomaten kaufte und die Kinder sich während der vier Wochen fast ausschließlich von diesem Gemüse ernährten, weil sie von diesem fantastischen Geschmack, den sie von Hamburg absolut nicht kannten, total überwältigt waren.
Jetzt, siebeneinhalb Jahre später war die Karte auf edlem Papier gedruckt, die Einrichtung entsprach der gehobenen Mittelklasse, und das Speisenangebot war erheblich umfangreicher und, nun ja, unangemessen aufgepeppt. Tomatensalat gab es immer noch, und voller Euphorie erzählte ich Barbara vom damaligen Erlebnis. Anschließend strafte sie mich mit Verachtung, weil ich sie zu einer miesen Vorspeise überredet hatte. Recht hatte sie: Die Tomaten waren Treibhausware, ertränkt in einem angeblich französischem Dressing von klebriger Süße. Doch die Seezunge war wirklich exzellent!
War die Landstraße hinter Lassahn noch recht abwechslungsreich, wurde es öder und öder, je weiter wir nach Norden kamen. Wieder endlose, eintönige und kahle Felder rechts und links der schnurgeraden Straße. Die einzige Ablenkung bot ein Esel, der auf einer Koppel bei einem einsam stehenden Haus eine heftige Auseinandersetzung mit einem Hund hatte. Nur durch einen Maschendrahtzaun waren die Tiere voneinander getrennt. Der Hund bellte lautstark das Grautier an. Dieses blickte zunächst stur und regungslos zurück, um sich urplötzlich blitzschnell umzudrehen und mit aller Gewalt nach hinten auszuschlagen. Der Hund konnte sich gerade noch mit einer schnellen Ausweichreaktion vor den Hufen retten. Der Zaun wies jedoch anschließend ein großes Loch auf. Der beste Freund des Menschen bellte noch einmal angeberisch und zog dann von dannen.
Bei der Abzweigung nach Kneese bog Barbara überraschend rechts ab.
„Wo willst du denn hin?“ brüllte ich ihr hinterher.
„Nach Kneese natürlich! Wer schon einmal am Schaalsee ist, muss Kneese sehen, sonst kann er gleich daheim bleiben!“
Ich weiß nicht, woher Barbara ihre Informationen hatte, doch ich kannte Kneese, dieses gottverlassene verschlafene Nest. Dort hingen sogar tagsüber die Hunde tot über den Zäunen. Ich wollte keinen Streit und pedalierte brav hinterher. Noch bevor wir das Dorf erreichten, sah ich auf der linken Seite ein kleines Häuschen mit einem verhältnismäßig großen Garten. Ein etwa fünfzigjähriger Mann in kurzärmeligem, schreiend buntem Hemd schachtete einen flachen Graben aus, der in gerader Linie von der Gartenpforte zur Hauseingangstür führte. Auf einer Holzbank an der Hauswand saß eine Frau, einen Becher dampfenden Kaffees neben sich und rauchte mit unbewegter Miene eine Zigarette. Der Graben war durch ein etwas tieferes Loch unterbrochen – ein daneben liegender Wacholderstrauch zeugte von der Ursache. Von der Pforte führte in einem weiten Bogen ein mit Waschbetonplatten gepflasterter Weg ebenfalls zur Haustür. Der Mann schaufelte, schwitzte erbärmlich und fluchte geradezu gotteslästerlich.
„Na, na, na!“ tadelte Barbara im Vorüberfahren. Der Mann richtete sich blitzschnell auf, warf die Schaufel zur Seite und brüllte:
„Ha! Meint ihr denn, dass das mir hier Spaß macht? Ganz gewiss nicht! Ich würde auch gern gemütlich in der Gegend herum gondeln, statt mich hier abzurackern. Und für meine Frau wäre es auch gesünder, dann hätte sie nämlich keine Gelegenheit, an der Hauswand zu sitzen und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Wollt ihr einen Kaffee?“ Er sprach das Wort mit einem langen e auf der zweiten Silbe aus. Barbara konnte wieder einmal nicht an sich halten.
„Es heißt nicht einen, sondern ins Cafè.“ berichtigte sie ihn. „Das meinst du aber wahrscheinlich gar nicht, du wolltest uns einen Kaffee anbieten, nicht wahr? Denn ich sehe hier weit und breit keine annähernd gemütliche Kaffeestube.“ Sie putzte sich die Nase. „Muss ich denn immer und überall Vorträge über regionale Sprachdivergenzen und Semantik halten? Ja, wir nehmen gern einen Kaffee.“ Das Gesicht der Frau an der Hauswand hatte sich zu einem breiten Grinsen verzogen.
