Wasserlabyrinthe
Während ich am Morgen den Kaffee in der mir gewohnten Art zubereitete, schaute ich interessiert zu, wie es mein Zeltnachbar machte. Er kochte Wasser in einem Topf, spannte ein leicht durchhängendes Geschirrtuch über einen zweiten Topf, löffelte darauf den gemahlenen Kaffee und goss langsam das kochende Wasser darüber. Ich muss nicht beschreiben, wie das Geschirrtuch aussah. Es war schon über zwei Wochen in Gebrauch und hatte keine Waschmaschine und keinen Waschtrog gesehen. Ich bereitete mir den Kaffee so, wie ich es einmal in Polen kennengelernt hatte: einen Esslöffel grob gemahlenen Kaffee in den Kaffeebecher geben, mit kochendem Wasser auffüllen, einmal umrühren, einige Minuten warten, ein zweites Mal umrühren, einige Minuten warten, fertig. Der Kaffeesatz hatte sich nun gesetzt. Ich kannte keine Art der Zubereitung, bei der mir der Kaffee besser schmeckte. Ich machte mir ein ausladendes Frühstück, denn ich wollte den gesamten Tag auf dem Wasser verbringen und wusste nicht, wie es mit den Verpflegungsmöglichkeiten unterwegs aussah. Zur Sicherheit packte ich noch genügend Vorräte für ein reichhaltiges Picknick ein. Zum Bootsverleih waren es wirklich nur einige wenige Schritte. Der Bootsverleiher war in keiner Weise überrascht, dass ich als Einzelperson einen Zweierkajak haben wollte. Er kannte das schon. Länge läuft. Zudem kommt ein solches Kajak nicht so leicht vom Kurs ab wie ein Einer. Die schwere Packtasche platzierte ich im Bug, um einigermaßen für einen Gewichtsausgleich zu sorgen. Im Heck setzte ich mich auf meine Tasche mit dem eingerollten Schlafsack, damit ich beim Paddeln die Arme nicht zu hoch heben musste - einer der vielen Tipps meines Zeltnachbarn. Der Mann vom Bootsverleih gab mir noch eine wasserdicht eingeschweißte Karte der Gewässer mit, auf denen auch einige Tourenvorschläge eingezeichnet waren. Schließlich gab es in dem knapp über dreitausend Quadratkilometer großen Gebiet Fließe mit einer Gesamtlänge von fast eintausend Kilometern.
Nach der Ausfahrt aus dem kleinen Hafen wandte ich mich zunächst nach rechts in Richtung Lübbenau. Nach wenigen hundert Metern hatte ich bereits die erste Schleuse erreicht. Es begann eine Prozedur, die ich noch etliche Male ausführen sollte: ich band das Boot vor dem unteren Schleusentor fest, damit die schwache Strömung es nicht forttrieb, kletterte zum Tor hinauf und öffnete das untere Schütz, wie die Ventile in den Schleusentoren genannt werden. Ich wartete, bis der Wasserstand der vorher gefüllten Schleusenkammer auf das Niveau meines Bootes gesunken war, dann konnte ich das Tor öffnen. Ich stieg in das Kajak, paddelte in die Kammer und machte es wieder fest. Ich schloss das untere Tor und das Schütz, ging zum oberen Wehr und öffnete dort das Ventil. Als das Wasser den stromaufwärts herrschenden Pegel erreicht hatte, öffnete ich die oberen Schleusentore mittels einer Handkurbel und Zahnstange. Jetzt konnte ich die Schleuse wieder verlassen.
Nach einer kurzen Strecke gelangte ich in den Kahnhafen von Lübbenau. Dutzende von Fährkähnen lagen dort, die jeweils zwanzig bis dreißig Passagiere fassten. Wegen der frühen Stunde waren die flachen Kähne noch vertäut. Die ersten Besucher standen jedoch bereits an der Anlegestelle. Ein gelb gekennzeichneter Kahn schob sich langsam an mir vorbei, gestakt von einer stämmigen Frau in den Vierzigern. Es war tatsächlich der Postkahn. Die Post wurde vom Frühjahr bis Herbst in den Dörfern Lehde, Leipe und noch einigen anderen wirklich auf dem Wasserwege zugestellt. Bis in die Sechzigerjahre war es auch gar nicht anders möglich. Die Ortschaften waren von Land überhaupt nicht zu erreichen. Erst in den letzten dreißig Jahren wurden sie allmählich von Straßen und Wegen erschlossen. Wenn auch jetzt jedes Dorf mit dem Auto oder Fahrrad erreichbar ist, wird das Wasser als Transportweg immer noch genutzt. Nicht nur für die Post, nein, auch für Waren aller Art, besonders für die Produkte der angesiedelten landwirtschaftlichen Betriebe. Nur im Winter, wenn teilweise Eis die Fließe unpassierbar macht, wird der Landweg gewählt. War es da ein Wunder, dass ich kurz nach Verlassen von Lübbenau an einer Wasserkreuzung tatsächlich Hinweisschilder in Richtung der einzelnen Orte entdeckte? Und nicht nur Ortsbezeichnungen sah ich, sondern auch Tafeln, die die jeweiligen Richtungen zur Bäckerei, zum Schlachter, zum Lebensmittelgeschäft und natürlich zum Postamt angaben.
Ich hatte mich entschieden: ich wollte der Hochwaldtour folgen, der längsten der vorgeschlagenen Strecken. Dies bedeutete, nun einige Stunden gegen die Strömung an zu paddeln. Keine besonders große Anstrengung, denn die Fließgeschwindigkeit war recht gering. Zunächst ging es noch an noch durch besiedelte Gebiete. An den Ufern lagen die Bauernhöfe, dazwischen die Wiesen, Weiden und Äcker, ab und zu ein dazwischen gestreuter Wald. Am Uferrand standen häufig Körbe und Tische mit den Produkten der Umgebung, hauptsächlich natürlich mit den berühmten Spreewälder Gurken. Allmählich wurde der Wald dichter, und ich gelangte in ein Gebiet, dass der Tour ihren Namen gab. Es war ein richtiger dichter Hochwald. Die ausgefransten Ufer der Fließe waren unterspült und ließen den Blick auf knorrige Baumwurzeln frei. In dieses Schutzgebiet durfte kein Mensch eingreifen. Wenn ein Baum einmal umfiel, dann blieb er eben dort liegen.
Ich suchte nach einem geeigneten Picknickplatz. Der Wald reichte so dicht an die Ufer, dass es dort keine freien Stellen zum Niederlassen gab. An einer der zahlreichen Schleusen fand ich endlich eine kleine Lichtung, die groß genug war. Ich hievte meine Sachen aus dem Kajak und breitete mich aus. Sofort wurde ich von Mücken fast aufgefressen! Myriaden von ihnen schwirrten um mich herum. Mir blieb nur eine Wahl: die Flucht ergreifen! Hastig raffte ich meine Picknickutensilien zusammen, stieg ins Boot und paddelte in die Mitte des Flusses. Dort hatte ich Ruhe vor den Quälgeistern. Die Radler hatten mich gestern Abend zwar vor den Stechmücken gewarnt, ich hatte dem jedoch keine große Bedeutung zugemessen. Aber was nun? Auf dem Boot wollte ich kein Picknick veranstalten. Mir war das Anzünden des Trangiabrenners in einem schwankenden Kajak zu gefährlich. Ich schaute auf die mitgegebene Karte. In geringer Entfernung sollte es eine Gastwirtschaft geben. Eine Gastwirtschaft mitten im Spreewald? Ich paddelte darauf zu. Und tatsächlich: nach einiger Zeit überspannte eine Holzbrücke den Fluss, an der ein großes Plakat aufgespannt war. „Gaststätte Wotschofska“ war dort zu lesen. Gleich hinter der Brücke lag eine langgestreckte Anlegestelle, an der bereits zehn bis fünfzehn vertäute Kajaks und Kanus lagen. Ich machte mein Boot ebenfalls dort fest, überquerte die Holzbrücke und fand mich in einem enorm großen Gartenlokal wieder, das auch noch einen riesigen Innenraum hatte. Aus diesem Grund hatten die zahlreichen Gäste auch keine Platzprobleme. Ich fand einen Tisch am Ufer und schaute in die Speisekarte. Deftig und gut bürgerlich. Schön. Ich wählte Schweinebraten mit Klößen und ungewöhnlicher Weise Spitzkohl. Spitzkohl zu Schweinebraten? Na, ja, die Grenze zu Polen war ja nicht weit. Es schmeckte herrlich, besonders der Kohl hatte es mir angetan. Er hatte einen ganz eigenen Geschmack, als ob er angeschmort worden wäre. Egal. Beim Verlassen schaute ich mir eine Informationstafel an. Der Name „Wotschofska“ stammte von der sorbischen Bezeichnung für Insel ab. Und eine Insellage lag hier tatsächlich vor. Das Lokal war nur zu Fuß, mit dem Rad und natürlich über das Wasser zu erreichen.
