Christa Astl

Das Märchen vom Gefleckten Knabenkraut

 
 
Es war einmal ein Knabe, dem waren beide Eltern gestorben. In der Stadt kamen elternlosen Kinder in ein Waisenhaus, am Land wurden sie von Bauern aufgenommen, die sie meist als billige Arbeitskraft ausnutzten. Sie bekamen wenig zu essen, viel Arbeit und zahlreiche Schläge.
Der Knabe Gottfried hatte einen gar bösen, hartherzigen jähzornigen Herrn bekommen. Mehr Schläge als Essen bekam er dort, viele blaue Flecken und dunkle Narben an seinem Körper zeugten davon. Weinte und schrie er, wurde er noch mehr geschlagen, von den Frauen aber ausgelacht. Oft lief er in den nahen Wald und da wo er am dichtesten war, legte er sich hin und weinte bitterlich.
Einmal aber war er dort eingeschlafen und kam zu spät zur abendlichen Stallarbeit zurück. Da ergriff der böse Bauer die Mistgabel und schlug sie in blindem Zorn auf den Knaben ein, bis der bewusstlos am Boden lag. Der Bauer ließ ihn einfach liegen.
In der Nacht erwachte Gottfried. Mit größter Mühe gelang es ihm sich halbwegs aufzurichten. Alle Knochen taten ihm weh, Blut rann über die Stirn und nässte sein Hemd. Jede Bewegung schmerzte und er konnte kaum atmen. Fort wollt er, nur fort. Langsam setzte er Fuß vor Fuß, hinein in den dunklen Wald. An seinem Lieblingsplatz brach er erschöpft zusammen. Immer noch rann das Blut, und er konnte kaum mehr Luft holen. Ermattet schlief er ein. Oder war es eine Ohnmacht, die ihn gnädig aufnahm?
Plötzlich hört er ein feines Klingen, die kleine Lichtung, wo er lag, leuchtete in zartem rosa Licht. Ein Mädchen in hellem, zartlila gemusterten Kleid, das bis zum Boden reichte, stand vor ihm und streckte die Hand aus. "Ich bin die Seelenfee und habe gesehen, was der Mann mit dir gemacht hat. Ich will dich mit mir nehmen, dorthin wo es keine Schmerzen und kein Leiden mehr gibt. Den Menschen aber will ich eine Antwort hier hinterlassen." Zart blies das Mädchen auf die Wunden des Knaben. Wie wohl das tat, ewig wollte er so liegen und nie mehr aufwachen!
Und er wachte auch nicht mehr auf, die Seelenelfe führte seine Seele aus dem zerschundenen Körper und nahm sie mit in das Land, wo ewige Freude, Glück und Frieden herrschten.
Am nächsten Abend fanden Holzfäller, die auf dem Heimweg waren, seine Leiche und begruben sie im Wald. Als sie in der folgenden Woche wieder zu der Stelle kamen, leuchtete ihnen eine Blume entgegen: Die grünen Blätter hatten dunkle, bläuliche Flecken, die wie Verletzungen aussahen, eine rosa Blüte wuchs daraus empor, wie das Kleid der Fee, welche die Seele des Knaben mit empor genommen hatte.
Der Bauer scherte sich nicht um den Verbleib des Knaben, er war sogar froh, einen Esser weniger zu haben. Doch die folgenden Nächte wurde er von bösen Träumen geplagt. Immer wieder hörte er das ferne Weinen eines Kindes, konnte sich aber nicht erklären, woher. Plötzlich begann er an Gottfried zu denken und machte sich Sorgen, was mit ihm geschehen sei. Als er wieder das nächtliche Weinen vernahm, stand er auf, um der Stimme zu folgen. Kreuz und quer durch Haus und Stall, sogar auf das Feld, führte sie ihn, an all die Orte, wo er den Knaben misshandelt hatte. Mit grausamer Deutlichkeit erinnerte der Bauer sich an diese Momente, doch er konnte den Knaben nirgends finden. Erst als die Kunde der Holzfäller auch zu ihm gedrungen war, machte er sich auf, zur kleinen Lichtung im Wald zu gehen, wo Gottfried seine letzte Ruhestätte bekommen hatte. Da war der Platz voll von Blumen mit den gefleckten Blättern, die anklagend ihre hellen Blütenfinger zum Himmel hoben.
Tiefe Reue erfasste den Bauern da, nachts lag er schlaflos im Bett und lauschte auf das ferne Weinen, und sah das Bild des bewusstlosen Kindes vor sich, sobald er in den Stall ging. Der Mann wurde still und traurig, alle Freuden des Lebens gingen an ihm vorüber. Den Anblick von Kindern konnte er nicht mehr ertragen, nicht einmal die eigenen wollte er sehen. Im Winter hatten bereits alle Angst, der Bauer würde sterben, so schlecht ging es ihm.
Erst als ihm im Frühjahr der Bürgermeister wieder einen Knaben brachte, den er auf seinem großen Hof aufnehmen sollte, hörten seine bösen Träume auf und er begann, all seine noch vorhandene Liebe dem fremden Kind zuzuwenden und nahm es in seine Familie wie ein eigenes auf.
 
Das "gefleckte Knabenkraut", eine Orchideenart,  findet man bei uns zwischen Mai und August in kalkfreien lichten Wäldern.
 
 
 
ChA 10.07.15

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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