Wir genossen also den Kaffee. Damit hatte seine Frau noch mehr Gelegenheit zum Rauchen, weil auch wir die Zigaretten zum heißen Getränk genossen. Nun bekamen wir das Gebräu aber nicht ebenfalls in klobigen Bechern, sondern der Mann werkelte einige Zeit im Haus herum, ehe er mit einem Holztablett zurück kam und es auf einen wackeligen Klapptisch stellte. Auf dem Tablett standen zwei Tassen mit passenden Untertassen, eine hohe Kaffeekanne sich leicht konisch nach oben verjüngend, ein Milchkännchen und eine Zuckerdose, alles in einem weißen Porzellan mit blauem Muster gehalten. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Barbara, die, wie ich wusste, profunde Kenntnisse über Porzellan und seine Geschichte hatte, zog hörbar die Luft ein.
„Wo habt ihr das denn her?“ fragte sie möglichst unverfänglich.
„Ach,“ die Frau machte das erste Mal den Mund auf. „Das hat Richard von seiner Urgroßtante geerbt. Ich wollte den Plunder schon längst wegschmeißen, aber Richard meint, dass es für unsere kleine Datscha hier noch gerade gut genug ist.“ Barbara blickte sie mit großen Augen an. „Darf ich mir das einmal ansehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie vorsichtig die Zuckerdose, hob sie sich über den Kopf und sah sich die Unterseite an. Ihre rechte Hand, die den Behälter hielt, begann zu zittern. Sie nahm die linke zur Hilfe und setzte das Stück mit unendlicher Zartheit zurück auf den Tisch. Ich ahnte, was jetzt kommen würde.
„Von diesem Geschirr trinke ich nicht.“ flüsterte sie kaum hörbar.
„Wieso, was ist denn?“ wunderte sich Richard, der immer noch nicht begriff. „Hat Annegret doch recht, dass das Zeug nichts wert ist?“
„Wisst ihr überhaupt, was ihr hier habt?“ Barbara war immer noch fassungslos.
„Meine Großtante erzählte mir einmal, das sei das Zwiebelmuster irgendeines Herstellers, meinte aber auch, dass das keine besondere Qualität sei.“
„Habt ihr noch mehr davon?“ Barbara ging nicht darauf ein.
„Einen halben Schrank voll mindestens.“ mischte sich Annegret ein. „Jeweils ein vollständiges Tee- und Kaffeegeschirr für zwölf Personen mit Kannen und Kännchen, Servierplatten und solchen Kram. Dann natürlich ein Essgeschirr mit flachen und tiefen Tellern, Suppenschalen, diversen Terrinen, Saucieren und verschiedenen Schüsseln. Auch für zwölf Personen.“
„Und das ist alles vollständig?“ Barbara stockte fast der Atem.
„Ja natürlich, wollt ihr etwas abhaben? Das nimmt uns hier doch nur Platz weg.“
Barbara lehnte sich zurück und schwieg einige Minuten. Dann brach es aus ihr heraus.
„Für den Wert dieses Porzellans könnt ihr eure armselige Datscha hier verschenken und euch eine Villa an der Hamburger Elbchaussee kaufen. Zur Wasserseite natürlich, einschließlich dazugehörigem Grundstück.“
Annegret und Richard starrten sie entgeistert an. Barbara ließ die Erklärung folgen.
„Das ist kein Zwiebelmuster, sondern das Indisch Blau der Meißener Porzellanmanufaktur. Und dieses Service ist mindestens 240 und höchstens 250 Jahre alt!“
Jetzt war es an der Reihe von Annegret und Richard, höchst verdattert drein zu schauen. „Woher weißt du das denn?“
Barbara nahm zwei Untertassen und legte sie vorsichtig umgedreht auf den Tisch. Sie zeigte auf die Zeichen auf der Unterseite.
„Seht ihr die gekreuzten Schwerter hier? Das ist das Markenzeichen von Meißen seit 1723. Wenn ihr euch die Schwerter genau anschaut, könnt ihr erkennen, dass sie nicht genau gleich sind, sondern kleine Unterschiede aufweisen. Ist ja auch kein Wunder, werden sie doch von Hand gemalt. Bis heute übrigens, genau wie die Dekore. Ich weiß nicht, ob es heute noch so ist, aber früher wurden ausschließlich Frauen dafür eingestellt, diese Zeichen aufzubringen, und zwar einzig und allein diese Zeichen, nichts anderes. Diese Frauen hatten sogar eine eigene Berufsbezeichnung: Sie hießen Schwerterer. Seht ihr diesen kleinen Punkt unten zwischen den Schwertgriffen? Diese Art der Darstellung wurde zwischen 1763 und 1774 verwendet, sonst nie. Dass ihr die kompletten Tee-, Kaffee- und Essgeschirre habt, steigert die Geltung ganz beträchtlich. Sind Einzelstücke von Meißen schon schweineteuer, sind vollständig erhaltene Services, gerade, wenn sie auch noch wie hier ein beträchtliches Alter aufweisen, von fast unschätzbarem Wert. Und du, Annegret, hättest du dieses Kleinod tatsächlich weggeschmissen, gehörtest du geteert und gefedert und anschließend im Bernstorffer Binnensee ertränkt!“
Das mussten die beiden erst einmal verdauen. Barbara war heute einfach nicht zu bremsen.