Die weitere Fahrt war wie ein Traum aus einer anderen Welt. Der Wald war jetzt noch dichter, ragte noch weiter an die Ufer heran. Ich fuhr durch einen dunkelgrünen Tunnel. Die Zweige und Äste der hoch aufragenden Bäume berührten sich etliche Meter über mir. Nur ein diffuses Licht erreichte die Wasseroberfläche und sorgte für eine fast gespenstische Atmosphäre. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper in dieser menschenleeren Welt. Leise und behutsam setzte ich die Paddel in das Wasser. Ich wollte hier nicht stören. Von der Gastwirtschaft „Wotschofska“ bis zum weitesten Punkt der Tour traf ich nicht einen weiteren Paddler. Wo waren denn all die anderen Wassersportler, die ich dort gesehen hatte, hingefahren? Mich störte es nicht, ich genoss es, hier allein zu sein. Unmengen von Vögeln bevölkerten die Wipfel und das niedrige Unterholz. Von dort hörte ich auch so manches Rascheln und Knacken. Trotz aller Anstrengung konnte ich jedoch kein Tier entdecken. Plötzlich sah ich auf einem überhängenden Ast einen strahlend blauen Fleck. Ein Eisvogel! Ich hatte ihn erst ein Mal in meinem Leben in freier Wildbahn gesehen, nämlich auf der Wakenitz zwischen dem Ratzeburger See und Lübeck. Langsam und vorsichtig näherte ich mich dem Vogel. Als ich noch etwa zehn Meter entfernt war, machte er einen Satz und tauchte pfeilschnell ins Wasser, um kurz darauf mit einem silbrigen Fisch im Schnabel wieder aufzutauchen. Er setzte sich auf seinen Ast und schluckte mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes die Beute hinunter. Erst jetzt schien er mich zu sehen. Er erhob sich in die Luft, flatterte zwanzig Meter weiter und setzte wieder auf einen Ast. Als ich erneut sehr nahe an ihn herangekommen war, flog er wieder weiter. Dieses Spiel wiederholte sich wohl fünf bis sechs Mal. Während dieser Zeit ging er nicht auf Beutejagd. Schließlich wurde es ihm wohl zu langweilig. Er erhob sich, flog hoch über mir zurück und war nach kurzer Zeit verschwunden.
Nach etwa einer Stunde sah ich einige Meter voraus eine Bewegung auf der fast spiegelglatten Wasserfläche. Ich ließ die Paddel sinken und das Boot treiben. Ein Fischotter streckte vorwitzig die Nase heraus. Ich rührte keinen Muskel. Mit sparsamen Bewegungen näherte sich der schlanke Körper. Ich hatte noch nie zuvor einen Fischotter in freier Natur gesehen. Gespannt verfolgte ich, wie das Tier immer dichter heran kam. Das Wasser perlte in kleinen Tropfen vom dichten Fell ab, wenn der Körper einmal durch die Wasseroberfläche brach. Das Kajak stellte sich allmählich quer zur Strömung und nahm fast die gesamte Breite des Fließ ein. Der Fischotter schien unschlüssig. Ich stellte wohl ein Hindernis auf seinem Weg dar. Plötzlich ein schneller Schlag mit dem Schwanz, und das pelzige Wesen glitt unter dem Bootsrumpf hindurch. Auf der anderen Seite tauchte der Otter wieder auf, wandte einmal kurz den Kopf wie um sich zu vergewissern, dass von mir keine Gefahr drohte und nahm seinen Weg Richtung Wotschofska weiter fort.
Erst dort, wo sich der Hauptarm der Spree teilte und ich meinen Endpunkt erreichte, gab es wieder Zeichen von Zivilisation. Ein einladender Gasthof wartete auf mich. Und hier schaukelten auch wieder etliche Boote am Steg. Ich konnte nicht widerstehen. Eine Bratwurst am Gartengrill musste sein.
Zurück fuhr ich auf einem anderen Arm der Spree. Die hier erheblich stärkere Strömung trug mich zügig wieder in Richtung Lübbenau. Jetzt merkte ich, welch wichtigen Tipp mir die Radler gestern Abend nicht gegeben hatten: ich hatte von der ungewohnten Bewegung mit den Paddeln große Blasen an beiden Handballen. Ich hätte Handschuhe anziehen sollen. Inzwischen schmerzten die Stellen sehr unangenehm. Als ich endlich wieder in belebtere Gewässer kam, fragte ich die Passagiere eines an mir vorbei ziehenden Spreewaldkahns nach Heftpflaster. Zum Glück hatte eine ältere Frau welches dabei. Sie reichte mir drei große Stücke herüber. Ich stach die Blasen auf, presste die Flüssigkeit heraus und klebte die Pflaster darüber. Welch eine Wohltat! Mir war gar nicht bewusst geworden, wie sehr die Stellen schon geschmerzt hatten. Als ich wieder das Paddel ergriff, war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Den Rest der Fahrt konnte ich also noch mehr genießen. Jetzt herrschte ein reger Kahnverkehr auf dem Flusslauf. Die Spreewaldkahnkapitäne – so heißen die wirklich, Frauen waren auch darunter – stakten die ungefähr zehn Meter langen Boote langsam durch das flache Wasser. Ich wollte nicht immer hinter ihnen her trödeln und versuchte mich im Überholen. Da war aber Vorsicht geboten. Wenn während eines solchen Manövers ein Kahn entgegen kam, konnte es nur noch heißen „Volle Kraft zurück!“ Für zwei Kähne und ein Kajak war auf dem engen Fließ kein Platz. Jetzt waren auch wieder die leckeren Dinge bei den Gehöften zum Verkauf am Ufer aufgestellt. Ich kaufte mir einen Eimer Knoblauchgurken mit zweieinhalb Kilo Inhalt. Ich nahm im Boot den ersten Bissen von einer Gurke. Eine Geschmacksexplosion breitete sich in meinem Mund aus. Was waren das denn für Gurken!? So etwas hatte ich noch nie genossen. Ich verschloss den Eimer wieder und machte mich an das letzte Stück der Tour. Nachdem ich das Kajak abgegeben hatte, reservierte ich es sofort für den nächsten Tag. Morgen wollte ich das weitverzweigte Flusssystem auf eigene Faust erkunden.
Zurück auf meinem Platz hatte ich wenig Arbeit mit dem Abendessen. Ich aß sämtliche Gurken auf.
Am nächsten Morgen war ich der erste, der beim Bootsverleih an der Tür kratzte. Ich bestieg das reservierte Kajak und paddelte los. Zur Orientierung nahm ich selbstverständlich wieder die Karte mit, wenn ich auch auf eigene Faust das Revier erkunden wollte. Ich suchte mir kleinere Fließe aus, fast ausschließlich Strecken, auf denen ich gestern nicht gefahren war. Zufällig geriet ich am Rand von Lübbenau in ein Gebiet, das offensichtlich das Reich wohlhabender Bürger war. Hier herrschten nicht die Bauernhöfe vor, nein, auf den ausgedehnten Grundstücken standen hochherrschaftliche Villen. An den Ufern waren vielerorts Schilder aufgestellt: „Privatbesitz – Betreten verboten“. Wovor hatten diese Leute Angst? Ich paddelte daran vorbei. Ich fuhr kreuz und quer durch den Spreewald, musste in manchem Lauf umkehren, weil es einfach zu eng wurde, hatte alle Mühe, das Kajak über einer quer über das Wasser liegenden Baumstamm zu hieven, musste mich einige Male flach auf den Bootsboden legen, um unter einem Hindernis hindurch zu gleiten, verfing mich im hohen Schilf nahe Vetschau, erhaschte dort einen Blick auf die mächtigen Schornsteine des Braunkohlekraftwerks, die enorme Dampfwolken ausstießen, befreite mich wieder, wurde von den Mücken auch heute am Picknick gehindert, aß in einer kleinen Flussgaststätte zu Mittag, kaufte erneut Gurken, wurde kurz vor der Rückkehr von einem heftigen Regenguss erfasst und rauschte mit enormem Tempo in den kleinen Kahnhafen, weil ich mir inzwischen eine solide Technik des Kajakfahrens angeeignet hatte.
Nach dem Abendessen legte ich mich ins Zelt und konnte lange nicht einschlafen. Zu sehr beschäftigten mich die Eindrücke der letzten zwei Tage. Ich wusste genau. In den Spreewald würde ich mit Sicherheit wieder zurück kehren. Am nächsten Tag wollte ich weiter zu den Seen der Mark Brandenburg.
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Zu Besuch bei Gerhart Hauptmann
Die Wahl des abgeschiedenen Stellplatzes zahlte sich aus. Am Abend hörte ich kaum etwas vom Lärmen der Country-Fans und Trabi-Fetischisten und schlief wie ein Murmeltier. Deshalb konnte ich auch wieder sehr früh aufstehen und ausreichend frühstücken. Die Mahlzeit war höchst kurzweilig. Buntspechte, Eichelhäher und Eichhörnchen wuselten in unmittelbarer Nähe meines Zeltes herum. Sogar ein rotbrauner Fuchs schlich in etwa zwanzig Meter Entfernung vorbei. Dieser Wald war voller Leben. Bevor ich mich endgültig auf den Weg nach Rügen machte, fuhr ich noch nach Templin hinein. Auch diese Stadt war in meiner Karte als sehenswert gekennzeichnet. Ich war auch schwer beeindruckt. Das Zentrum war von einer Stadtmauer mit drei großen Toren abgegrenzt und wies etliche alte Gebäude auf, obwohl die Innenstadt im Zweiten Weltkrieg zu fast siebzig Prozent zerstört wurde. Templin machte überhaupt keinen verfallenen Eindruck auf mich wie so manch andere Orte in Ostdeutschland. Im Gegenteil, ich fand die Stadt recht lebhaft und ansprechend. Ich setzte mich sogar in eines der vielen Straßencafés und genoss ein zweites Frühstück.
Nun aber wirklich nach Norden! Und wieder fuhr ich durch viel Wald und kam an etlichen Seen vorbei, die auf meiner Karte nicht einmal mit Namen versehen waren. Erst hinter Feldberg begann die Landschaft ein anderes Gesicht anzunehmen. Der Wald wurde weniger. An seine Stelle traten ausgedehnte Weide- und Ackerflächen. Gewässer gab es jedoch weiterhin in großer Zahl. Kurz vor Stargard schaute ich bei einer Zigarettenpause auf die Karte und überschlug die ungefähre Entfernung nach Stralsund. Das waren ja noch über einhundert Kilometer! Und ohne einen verzeichneten Campingplatz. Es war bereits Mittag. Das würde ich vor Einbruch der Dunkelheit niemals schaffen. Auf eine Übernachtung in einer Pension oder einem Gasthof hatte ich keine Lust. Ich hielt Ausschau nach einer Bahnlinie. Ich hatte nämlich in den neuen Bundesländern die Erfahrung gemacht, dass das Streckennetz erheblich dichter war als in der alten Bundesrepublik. Und richtig: bereits durch Burg Stargard verlief eine Linie nach Stralsund. Also eilig dort hin geradelt. Ich fand schnell den Bahnhof und sogar einen geöffneten Fahrkartenschalter. Anderenfalls hätte ich das Ticket eben beim Zugbegleiter gelöst. In zwanzig Minuten sollte der nächste Zug kommen. Wunderbar. Ich stellte mich auf den Bahnsteig, schnallte das Gepäck vom Rad und stapelte es daneben auf. Nachdem der Zug eingelaufen war und ich meine Siebensachen in das Gepäckabteil hievte, fragte mich der Schaffner entgeistert: „Das transportierst du doch nicht alles auf dem Rad?“ Auf meine energische Bestätigung hin verlangte er „Das will ich in Stralsund sehen, wie du das schaffst!“ Von mir aus.
Ich saß in einem Nahverkehrszug, der an wirklich jeder Milchkanne hielt. In ruckeliger Fahrt passierten wir Neubrandenburg, Altentreptow, Demmin, Grimmen und erreichten schließlich am späten Nachmittag Stralsund. Der Zugbegleiter schaute tatsächlich aufmerksam zu, wie ich meine Gepäckstücke auf dem Rad fixierte. Abschließend zeigte er mir den empor gehaltenen Daumen. Ich winkte ihm zum Abschied zu und besorgte mir noch eine Fahrkarte zurück nach Hamburg. In einer Woche wollte ich die Rückfahrt antreten. Ich dachte mir, dass diese Zeit ausreichte, um einmal um Rügen herum zu fahren. Ich hielt mich in Stralsund nicht auf, ich wollte ja noch den Campingplatz in Altefähr auf der Insel erreichen. Leider hatte sich der Himmel inzwischen arg zugezogen und ich hoffte, noch im Trockenen mein Nachtquartier zu erreichen. Auf dem Rügendamm herrschte ein mörderischer Verkehr. Ich war nur froh, einen breiten Radweg benutzen zu können.
Der Campingplatz in Altefähr erwies sich als ein trostloses Gelände ohne Bäume, nur zu erreichen über einen üblen Feldweg voller wassergefüllter Schlaglöcher. Egal, ich wollte ja nur übernachten. Genau in dem Moment, als ich mein Zelt aufgebaut, meine Sachen verstaut und das Kaffeewasser aufgesetzt hatte, begann ein Starkregen. Schnell zog ich mich unter das Vordach zurück und machte mein Abendessen. Mir gegenüber lagerten zwei junge Frauen, deren Zelt so winzig war, dass ein Kochen darin wahrlich nicht möglich war. Tapfer saßen sie im Regen vor dem Zelt, schützten den Kocher mit einem Schirm und kochten sich Ravioli. Lieber einige Kilogramm mehr auf dem Rad mitnehmen und im Trockenen zu Abend essen, dachte ich mir.
Ich wollte nach Hiddensee. Anfang meiner Zwanzigerjahre hatte ich häufig „Stimme der DDR“ und das legendäre DT 64 gehört. Daher waren mir die Worte Nina Hagens noch im Ohr „Wütend stampft mein nackter Fuß den weißen Strand von Hiddensee“. Und das nur wegen eines Farbfilms, den Michael vergessen hatte. Vielleicht fand ich ja Ninas Spuren im Sand. Nach dem Frühstück fuhr ich durch Altefähr, um mir das Dorf anzusehen. Zwei Dinge waren für mich interessant: die ehrwürdige Nikolaikirche und der Hafen. Die Kirche sah ich mir auch hier nur von außen an. Der Hafen faszinierte durch den schönen Blick hinüber nach Stralsund. Der Name Altefähr stammt tatsächlich von der ursprünglichen Bezeichnung „Bei der ollen Fähre“ ab, der bereits Mitte des 13. Jahrhunderts gebräuchlich war. Mit dem Bau des Rügendamms 1936 verlort der Ort an Bedeutung, und der Fährbetrieb wurde eingestellt. Das Dorf machte auf mich wieder einmal einen höchst trostlosen Eindruck.