„Ich mache euch einen Vorschlag: Wenn Michi und ich wieder zurück in Hamburg sind, wende ich mich an das Museum für Kunst und Gewerbe und erzähle von diesem Schatz hier. Wenn ihr wollt, kommt dann eine Koryphäe her und schätzt offiziell den Plunder. Dann könnt ihr ja entscheiden, ob ihr das Porzellan behalten oder abgeben wollt. Uns braucht ihr gar nicht erst zu fragen, eine Villa an der Elbchaussee interessiert mich nicht.“ Schön, dass auch ich um meine Meinung gefragt wurde. Sie fuhr fort.
„Übrigens habe ich mich doch entschieden: Ich werde doch den Kaffee aus diesem billigen Zwiebelmuster trinken. Ist ja eh` schon kalt.“
Richard setzte sich zu uns, nachdem er sich Pullover und Jacke übergezogen hatte. Wohlig stöhnend lehnte er sich zurück, streckte den Rücken und fragte:
„Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, warum ich diese Schinderei hier auf mich nehme, könnt ihr das?“ Selbstverständlich konnten wir es nicht.
„Dann will ich es euch erklären: Seht ihr den wunderbaren Briefeinwurf in unserer Haustür, ist der nicht schön?“ Er war wirklich schön – ein blank poliertes Art-Deco-Exemplar in besonders filigraner Ausführung. Doch warum musste wegen dieses Einwurfs der halbe Garten verwüstet werden? Die Erläuterung ließ nicht lange auf sich warten.
„Die Entfernung in Luftlinie von der Gartenpforte zur Eingangstür beträgt genau zwölf Meter und vier Zentimeter, ich hab`s sieben Mal nachgemessen.“ Annegret seufzte resigniert. „Zwölftausendundvierzig Millimeter! So!“
Meine Verwirrung war echt. „Was hat das jetzt mit deiner Schufterei an einem wirklich wunderschönen Januartag zu tun?“
„Ha! Jetzt kommt`s nämlich: Gemäß verdammter und beschissener Reichsverordnung für die Beförderungsvoraussetzungen im Postzustellwesen darf der maximal zulässige Beförderungsweg innerhalb eines Privatgrundstücks für den Zustellbeamten oder dessen Bevollmächtigten zwölf Meter fünfzig betragen. Zwölffuffzich!“
„Wo liegt das Problem?“ fragte Barbara. „Hier ist die Strecke doch kürzer!“
„Ha! Luftlinie, ha! Seht ihr den verkackten Wacholderstrauch dort?“ Barbara tadelte die Wortwahl wieder mit einem leisen „Ts, ts, ts.“ Ausgerechnet sie, die über ein Repertoire an Kraftausdrücken verfügte, das einem preußischem Droschkenkutscher zur Ehre gereicht hätte. Richard fuhr fort:
„Dieser Mistbusch lag genau auf dem direkten Weg von der Pforte zur Haustür. Also habe ich in tagelanger mühseliger Arbeit“ - seine Frau seufzte resigniert - „den Waschbetonplattenweg drum herum gelegt. Und soll ich euch mal etwas verraten? Soll ich euch was verraten?“
„Die Strecke beträgt dann 13,50 Meter.“ bemerkte Barbara trocken. Richard starrte sie fassungslos an.
„Wo-woher weiweißt du das?“ stotterte er.
„Weibliche Intuition, überragende Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe und die Sensibilität eines zarten Bambusschößlings.“ Annegret prustete ihren Kaffee über den Schoß ihres Mannes. Ich versuchte, ein möglichst unbewegliches Gesicht zu machen. Barbara legte noch einen drauf:
„Und nachdem der Zustellbeamte oder sein Bevollmächtigter die Distanz sieben Mal nachgemessen hatten, kamen sie zu der Entscheidung, fortan euch die Post nicht mehr zuzustellen, sondern sie von euch in Zarrentin abholen zu lassen.“
Der Mann reagierte fast empört. „Warum soll ich euch denn noch etwas erzählen, wenn ihr ohnehin schon alles wisst?“ Ich betrachtete Barbara sehr amüsiert. Ich wusste recht genau, was jetzt folgte.