Um nach Hiddensee gelangen zu können, musste ich zunächst nach Schaprode. Von dort gab es eine Fährverbindung zu der Rügen westlich vorgelagerten Insel. Nun bestand jedoch keine direkte Straßenverbindung von Altefähr nach Schaprode. Dafür musste ich zunächst nach Samtens zurück. Dann konnte ich mir ja auch gleich Bergen im Zentrum von Rügen ansehen, dachte ich mir. Gesagt, getan. Die Straße von Altefähr nach Bergen war auf meiner Karte schwarz gekennzeichnet. Dies bedeutete, dass diese Route gefährlich für Radfahrer war, weil sie eng, sehr stark befahren und nicht mit einem Radweg versehen war. Welcher Verkehr auf dieser Straße herrschte, hatte ich gestern auf dem Rügendamm erfahren. Also näherte ich mich meinem Ziel auf schmalen Wirtschaftswegen, die durch ihre manchmal etwas bizarre Routenführung die tatsächlich zurück gelegten Kilometer im Vergleich zur Luftlinie auf das Doppelte anwachsen ließen. An zwei Stellen musste ich die Hauptstraße kreuzen. Ich musste wirklich höllisch aufpassen, um nicht von einem der extrem rücksichtslosen Autofahrer erwischt zu werden. Ich näherte mich Bergen von Südwesten. Und genau in den angrenzenden Gebieten, nämlich im Westen und Süden der Stadt befanden sich die hässlichsten Plattenbausiedlungen, die ich jemals gesehen hatte. Es war ja nicht nur dieser Baustil, der mich fast depressiv stimmte, nein, auch das Stadium des Verfalls verstärkte diese Stimmung noch. Da nützte es fast nichts, dass der Kern von Bergen, auf einer fast einhundert Meter hohen Anhöhe gelegen, noch fast vollständig erhalten war, weil die Stadt im Zweiten Weltkrieg kampflos kapitulierte. Den höchsten Punkt nahm die Gotische Marienkirche ein, ein etwas gedrungener Bau, der schon von weitem zu sehen war. An einem Marktstand trank ich einen heißen Kaffee und erfuhr von der Bedienung (warum wurden in der ehemaligen DDR die Imbissstände fast ausschließlich von Frauen betrieben?), dass ich auf jeden Fall Hiddensee besuchen solle. Schließlich war diese Insel auch vor 1989 der Vorzeigebadeort der DDR. Sie sagte es nicht ohne Neid in der Stimme. Sie fügte tatsächlich noch hinzu, dass hier in Bergen bisher kaum etwas für die Stadterhaltung und Sanierung unternommen worden sei, auf Hiddensee den Leuten jedoch der Puderzucker geradezu in den Arsch geblasen werde. Die Frau war höchst erfreut über den Wandel des Systems und die Wiedervereinigung. Sie sagte mir, dass vorgesehen sei, auch Bergen in groß angelegtem Stil zu restaurieren, zu renovieren und zu verschönern. Sie sah sehr rosig in die Zukunft.
Wie anders waren doch die Erzählungen der Frau im Imbiss an der Landstraßen von Trent nach Schaprode! Zu DDR-Zeiten war hier doch alles besser, klagte sie mir ihr Leid. Jetzt musste sie irgendwie sehen, dass sie über die Runden kam. Sie hatte nie geheiratet, daher auch keine Ansprüche an einen der vielen Männer, die sie im Laufe ihres Lebens gehabt hatte. Sie war Entbeinerin im Schlachthof von Bergen gewesen und musste niemals Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Bis zur Wende natürlich. „Die Treuhand hat hier alles kaputt gemacht“ - so ihre Worte. Nach einer sehr gehaltvollen Erbsensuppe und einem ausgezeichneten Kaffee hatte ich von dem Gejammer die Nase voll und fuhr weiter. Da dachte ich doch lieber zurück an Trent, durch das ich kurz zuvor gefahren war. Ein Ensemble angenehm erhaltener Gutsgebäude umgab den Ort, und die St. Katharinenkirche wies einen Turm in der Form einer wilhelminischen Pickelhaube auf. Schaprode selbst überraschte mich durch die Vielzahl der reetgedeckten Fischerhütten, die sich um den kleinen Hafen versammelten. Der belebte Kai war die Lebensader von Schaprode. Von hier starteten stündlich die Fährschiffe nach Hiddensee. Ich wollte heute noch nicht hinüber, ich wollte mir morgen die Zeit eines ganzen Tages für den Besuch nehmen. Für heute schlug ich mein Quartier auf dem örtlichen Campingplatz auf, auf einer etwas sumpfigen, baumfreien, dem Wind ungeschützt ausgesetzten Wiese. Im Laufe des Nachmittags hatte sich der Himmel immer weiter bezogen, und ein stürmischer Wind war aufgekommen, der sich am Abend noch erheblich steigerte. Ich musste tatsächlich das Vordach einrollen. Die Böen beutelten mein kleines Zelt geradezu. Doch die elastischen Zeltstangen des Iglus hielten jedem Angriff mit Bravour stand. Ich war begeistert. Ich konnte mich beruhigt schlafen legen. Ich hoffte nur, dass am nächsten Morgen auch das Wetter ein Auslaufen der Fähre ermöglichte.
Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Morgens herrschte wieder ein wolkenloser Himmel, und der Wind hatte abgeflaut. Ich war als erster auf dem weißen Schiff und war über die Höhe des Fahrpreises erstaunt. Vierzehn Mark hatte ich für die kurze Überfahrt für mich und mein Fahrrad zu entrichten. Vielleicht ist der Begriff „Fähre“ falsch. Vielmehr handelte es sich im ein Personenschiff im Linienverkehr. Auf Hiddensee war privater Autoverkehr verboten. Lediglich einige Versorgungsfahrzeuge und etliche Pferdefuhrwerke belebten die Straßen. Wegen der geringen Entfernungen war das Fahrrad das ideale Verkehrsmittel. Während der Überfahrt passierten wir eine unübersehbare Zahl von Graugänsen, die auf dem mäßig bewegten Wasser schaukelten.
Nach meiner Landung in Neuendorf wandte ich mich zunächst nach Süden. Ich wollte die dortige Inselspitze erkunden. Ich kam jedoch nicht weiter als einige Kilometer hinter Neuendorf. Ab dort stand das Gebiet unter absolutem Naturschutz. Betreten war streng verboten. So konnte ich die zahlreichen Vogelkolonien nur aus der Entfernung betrachten. Bei der Rückfahrt schaute ich mir Neuendorf ein wenig aufmerksamer an. Ich machte eine erstaunliche Entdeckung: Durch das Dorf führte die einzige Straße der Insel, und die Häuser standen mitten auf den angrenzenden Wiesen. Es führten überhaupt keine Wege zu den Grundstücken! Der Postbote ließ sein Rad am Wegesrand stehen und trottete durch das kurze Gras zu den jeweiligen Empfängern. Bevor ich jedoch wieder Neuendorf erreichte, musste ich an der engsten Stelle der Insel vorbei. Das Land war dort lediglich 250 Meter breit und einige wenige Meter hoch. Es besteht latent die Gefahr, dass Hiddensee an dieser Stelle durch eine Sturmflut zweigeteilt wird. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschah dieses schon einmal. Es war erheblicher Aufwand nötig, um die Landverbindung wieder herzustellen.
Durch Vitte fuhr ich ohne Halt hindurch. Es übte keinen Reiz auf mich aus. Allmählich wurde die Gegend hügeliger. In Kloster war der Besuch des Gerhart-Hauptmann-Hauses Pflicht. In seinem Arbeitszimmer wollte sich jedoch der literarische Geist nicht einstellen. Ich verließ das Gebäude wieder und stieg zum Leuchtturm auf dem Dornbusch hinauf. Leider war er für Besucher nicht geöffnet. Schade, die Aussicht von dort oben musste fantastisch sein. Beim Hinuntergehen sah ich am Wegesrand eine schwarze Ascheschicht unter der Grasnarbe. Wo kam denn die her? Später, beim Warten auf die Fähre in Vitte, blätterte ich in einem ausgelegten Prospekt und wurde fündig: während es Dreißigjährigen Krieges ordnete Wallenstein an, den Waldbestand auf dem Dornbusch abzubrennen, um den Dänen die Möglichkeit zur Holzgewinnung zu nehmen. Oben auf dem Dornbusch, der selbstverständlich wieder aufgeforstet worden war, suchte ich nach einem geeigneten Picknickplatz. Ich fand ihn auf einer Bank auf der Spitze eines Hügels und hatte einen wunderbar weiten Blick auf das Nordende von Hiddensee und die dahinter liegende Ostsee. Es war einfach ein Traumplatz. Als ich nach dem Picknick meinen Müll zusammen sammelte, entdeckte ich unter der Bank ein kleines Etui und darin eine Digitalkamera. Ich packte sie in die Tasche und wollte sie beim Polizeiposten in Vitte abgeben. Als ich den Platz verließ, kam mir ein älteres Paar entgegen. Der Mann fragte mich, ob ich eine Kamera gefunden hätte. Strahlend zog ich den Apparat aus der Tasche. Sofort begann der Mann, mich auf das Übelste zu beschimpfen, „Wolltest wohl damit abziehen?“ fragte er mich. Am liebsten hätte ich das Gerät wieder in die Tasche gesteckt. So ein Idiot! Wortlos gab ich ihm die Kamera und ging meines Weges.
Ich fuhr nach Vitte zurück. Auch dort legte die Fähre an. Zurück in Schaprode setzte ich mich in ein Café am Hafen und genoss einen wunderbaren Sanddornkuchen. Richtig, Sanddornkuchen! Diese Pflanze war auf Hiddensee weit verbreitet und wurde für vielfältige Spezialitäten verwendet. Und dieser Brauch war eben auch auf die Hauptinsel herüber geschwappt. Trotz des späten Kuchengenusses machte ich mir am Abend noch ein ausschweifendes Abendessen mit Kasslerkarbonade, Blumenkohl in Käsesauce und Butterspätzle. Und das mit einem einzigen Spiritusbrenner! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg...
Von Buchenwäldern und Leuchttürmen
Der nächste Morgen führte mich abseits der großen Straßen in den Norden den Insel. Einmal musste ich sogar eine Fähre über einen Boddenarm benutzen. Im Hafen von Wiek sah ich ein etwas skurriles Schauspiel. Eine langsam unter Motor einlaufende Segelyacht war mit einem älteren Paar besetzt. Der Mann saß am Steuerrad, die Frau auf dem überhängenden Heck. Als die Yacht vollständig im Hafenbecken eingelaufen war, brüllte der Mann, obwohl die Frau höchstens drei Meter von ihm entfernt hockte, mit vollster Lautstärke:
„Klarmachen Heckanker!“
Und die Frau brüllte zurück:
„Klar Heckanker!“
Dann das Spiel:
„Lass fallen Heckanker!“. „Heckanker gefallen!“.
„Lass fieren Heckankerleine!“. „Heckankerleine gefiert!“
„Belegen Heckankerleine!“. „Heckankerleine belegt!“
„Klarmachen Fender!“. „Klar Fender!“
„Fender auslegen!“. „Fender ausgelegt!“
„Klarmachen Vorleine!“. „Vorleine klar!“
Und so weiter. Warum Hat die Frau den Mann nicht einfach über Bord geschmissen? Neben dem merkwürdigen Paar hatten der Hafen von Wiek noch eine Besonderheit aufzuweisen: Die Kreidebrücke. Dieses Bauwerk, das weit in den Hafen hinein ragte, wurde in den Jahren 1912 bis 1915 gebaut. Kriegsbedingt wurde der Bau dann abgebrochen. Es sollte die schnelle Verladung von bei Kap Arkona abgebauter Kreide auf Seeschiffe ermöglichen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Projekt jedoch nicht weiter geführt, so dass jetzt die unvollendete Brücke sich grotesk über das Wasser spannte. Ansonsten war das Dorf von nicht erwarteter Anmut. Die alten Fischerhäuser ergaben zusammen mit der hügeligen Landschaft und dem angrenzenden Wals ein höchst romantisches Bild. Von der alten Kleinbahn, die bis vor fünfundzwanzig Jahren auf der Spur Dreiviertelmeter die Eisenbahnverbindung nach Bergen her stellte, war leider keine Spur mehr zu entdecken.
Ich fuhr bis auf das Nordende der Halbinsel Wittow. Im dichten Küstenwald lag ein verwunschener Campingplatz. Die Betreiber hatten offensichtlich viel vor. Auf vielen Baustellen wurde eifrig gehämmert. Es wurden zahlreiche hölzerne Ferienhäuser gebaut. Ich radelte am Rand des Platzes entlang bis zum Rand des hier beginnenden Steilufers. Ich wandte mich Richtung Kap Arkona und begann eine traumhafte Fahrt durch einen wahren Märchenwald. Auf sehr verschlungenen Pfaden bahnte ich mir den Weg durch einen dichten Buchenwald. Aber was waren denn das nur für Bäume? Höchstens halb so hoch wie normale Buchen, mit Ästen, die schon in geringer Höhe aus dem Stamm wuchsen. Sie streckten sich ein kurzes Stück waagerecht zur Seite, um sich dann im scharfen Knick senkrecht nach oben zu recken. Die Abstände zwischen ihnen waren teilweise so eng, dass ich Mühe hatte, mein Gefährt dort hindurch zu manövrieren. Die Route ließ mich mancherorts direkt am Steilufer fahren, dann wieder für zwanzig Minuten im Zickzackkurs zwischen den Bäumen hindurch. Ein fast surrealistisches Erlebnis. Schließlich wurde der Wald so dicht, dass der Weg nicht mehr dort verlaufen konnte. Ich fuhr weiter am landseitigen Rand des Waldes entlang.
Auf halbem Weg zum Kap Arkona hörte der Wald auf. Die landwirtschaftliche Nutzung reichte jetzt bis unmittelbar an die Steilküste heran. Kap Arkona ist nicht der nördlichste Punkt von Rügen. Ein kurzes Stück davor lag der Gellort, noch ein wenig nördlicher als das Kap. Von oben, vom über 40 Meter hohen Steilufer sah ich am Strand den Siebenschneiderstein liegen, einen der größten Findlinge der Insel. Am Kap selbst schaute ich mir zunächst die Reste der alten Slawenburg an, eigentlich nur noch den ursprünglich 25 Meter hohen Schutzwall. Den Rest ist im Laufe der Jahrhunderte nach und nach an der Spitze Kap Arkonas ins Meer gestürzt. Aber die Hauptattraktion dieses Ortes war selbstverständlich die Ansammlung der drei Türme. Es standen dort der alte Leuchtturm, der neue Leuchtturm und der Peilturm. Die Bezeichnung „Neuer Leuchtturm“ ist vielleicht etwas missverständlich, schließlich hatte er bereits 91 Jahre auf dem Buckel. Der alte Turm war nur 75 Lenze älter. Immerhin war der Bauplan von Karl Friedrich Schinkel. Der Peilturm wurde in den zwanziger Jahren erbaut, um mit Richtfunkwellen das Navigieren der Eisenbahnfähre Sassnitz-Trelleborg zu unterstützen. Vor wenigen Jahren waren die Türme saniert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Ein jeder besaß eine Aussichtsplattform, die eine hervorragende Aussicht über Rügen und die Ostsee bis hin zur Dänischen Insel Møn bot. Selbstverständlich reizte es auch mich, diesen Blick zu genießen. Doch sollte ich mich tatsächlich unter die Massen von Menschen drängen, die sich die engen Treppenaufgänge hinauf quetschten? Kap Arkona war völlig überlaufen. Ich begnügte mich damit, am Rand der Steilküste zu stehen und auf das Meer hinaus zu schauen. Weit entfernt zogen einige Frachtschiffe langsam ihre Bahn. Vor Jahren, lange vor dem Zusammenbruch des Sozialismus war auch ich dort entlang gefahren. Auf einer Fähre von Lübeck-Travemünde nach Gdynia. Ich besuchte mit meiner Freundin und ihrer Mutter deren Geburtsland, das ehemalige ostpreußische Masuren. Ein überwältigendes und unvergessliches Erlebnis. Schließlich riss ich mich los und machte mich auf den weiteren Weg.