„Häng` doch einfach einen Briefkasten an die Gartenpforte oder den Zaun. Das ist mit Sicherheit einfacher als deine Tiefbauarbeiten hier.“
„Ich bin doch nicht verrückt!“ protestierte er. „Soll ich mir meine Post von irgend welchen Schaalseevandalen klauen lassen? Kommt überhaupt nicht in Frage! Und damit komme ich zu meinem Ausgangspunkt: Dann ist doch mein schöner Art-Deco-Briefeinwurf vollkommen nutzlos! Weshalb poliere ich ihn denn jeden Tag eine halbe Stunde?“ Seine Frau seufzte resigniert und kicherte:
„Hi, hi, 'Schaalseevandalen': Wer das wohl hier ist!“
Barbara stand auf. „Tja, dann wollen wir mal weiter, um noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Dargow zu sein. Vielen Dank für den Kaffee und grüßt den Zustellbeamten oder seinen Bevollmächtigten von uns.“
Annegret lachte laut auf, während Richard uns ein wenig missmutig nachblickte und im Haus verschwand. Als ich noch einmal zurück blickte, stand er in der Eingangstür und schälte das Papier von einem Dolomiti-Eis.
Es schloss sich eine wunderbare und abwechslungsreiche Fahrt durch ein meist waldreiches Gelände an. Wir versuchten, an möglichst vielen Seen vorbei zu fahren, waren doch Gewässer für Barbara und mich gleichermaßen reizvoll. Dutzower See (doch wohl noch ein Teil des Schaalsees), Goldensee, Röggeliner See, Lankower See und zum Abschluss den Mechower See mit seiner Kormoran-Kolonie. Doch bevor wir die Vögel zu Gesicht bekamen, galt es, den furchtbar unebenen Weg von Schlagsdorf zum Nordende des Mechower Sees zu bewältigen. Ein wahrer Ziegenpfad, voller Löcher, großer Bruchsteine und abrupter Bodenwellen. Zur Hälfte des Weges lehnte ein altes rostiges Damenfahrrad am begleitenden Stacheldrahtzaun. Ich starrte so erstaunt auf diesen Drahtesel, dass ich versäumte, für den nächsten kurzen Anstieg ausreichend Schwung zu holen. Ich blieb einfach stehen. Entschlossen stellte ich mich auf das linke Pedal und trat mit aller Kraft durch. Ohne Widerstand knallte der Kurbelarm nach unten, ich fiel zur Seite und prallte mit dem linken Knie auf eine hart gefrorene Bodenwelle. Es tanzten buchstäblich Sterne vor meinen Augen. Mühsam rappelte ich mich auf und schaute nach der Ursache. Die Kette war gerissen. Nun, das war keine große Sache: Nietendrücker, Ersatzglieder und Nieten hatte ich dabei. Die Reparatur war eine Sache von Minuten. Anschließend schmerzte das Knie noch, aber ein Fahren war durchaus möglich.
Der Anblick der Kormoraninsel im Mechower See versetzte mir einen Schock: Wo war der abgestorbene mächtige Baum geblieben, auf dessen kahlen Ästen hunderte der schwarzen Vögel saßen? Jetzt war nur noch ein Stumpf von etwa einem halben Meter Höhe übrig geblieben. Hatten diese „Schwarzen Kampftaucher“ (so las ich es einmal in den Lübecker Nachrichten) die Insel aufgegeben? Nein, keineswegs. Noch mehr Kormorane, als ich in Erinnerung hatte, hockten auf dem sandigen kahlen Boden der Insel und erfüllten die Luft mit ihrem dumpfen Gekrächze. Es war ein trauriger Anblick. Hatten vielleicht Fischer den Baum gestutzt, um den Tieren die Nistplätze zu nehmen? Das Verhältnis dieser Berufsgruppe zu den Kormoranen war doch wahrlich nicht von Harmonie geprägt. In der Mitte des Sees gab es noch eine ausreichend große eisfreie Fläche, die den schwarzen Vögeln genügend Möglichkeiten zum Jagen gab.
Barbara wollte gern noch einen Abstecher durch den Mechower Wald machen, weil ich ihr erzählt hatte, dass sich dort vom Nordrand aus ein prachtvoller Blick auf die sieben Kirchtürme von Lübeck bot. Zu meinem Glück war das Waldgebiet saisonal gesperrt, weil sich dort seit einigen Jahren zwei Seeadlerpaare ihre Horste errichtet hatten. Mir war es nur recht, schmerzte mir das Knie nun doch in sehr unangenehmer Weise. Ich erzählte Barbara noch nichts davon, wollte aber so schnell wie möglich das Bein ruhig legen.