Mein nächstes Ziel war das alte Fischerdorf Vitt. Es lag versteckt in einer Schlucht an der Steilküste. Ich entdeckte es erst, als die schmale Asphaltstraße abrupt von der Ebene abbog und geradezu zum Meer hinunter stürzte. Streng genommen war Vitt ein Museumsdorf. Hier fuhr schon lange kein Fischer mehr zum Fang hinaus. Die wenigen verbliebenen Boote transportierten die Touristen zum Kap Arkona oder zum Gellort. Der Eindruck eines Museumsdorfes entstand dadurch, dass die niedrig hingeduckten reetgedeckten Hütten noch genau so aussahen wie vor hunderten von Jahren. Die Häuser waren sämtlich hervorragend instand gehalten und von den wenigen Bewohnern des Ortes auf das Sorgsamste gepflegt. Und was waren diese Häuser jetzt? Cafés, Restaurants, Bars, Kneipen und Andenkenläden. Dennoch übte Vitt einen faszinierenden Reiz auf mich aus. Ich fühlte mich in eine Zeit versetzt, in der der noch keine Dampfschiffe oder gar Motorboote existierten und die Männer in Ruderbooten und kleinen Kuttern unter Segeln sich aufs Meer hinaus wagten, um mit dem Fang der Fische ihre Familien zu ernähren. Um wie viel leichter haben wir es doch heutzutage!
Ich hielt mich nicht lange in Vitt auf und eilte weiter. Es war schon später Nachmittag geworden, und ich wollte nicht zu spät den Campingplatz am Ende der Schaabe erreichen. Die Schaabe ist eine langgestreckte, sichelförmige Nehrung zwischen den Halbinseln Wittow und Jasmund. Sie trennt den Großen Jasmunder Bodden von der Tromper Wiek, also der freien Ostsee, ab. Meerseitig erstreckt sich ein paradiesischer, feinsandiger Strand, der den Eindruck einer gigantischen Badebucht machte. Eine durchgehende Düne und ein künstlich aufgeforsteter Küstenwald bildeten den Abschluss zum Bodden. Die Nehrung ist unbebaut und ein wahres Naturparadies. Auf der einzigen Straße fuhren kaum Fahrzeuge. Sie störten mich ohnehin nicht, denn ein ausgezeichneter, asphaltierter Radweg führte über die Schaabe. Auf einer Länge von elf Kilometern fuhr ich zwischen Strand und Düne entlang, immer die blaue Ostsee mit der sanften Brandung vor Augen.
Ich hatte gehofft, auf dem Campingplatz ein Restaurant oder wenigstens einen Imbiss zu finden. Weit gefehlt. Auf dem verlassen wirkenden Gelände war die Rezeption das Wohnzimmer des Pächters. Ich meldete mich also an, baute das Zelt auf und radelte anschließend das kurze Stück zum nächsten Dorf, nach Glowe hinein. Als erstes erblickte ich dort ein scheußliches und total überdimensioniertes Gebäude, das wohl eine Muschel darstellen sollte. Es war tatsächlich das Restaurant „Muschel“. Es war menschenleer. Nein, in dieser ungemütlichen Behausung wollte ich nicht speisen. Ich fuhr weiter zum einzigen Dorfladen und bekam tatsächlich noch drei frische Bratwürste, ein Bauernbrot, Butter und ein wenig Aufschnitt. Das Abendessen war gerettet. Auch für das Frühstück am nächsten Morgen war ich ausgestattet. Der Aufenthalt war am folgenden Tag leider durch eine Misswirtschaft des Platzes geprägt. Als ich in der Frühe zum Duschen ging, entdeckte ich am einzigen Duschplatz, der unter freiem Himmel lag, das Hinweisschilf „Bitte beim Verwalter melden“. Ich klingelte also den Pächter aus den Federn und bat darum, Duschen zu dürfen, er knöpfte mir sage und schreibe drei Mark (DREI MARK!) ab und teilte mir mit, dass er in drei Minuten das Wasser anstellen würde und ich dann fünf Minuten Zeit zum Duschen hätte. Nun gut. Ich eilte zurück, zog mich schnell aus und suchte nach den Wasserhähnen. Vergeblich. Es kam ein Rohr aus der Erde und bog sich in zwei Metern Höhe wieder zurück mit einem gewaltigen Duschkopf am Ende. Tatsächlich kam nach einiger Zeit ein kräftiger Strahl auf mich zugeschossen. Mit einem Aufschrei sprang ich zurück. Das Wasser war kochend heiß! Und eine Möglichkeit, die Temperatur zu regeln, konnte ich nicht entdecken. Ich versuchte immer wieder, wenigstens am Rand der Dusche einen erträglichen Guss abzubekommen, allein, es war vergeblich. Ich hätte mir nur Brandblasen geholt. Ich wusch mich dann am Kaltwasserhahn. Vor der Abfahrt schaute ich noch einmal beim Pächter hinein und wollte die drei Mark wieder haben. Er lachte mich aus. Schließlich hätte ich das Wasser verbraucht, und dafür, dass ich so empfindlich wäre, könne er doch nichts. Sollte ich die Polizei holen? Wortlos fuhr ich davon.
Caspar David Friedrich, Gigantismus und Mondänität
Der Streit mit dem Campingplatzpächter konnte mir die Stimmung nicht verderben, eher schon die dunklen Wolken, die sich über mir zusammenballten. Ich wollte heute zunächst zum Königsstuhl, dem berühmten Kreidefelsen im Stubbenkammerbereich. Ich hatte am Morgen auf meiner Karte gesehen, dass es von Lohme aus einen mit dem Rad befahrbaren Weg zum Königsstuhl gab. So konnte ich den Umweg über die Straße zum Großparkplatz umgehen. Lohme selbst erschreckte mich. Es lag ungefähr fünfzig Meter über dem Wasser und machte einen stark verfallenen Eindruck. Die Treppe hinunter zum verwahrlosten Hafen war wegen Baufälligkeit gesperrt. Weite Teile der Randbereiche an der Abbruchkante des Kreidefelsen durften wegen der Gefahr des Abrutschens nicht betreten werden. Etliche Häuser standen leer und sorgten mit ihrem schwarzen Fensterlöchern für eine gespenstische Atmosphäre. Ich war froh, als ich aus dem Ort wieder heraus war und den Pfad zum Königsstuhl unter die Räder bekam. Aber was war das denn für ein Ziegenpfad!? Er wurde immer enger, war bedenklich zur Seite geneigt und extrem rutschig. Zur linken gähnte der Abgrund, rechts wucherte stacheliges Gestrüpp. Schließlich wagte ich es nicht mehr, weiter zu fahren. Ich wollte zurück auf die sichere Straße. Aber wie sollte ich auf diesem dreißig Zentimeter breiten Pfad mein schweres Gefährt wenden, ohne dass es mit mir den Hang hinab stürzte? Es ging einfach nicht. In meiner Verzweiflung schob ich das Rad um die zwei Kilometer den Weg rückwärts zurück. So manches Mal dachte ich, ich würde abstürzen. Glücklicher Weise schaffte ich es dennoch, auf dem Pfad zu bleiben. Ich war heilfroh, als ich endlich wieder auf den trostlosen Straßen von Lohme war.
Auf festem Asphaltband ging es nach Hagen zum Großparkplatz, der die Endstation für die motorisierten Besucher von Stubbenkammer war. Inzwischen nieselte es leicht, und vielleicht auf Grund des schlechten Wetters war das riesige Areal nur spärlich ausgelastet. Mir konnte es nur recht sein, musste ich dann doch nicht zwischen Massen von Touristen am Kreidefelsen herum krabbeln.
Im Gegensatz zu den Autofahrern musste ich die drei Kilometer nicht zu Fuß zurück legen, sondern konnte gemütlich dort hin radeln. Etwas entsetzt war ich über den Eintrittspreis von sechs Mark, ohne den ich das Naturschutzgebiet nicht betreten durfte. Ich entrichtete ihn dennoch. Zu sehr reizte mich die Gegend, die Caspar David Friedrich so meisterhaft auf die Leinwand gebannt hatte. Vom Rand des 118 Meter hohen Felsens hatte ich einen großartigen Blick weit über die Ostsee. Wenn nicht die Regenwolken mit dem damit verbundenen Dunst gewesen wären. Ich ließ es mir nicht nehmen, die schmalen und rutschigen Granitstufen zum Strand hinunter zu klettern. Das steinige Ufer war äußerst schmal, und ich konnte mir gut vorstellen, dass bei Sturm und auflandigem Wind dieses ein höchst ungemütlicher und gefährlicher Aufenthaltsort sein musste. Die wenigen Besucher, die sich mit mir dort unten tummelten, sammelten mit großem Eifer Steine in mitgebrachte Stoffbeutel. Ich fragte einen Mann, was es denn so Interessantes zu finden gebe. „Feuersteine!“ knurrte der Mann recht unfreundlich. Ja, glaubte er denn, ich wollte ihm zuvorkommen und seine Beute schmälern? Was sollte ich denn um Himmels Willen mit Feuersteinen? Wie sollte ich sie denn in Form bringen und in meinem Feuerzeug unterbringen? Etwas amüsiert wandte ich mich ab und schaute den Kreidefelsen empor. Erst von hier unten konnte ich erkennen, wie mächtig und eindrucksvoll er war. Der Name sollte einer Sage nach daher stammen, dass in alter Zeit derjenige zum König gekürt wurde, dem es als Erstem gelang, den Kreidefelsen empor zu klettern und sich auf den oben aufgestellten Stuhl zu setzen. Auf die Dauer wurde mir der Aufenthalt am Strand bei dem heftigem Wind und dem Regen zu ungemütlich. Ich stieg die Stufen wieder empor und bestieg mein Rad. Ich machte mich auf den Weg nach Sassnitz, dem traditionsreichen Fährhafen von Rügen.
Während der gemütlichen Abfahrt hinunter zur Stadt besserte sich das Wetter zusehends. Ich konnte meine Regenkleidung ablegen, meine Brille säubern und endlich wieder besser sehen. Der letzte Kilometer nach Sassnitz war mit einer Schussfahrt und den ersten Sonnenstrahlen verbunden. Ich langte direkt am alten Fährhafen an. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde hier eine Station für den Transport von Eisenbahnwaggons errichtet, um die sogenannte Königslinie von Sassnitz nach Trelleborg zu bedienen. Jetzt lag im Hafen eine schneeweiße Auto- und Personenfähre am Kai. Der Eisenbahnverkehr sollte in Zukunft über Neu-Mukran, einem etwas außerhalb gelegenen Stadtteil von Sassnitz abgewickelt werden. Überall in der Stadt herrschte eine rege Bautätigkeit. Seit zwei Jahren wurde die Innenstadt aufwändig restauriert und verschönert, um sie nach dem Wegfall der Fährpassagiere für die Touristen wieder interessant zu machen. Die eineinhalb Kilometer lange Uferpromenade war bereits zum größten Teil fertig gestellt. Zu meiner und meines Magens großer Erleichterung gab es dort auch etliche Essensstände und Imbissbuden. Ich wählte Backfisch mit Hamburger buntem Kartoffelsalat. Hamburger bunter Kartoffelsalat auf Rügen? Ich fragte die junge Frau hinter dem Tresen nach dem Grund. Ihr Vater war vor zwei Jahren in einem Fischgeschäft in Hamburg in der Alsterdorfer Straße angestellt. Welch ein Zufall: der Laden lag gegenüber der Schlachterei Striga, der den erwähnten Kartoffelsalat kreiert hatte und beim täglichen Mittagstisch anbot. Und die Schlachterei hatte ihren Hinterausgang zum Betriebsgelände meines Arbeitgebers. Den Kartoffelsalat hatte ich bereits oft genossen, hob er sich doch wohltuend von den anderen, eher mittelmäßigen Gerichten des Mittagstisches ab. Wegen der Tatsache, dass ich Hamburger war und auch das Fischgeschäft kannte, in der ihr Vater gearbeitet hatte, lud die Frau mich zu dem verzehrten Mahl ein. Schön.
Weiter ging´s. Bei der weiteren Fahrt Richtung Süden fuhr ich an den neuen Hafenanlagen von Neu-Mukran entlang. Es war beeindruckend. Die Züge konnten über bewegliche Rampen auf die Fährschiffe geschoben werden. Die Anlagen konnten nicht nur Züge mit Normalspur bedienen, sondern auch Rollmaterial auf russischer Breitspur. Welch Wunder, geschahen Planung und Baubeginn des neuen Hafens noch zu Zeiten der DDR. Noch rollten jedoch keine Züge über die Gleise, keine LKW stauten sich vor den Rampen. Baukräne und Tieflader beherrschten das Bild. Ich fuhr weiter.
Kurz hinter Neu-Mukran entdeckte ich auf der Landseite der Straße geometrisch abgesteckte, dunkle Flächen. Neugierig fuhr ich darauf zu. Es waren Feuersteinfelder! Ein Schild klärte mich darüber auf. Viele Gestalten mit umgehängten Stoffbeuteln gingen vornüber gebeugt über die Felder, bückten sich häufig und klaubten ihre Beute mit behandschuhten Händen auf. Dies waren keine Touristen. Es waren Arbeiter, die das Rohmaterial für die industrielle Bearbeitung einsammelten. Ich wunderte mich darüber. Wieso wurde hier in kostspieliger Handarbeit etwas geerntet, das doch maschinell viel effektiver zu produzieren war? Eine alte Frau, die mich wohl etwas staunend am Rand des Feuersteinfeldes stehen sah, kam auf mich zu und erzählte mir in gebrochenem Deutsch, dass hier polnische Gastarbeiter am Werk seien, die mit geübtem Auge besonders geformte Feuersteine aussuchten, die als Skalpelle für Schönheitsoperationen Verwendung fänden. Ja, für Schönheitsoperationen! Die Schneiden dieser Feuersteinklingen waren schuppig und ergaben erheblich bessere Wundränder als herkömmliche Skalpelle aus Spezialstahl. Sie verheilten viel schneller als die von Metall verursachten Wunden und ergaben kaum Narben. Deshalb wurden diese äußerst kostspieligen Messer eben für privat bezahlte Schönheitsoperationen benutzt. Wer´s sich leisten kann...