Die Fahrt am Westufer des Sees ließ mich die Schmerzen vergessen. Eine fast endlose Reihe von Kopfweiden säumte die Wasserkante und ließ die Eisflächen und das offene Wasser mit der blassen Bläue fast unwirklich wirken. Inzwischen war ein böiger Südwind aufgekommen, der mir die Fahrt sehr erschwerte. Unglücklicherweise gab es keine direkte Wegverbindung von Mechow nach Dargow, so dass wir den weiten Umweg über Mustin in Kauf nehmen mussten. Barbara war davon keineswegs enttäuscht, war ihr doch beim Radfahren kein Weg zu lang. Bei mir sah die Sache anders aus: Während der letzten Kilometer konnte ich nur noch mit dem rechten Bein treten – eine Belastung des linken Knies verursachte fast unerträgliche Schmerzen.
In der Wohnung zerrte ich mir die inzwischen zu eng gewordene Hose herunter und legte mich aufs Sofa.
„Barbara, du musst heute kochen.“ Sie schaute mich erstaunt an. „Ich kann überhaupt nicht mehr auf dem linken Bein stehen.“
„Ich würd`s ja gern tun, aber wovon denn bitteschön? Wir haben doch keinen Fitzel mehr im Haus.“
„Oh, Scheiße! Stimmt ja. Nun, dann hungere ich eben bis morgen früh.“ Trotz der Schmerzen war ich noch der optimistischen Meinung, morgen mit dem Rad nach Hamburg fahren zu können. Erschöpft schloss ich die Augen und war auf der Stelle eingeschlafen.
Mich weckte der Geruch von Salami und Oregano. Barbara wollte im Gegensatz zu mir nicht darben, war ins Büro des Schoppenhofs gestiefelt und hatte dort telefonisch bei einem Pizzaservice in Ratzeburg ungeachtet der hohen Lieferkosten zwei Wagenräder mit extra viel Salami, Peperoni und Champignons bestellt. Pizza von Smiley – begeistert war ich zunächst nicht, schließlich hielt ich mich für einen der besten Pizzabäcker nördlich der Alpen. Hätte sie nicht etwas anders bestellen können? Natürlich machte ich ihr keine Vorwürfe, im Gegenteil: Ich lobte sie für ihre Mühe, uns etwas Essbares zu besorgen. Nach dem Essen machte mir Barbara noch einen Umschlag mit Eiswürfeln um das bedenklich angeschwollene Knie und meinte abschließend tröstend:
„Wer kann schon mit einem Medizinball Fahrrad fahren?“
Anja die Zweite
Der Morgen war furchtbar. Die Schmerzen im Knie hatten sich zu einem wahren Höllenfeuer entwickelt, und ich erkannte mit Schrecken, dass ich keine Chance hatte, das Bein in eine Hose zu stecken. Doch das Schlimmste war die Erkenntnis, dass ich auf gar keinen Fall mit dem Rad fahren konnte. Ich war schier verzweifelt. Barbara sah die Sache viel pragmatischer und bestellte kurzerhand im Büro ein Großraumtaxi in Ratzeburg und vergaß auch nicht den Hinweis, dass neben uns auch noch zwei Fahrräder und etliche Gepäckstücke zu transportieren seien. Die Wartezeit auf das Taxi nutzte Barbara, das linke Bein meiner weitesten Jeans aufzuschneiden, mir die Hose über zu streifen und sie notdürftig mit Sicherheitsnadeln zu verschließen. War ich denn Anja die Punkerin?
Die arme Barbara hatte die gesamte Last zu tragen, unsere Siebensachen und die Räder zum Taxi zu tragen und zu verstauen. Der Fahrer war keine große Hilfe. Er stellte sich so ungeschickt an, dass ich mich fragte, wie dieser junge Mensch denn bloß im Leben zurecht kommen sollte. Das Schwierigste war das lebendige Gepäckstück Michi, der mit dem linken Bein überhaupt nicht mehr auftreten konnte, ohne in einen Schreikrampf zu verfallen. Mit bewundernswerter Ausdauer schaffte es Barbara mit ihren 155 Zentimetern, mich die Treppe hinunter zum Taxi zu bugsieren und sicher auf den Sitz zu betten. Nein, wir wollten uns nicht nach Hamburg kutschieren lassen, das war uns nun doch zu teuer. Wir hatten vor, in Ratzeburg den Zug nach Lübeck zu nehmen und von dort nach Hamburg zu gelangen. Bei der Einmündung der Seestraße in die Landesstraße 203 bog ein aus Richtung Ratzeburg kommender Trabi ohne Rücksicht auf Verluste links auf unsere Straße ein und schnitt die Kurve dergestalt, dass sich der Taxifahrer nur mit einem halsbrecherischen Manöver auf einen schmalen Waldweg retten konnte. Seine Vielfalt an Flüchen stand der von Barbara um nichts nach.
In Ratzeburg stand der Zug abfahrbereit am Bahnsteig. Wir hätten uns beeilen müssen, um ihn noch zu erreichen. Da war ich nun ein unüberwindliches Hindernis. Also ließen wir die Bahn sausen und nahmen erst einmal im Bahnhofscafè ein reichhaltiges Frühstück ein. Züge nach Lübeck gab es doch genug.
War schon das Einsteigen in Ratzeburg eine Qual gewesen, war das Umsteigen in Lübeck eine wahre Tortur! Dieser alte, halb verfallene Bahnhof wies weder Rolltreppen noch Aufzüge auf, Barbara musste also mich, die Räder und das gesamte Gepäck die Treppen hinauf und hinunter schleppen. Der Zug aus Ratzeburg hielt selbstverständlich an einem anderen Bahnsteig als der nach Hamburg. Keine Frage: Auch diesen Anschluss verpassten wir. Es war mir inzwischen alles gleichgültig, die Schmerzen nahmen mich vollkommen gefangen. Ich saß auf einer unbequemen Holzbank, während Barbara hin und her lief und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Sogar zum Lesen fehlte mir die Energie. Statt dessen beobachtete ich das Leben auf dem Bahnhof, wenn in diesem Fall von Leben gesprochen werden konnte. Dieser vom Verkehrsaufkommen größte Bahnhof Schleswig-Holsteins (bedeutender sogar noch als der der Landeshauptstadt Kiel) war einfach eine Schande für diese stolze Stadt! Er war tot, einfach tot. Nur zur vollen Stunde, wenn sich die Züge aus den verschiedenen Richtungen trafen, wälzten sich die Menschen die Treppen hinauf und hinunter. Die Wandelhalle war ein Torso ohne Leben, denn wer wollte sich in einer trostlosen Umgebung ohne Ablenkungsmöglichkeiten aufhalten? Auf dem Maschendrahtzaun außerhalb der Bahnhofshalle, der das Gelände zum Stadtteil St. Jürgen abgrenzte, saß unbeweglich ein rotbraunes Eichhörnchen sitzen.
Während ich fast teilnahmslos durch die Gegend starrte, fiel mir eine zierliche junge Frau mit riesiger Wollmütze auf, die mit einer weiten Hose und elegantem Wollblazer bekleidet die Treppe zu unserem Bahnsteig herunter kam. Sie schleppte einen großen Rollkoffer mit sich. Das Gesicht der Frau kam mir bekannt vor, ich konnte es nur nicht einordnen. Außerdem stimmte irgend etwas mit diesem Antlitz nicht. Doch was nur? Ich wandte mich ab und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später hörte ich hinter mir die Rollen des Koffers über den unebenen Boden rattern. Plötzlich hörte das Geräusch auf. Ich vernahm einige vorsichtige Schritte und dann eine Stimme:
„Ich hab` sie gerade abgelegt, und jetzt fängst du mit dem Scheiß an!“ Diese Stimme kannte ich doch! Natürlich, das war Anja, Anja vom Bauernhaus in Neu-Horst! Erstaunt riss ich die Augen auf. Das stand sie vor mir in ihrer weiten Hose, dem eleganten Blazer und der viel zu großen Wollmütze. Jetzt wusste ich auch, was mit ihrem Gesicht nicht stimmte: Es war nicht eine Spur von Piercing darin zu entdecken. Die einstigen Löcher der Sicherheitsnadeln und anderer Accessoires metallischer Natur waren dezent überschminkt. Sie war wirklich eine Schönheit. Auch ihre Stimme war verändert: Ich vernahm nicht die leiseste Andeutung eines Lispelns. Anja setzte sich neben mich.
„Mensch, Michi, das ist ja überhaupt kein Piercing,“ rief sie aus, „das ist ja wohl der allerletzte Versuch, eine Hose zu flicken! Hättest du das nicht einem geschickteren Menschen überlassen können?“ Ich sagte ihr nicht, dass Barbara sich wirklich alle Mühe gegeben hatte, die gedankenverloren auf die Eichenschwellen der Gleise stierte. Sie hatte Anja noch nicht bemerkt. Der Teergeruch des Holzes erfüllte die gesamte Wartehalle.
„Erzähl` doch mal, wie ist es euch ergangen, besonders als es so unmenschlich kalt war!“ Damit schlug sie mir auf den den linken Oberschenkel. Ich brüllte einfach los. Das Eichhörnchen machte einen überraschten Satz nach hinten und verschwand hinter dem letzten Stahlpfeiler der Bahnhofshalle. Barbara drehte sich erschrocken um und rannte auf uns zu. Sie wollte gerade wütend auf Anja einkeifen, da erkannte sie sie. Dennoch klang sie nicht wirklich freundlich, als sie ihr vorwarf:
„Du kannst dem Menschen doch nicht aufs Knie hauen, wenn er sich gerade die Kniescheibe zertrümmert hat!“ Eine maßlose Übertreibung – bei einer tatsächlichen Patellafraktur hätte ich es wohl kaum bis zum Lübecker Hauptbahnhof geschafft. Tatsächlich böse war Barbara nicht, zu groß war die Freude über das Wiedersehen. Dafür schaute Anja jetzt schuldbewusst drein und fragte, was denn passiert wäre.
„Wenn du auch nach Hamburg fährst, erzählen wir es dir in der Bahn. Aber der Zug kommt jeden Moment, wir müssen sehen, diesen Krüppel hier in den Waggon zu schaffen.“ Gerade wegen ihres Feingefühls und ihrer Sensibilität mochte ich Barbara. Als ich auf einen Fensterplatz verfrachtet, das Gepäck verstaut, die Räder sicher befestigt waren und uns Anja einen Kaffee aus dem Automaten geholt hatte, konnten wir endlich unsere Erlebnisse schildern. Daran war ich jedoch überhaupt nicht interessiert, ich wollte viel mehr wissen, welche Veränderung mit Anja vorgegangen war und vor allen Dingen: warum? Ich fragte sie direkt danach. Ihre Antwort klang zunächst höchst seltsam:
„Der Winter ist noch lange nicht vorüber, und ich wünschte, die Stachelbeeren möchten in meinem Garten blüh`n. Wir gingen ohne viel Tücher und Umhang dahin, als sei es plötzlich Frühling geworden.“
„Und du gönntest dem Pastor den Traupfennig nicht.“ fiel ihr Barbara ins Wort. Anja blickte sie mit leuchtenden Augen an. „Du kennst den Schimmelreiter?“
„Michi hat mir die gesamte Novelle an etlichen Abenden vorgelesen. Es war spannender als jeder Krimi.“
„Ich verehre Storm. Ich habe fast das Gefühl, den Schimmelreiter auswendig zu kennen.“
„Lass` mich mal überlegen:“ Barbara zog die Stirn kraus. „Du hast einen Freund in Marburg und möchtest eigentlich auf der einen Seite mit ihm zusammen bleiben, auf der anderen aber doch nicht, weil dabei die Gefahr besteht, dass du dich dabei aufgibst.“
Anja blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. Dabei sah ich, dass auch das Zungenpiercing nicht mehr vorhanden war. Daher vielleicht die Aussprache ohne Lispeln? „Erzähltest du nicht, dass du Tischlerin seist? Wer studiert denn hier Psychologie?“ fragte sie schließlich.
„Nicht jede Handwerkerin ist auch gleich stumpf und blöde!“ versetzte Barbara. Ich konnte ein Lied davon singen. Sie war unglaublich versessen auf Bücher und konnte es auf den Tod nicht ausstehen, etwas nicht zu verstehen oder zu wissen. Wenn sie einmal von einem Thema gepackt war, ließ sie nicht eher Ruhe, bis ihr Wissensdurst gestillt war.
„Wie kommst du darauf, dass ich in Marburg einen Freund und Angst davor habe, weiter mit ihm zusammen zu sein?“ fragte Anja.
„Na, hör` mal!“ empörte sich Barbara. „Du erzählst vom kommenden Frühling und dass du dich darauf freuen würdest. Du bist so verliebt in deinen Freund, dass euch beim Zusammensein auch du ärgste Kälte nichts ausmacht. Dennoch siehst du mit ihm keine Zukunft. Du hast mir nicht widersprochen, als ich behauptete, dass du dem Pastor den Traupfennig nicht gönntest. Ich kenne den Schimmelreiter noch viel besser, als Michi ahnt. Ich vermute sogar, warum du keine Zukunft mit deinem Freund siehst. Doch das solltest du besser selbst erzählen.“
„Okay, mach` ich gern. Aber dafür wird wohl die Fahrzeit nach Hamburg nicht ausreichen. Meine Umsteigezeit für den Intercity nach Marburg ist ohnehin äußerst knapp bemessen. Ich nehme eben den nächsten Zug zwei Stunden später, ihr führt mich in ein gemütliches Cafè im Hauptbahnhof, und wir klönen weiter.“
Ein gemütliches Cafè im Hamburger Hauptbahnhof? Ich musste lachen. Wir waren doch nicht in Zürich oder Kopenhagen! Doch eine andere Örtlichkeit kam wegen mir, der Räder und des Gepäcks kaum in Frage. Also bissen wir in den sauren Apfel und bezogen Quartier im Le Cro Bag auf dem Südsteig. Zumindest hatten wir dort unsere Habseligkeiten im Blick. Anja ließ sich nicht lange bitten.
„Eigentlich könnte ich Barbara erzählen lassen, die weiß doch ohnehin schon alles. Aber nun gut: Es stimmt – ich habe einen Freund in Marburg. Wir wohnen allerdings nicht zusammen wie ihr. Ich wollte es nicht, er schon. Ich habe eine kleine Wohnung in der Altstadt, die mir so lieb und teuer ist, dass ich auf keinen Fall dort raus möchte. Ich brauche dieses kleine Stück Freiheit. Ihr habt ja meine Eltern kennen gelernt. Sie wollten die Miete für die Wohnung übernehmen, in einem Überschwang von Größenwahn mir sogar als Eigentumswohnung schenken. Abgesehen davon, dass das überhaupt nicht möglich ist, will ich es auch nicht. Ebenso wie die Übernahme der Miete durch meine Eltern. Ich möchte nach Möglichkeit selbst mein Leben gestalten können, und dann muss ich auf eigenen Füßen stehen. Schlimm genug, dass meine Eltern den mir zustehenden BaföG-Betrag wegen ihrer Vermögenslage selbst aufbringen müssen. Ich habe ein permanent schlechtes Gewissen deswegen. Deshalb kommt es für mich überhaupt nicht in Frage, dass sie auch noch die Miete übernehmen. Also muss ich mir etwas dazu verdienen. Und was macht eine junge Frau, die noch keinerlei Ausbildung hat? Richtig: Tresenschlampe! Das ist teilweise ganz schön stressig, weil ich fünf Schichten die Woche mache. Ihr habt ja meine Aufmachung in Neu-Horst gesehen. So etwas kommt in den angesagten Kneipen von Marburg richtig gut an. Das war aber nicht der Grund, warum ich so aussah. Es war mehr eine Auflehnung gegen meinen Freund, der unglaublich dominant ist. Er ist einfach besessen von seiner Arbeit und der selbstverständlichen Meinung, dass ich ihn in jeder Beziehung unterstützen müsse. Tonio forscht im Fachbereich Pharmazie mit fast schon pathologischer Manie nach einem Impfstoff gegen Malaria. Ich will euch nicht mit den Einzelheiten langweilen, es reicht, dass mein Kopf voll mit Fachbegriffen, möglichen Nebenwirkungen und Erregertypen ist. Wenn er die Uni verlässt, ist für ihn noch lange nicht Schluss. Wenn wir zusammen sind, sei es im Cafè, der Kneipe, im Konzert und sogar im Bett – es geht immer nur um diesen verdammten Impfstoff! Dabei geht es ihm überhaupt nicht um den Ruhm, der Entdecker des ersten wirklich umfassenden und wirksamen Mittels der Malariavorbeugung zu sein. Ich nehme ihm ab, dass er wirklich helfen will, sonst wäre ich auch nicht mit ihm zusammen. Doch seine Obsession ist so dominierend, dass ich daneben buchstäblich verkümmere. Das will ich nicht! Um mich abzugrenzen, spielte ich sogar die Punkerin mit dem Nachteil, nicht mehr richtig sprechen zu können. Tonio hat es überhaupt nicht wahr genommen! Ich war weiter sein Anhängsel, seine Fläche, die ihn selbst reflektierte. Dabei mag ich ihn doch, ich mag ihn sehr. Er ist höchst intelligent, kann umwerfend charmant sein, sieht wirklich für meinen Geschmack außergewöhnlich gut aus, ist als Liebhaber zärtlich und mitreißend – was will ich denn noch mehr? Hier kommt wieder Theodor Storm ins Spiel: Ich will nicht so sein wie Elke Haien! Bin ich denn nichts Eigenes wert?
Wenn ich heute Abend zurück in Marburg bin, stelle ich ihn sofort zur Rede und verlange von ihm, dass er seinen blöden Impfstoff gefälligst im Institut zu lassen habe, nicht nur materiell, sondern vor allen Dingen ideell. Meinetwegen soll er doch in Kneipen und Cafès über Tafenoquin, Plasmodienformen und Malaria-Antigene diskutieren, aber nicht mehr mit mir. Wenn er das nicht will, können wir uns eben nicht mehr treffen, so schwer mir das auch fällt. Ich hoffe nur, dass ich standhaft genug bleibe, er kann nämlich wirklich sehr verführerisch sein, gerade wenn es um seine Interessen geht. Deshalb habe ich jetzt auch die Punkermaskerade abgelegt und will wieder so sein, wie ich mich am wohlsten fühle. Wünscht mir viel Glück!“ Damit drückte sie gedankenverloren mein linkes Knie. Wunderbar. Diesmal brüllte ich nicht den Bahnhof zusammen.
Wir verabschiedeten uns auf dem Südsteig. Niemand wollte es mir zumuten, am wenigstens ich, die Quälerei hinunter zum Bahnsteig auf mich zu nehmen.
Es war wirklich keine Patellafraktur, sondern lediglich eine allerdings heftige Prellung der Kniescheibe. Drei Wochen Ruhe, während der sich Barbara rührend um mich kümmerte, brachten die Sache wieder in Ordnung.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.07.2015.
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