Bevor ich nach Rügen kam, hatte ich zwar schon einmal etwas von Prora gehört, wusste aber überhaupt nicht, was mich dort erwartete. Die Organisation „Kraft durch Freude“ der Nationalsozialisten plante, an fünf Standorten Seebäder mit Unterkünften für zwanzigtausend Urlauber zu errichten. Verwirklicht, jedenfalls zum Teil, wurde nur das Projekt Prora. Als ich den Gebäudekomplex erblickte, war ich geradezu erschüttert. Acht monströse, gigantische Betonbauten, jeder um die 600 Meter lang und 40 Meter breit, erstreckten sich nacheinander sechsstöckig in einer Entfernung von 150 Metern zum Wasser am Strand entlang. Alle hundert Meter ragte landseitig ein Vorsprung heraus, in dem offensichtlich das Treppenhaus untergebracht war. Der Komplex stand zum größten Teil leer, nur in einigen wenigen Räumen waren im Erdgeschoss teilweise obskure Läden eingerichtet. Es bot sich mir ein gespenstisches Bild. Hier sollte ursprünglich einmal Urlaub gemacht werden? In diesen gesichtslosen Betonklötzen? Das waren doch keine Ferienhäuser, das waren regelrechte Kasernen! Als solche wurden sie auch von der Roten Armee und der Nationalen Volksarmee genutzt. Ich durfte nicht zwischen Meer und Gebäuden fahren, sondern musste die Straße auf der Rückseite des Komplexes benutzen. Prora lag auf der Schmalen Heide, einer Nehrung ähnlich wie die Schaabe. Während jene allerdings natürlichen Ursprungs war, wurde die Schmale Heide durch die intensive Bebauung größtenteils künstlich hergestellt. Kilometer um Kilometer fuhr ich an den trostlosen Ruinen entlang. Den landeinwärts liegenden Kleinen Jasmunder Bodden konnte ich nicht entdecken. Er war durch einen dichten Kiefernwald verdeckt. Das Radeln entlang den Betonkolossen war eintönig, wurde aber nie langweilig.
Die letzten Kilometer zum Campingplatz kurz vor Binz fuhr ich parallel zur Bahnstrecke. Langsam überholte mich ein Intercity aus Hamburg. Der Zug war gut gefüllt. Fröhliche Menschen winkten mir aus den Fenstern zu. Ich schlug mein Nachtquartier auf einem sandigen Heideboden auf, der fast keinerlei Halt für die Häringe bot. Ich war froh über die vielen niedrigen Kiefern, die mein Zelt umstanden. So konnte ich es doch vernünftig abspannen. Heute wollte ich nicht selbst kochen, sondern eine Mahlzeit im mondänen Ostseebad Binz gönnen. Nach der notwendigen Dusche machte ich mich auf den Weg. Mein Ziel war natürlich die Seepromenade mit den vielen Hotels und Restaurants. Auf einer Ostseeinsel war es für mich Pflicht, Fisch zu essen. Auf der Suche nach einem Restaurant hatte ich ausreichend Gelegenheit, die Seebäderarchitektur von Binz zu bewundern. Was ich sah, machte mir Hoffnung. An vielen der Hotels, die zumeist in Villenform errichtet waren, konnte ich eine rege Bautätigkeit erkennen. Es wurde renoviert und restauriert, was das Zeug hielt. Die neue Seebrücke war ebenfalls im Bau. Die alte wurde Ende des Zweiten Weltkriegs durch Eisgang zerstört und zur Zeit der DDR nicht wieder aufgebaut. Bei der Seebrücke erhob sich das Kurhaus Binz zu imposanter Größe. Ich hatte mehr Zeit als erwartet, diese Gebäude zu betrachten. Die Restaurants, die ich besuchen wollte, wiesen mich mit der Begründung ab, dass ich hätte einen Platz vorbestellen müssen. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als mich auf die Terrasse eines italienischen Restaurants zu setzen, die noch nicht voll belegt war. Beim Fisch blieb es dennoch. Heilbutt in grüner Sauce. Ein Gedicht. Es wurde Zeit, dass der Urlaub zu Ende ging, weil meine Reisekasse fast aufgebraucht war. Übermorgen wollte ich mit dem Zug zurück nach Hamburg fahren.
Rügen die Letzte und eine Ostseeperle
Ich stand sehr früh auf, wollte ich heute doch wieder zurück nach Altefähr, um dann morgen Mittag den Zug zurück nach Hamburg zu erreichen. Ich war erstaunt, dass trotz der frühen Stunde bereits ein abfahrtbereiter Dampfzug der Rügenschen Kleinbahn im putzigen Bahnhof stand. Als alter Eisenbahnfan musste ich mir die Ausfahrt des Zuges selbstverständlich ansehen. Es traf sich gut, dass auf dem Bahnhofsgelände auch ein geöffneter Imbissstand war. Ein Becher Kaffee, ein Brötchen mit Bismarckhering und noch ein Vanillepudding machten das Betrachten des Zuges zu einem puren Vergnügen. Mächtige Dampfwolken ausstoßend, zog die kleine grüne Lokomotive die aus acht altertümlichen Waggons bestehende Garnitur aus dem Bahnhof. Der „Rasende Roland“ nahm Fahrt auf. Genau diesen Zug sollte ich noch eine Zeit lang begleiten. Die Straße führte genau parallel zur Schmalspurstrecke, und der Zug war nicht schneller als ich. Genau wie gestern Nachmittag winkten mir die Passagiere fröhlich zu. In genau der gleichen Stimmung winkte ich zurück. Schließlich bogen die Gleise nach rechts in den Wald ab, während ich weiter geradeaus fuhr, dem Jagdschloss Granitz zu. Eigentlich habe ich es nicht so sehr mit Schlössern, war noch nie ein Anhänger des Feudalismus. Aber als ich hier die Straße im südöstlichen Rügen entlang fuhr und oben auf dem Tempelberg das Jagdschloss mit einem imponierenden Turm emporragen sah, interessierte es mich doch. Die Aussicht von dort oben musste einfach fantastisch sein. Also fuhr ich die ansteigende Straße zum Schloss hinauf. Das Gebäude machte einen sehr harmonischen Eindruck auf mich. Zweistöckig im Quadrat angelegt, war es an den vier Ecken jeweils mit einem Turm versehen. Aber was sollte denn dieser Turm inmitten des Hofes, der die Anlage extrem überragte? Im Inneren erfuhr ich es dann. Beim Bau des Schlosses in der Mitte des 19. Jahrhunderts war dieser Turm überhaupt nicht vorgesehen. Er wurde erst später hinzu gefügt. Carl Friedrich Schinkel hatte wohl ein Lieblingshobby: Türme bauen auf Rügen. Denn neben dem Leuchtturm auf Kap Arkona war auch der Mittelturm vom Jagdschloss Granitz sein Werk. Wohl oder übel bezahlte ich den Eintritt von drei Mark und betrat die imposante Eingangshalle. Nach der Anzahl der an den Wänden prangenden Geweihe musste der Hirschbestand in dieser Gegend bereits vor eineinhalb Jahrhunderten sehr dezimiert worden sein. An den Pfeilern der Bogengänge hingen sie vierfach übereinander, über den Fensterstürzen, an jeder sich bietenden freien Wandfläche. Ein makabres Bild. Ich verzichtete auf eine weitere Besichtigung der anderen Räume – ich war zu gespannt auf den Blick, der sich vielleicht vom Mittelturm bot. Schon das Innere bot eine Überraschung: Eine Wendeltreppe ringelte sich an den Außenwänden empor, durch keine Stützen oder Pfeiler gehalten. Das so etwas möglich ist, wusste ich durch meinen Beruf als Tischler, habe ich ein ähnliches Ding, natürlich in wesentlich geringeren Dimensionen, selbst einmal gebaut. Und die Aussicht war tatsächlich so außergewöhnlich, wie ich es erhofft hatte. Ich hatte nicht nur einen weiten Blick über diesen Teil Rügens. Ich sah die Marktkirche von Bergen, die Türme von Stralsund und sogar im östlichen Dunst die Umrisse von Usedom. Später erfuhr ich, dass das Jagdschloss Granitz das meistbesuchte Schloss in Mecklenburg-Vorpommern war, im Rang sogar noch vor dem Schweriner Schloss stehend.
Meine nächsten Ziele waren die Seebäder Göhren und Sellin. Nachdem ich das Jagdschloss verlassen hatte, kreuzte ich wieder die Schienen des „Rasenden Roland“. Die Gleise verloren sich im dichten Küstenhochwald, dem Granitz. Die Straße nahm einen anderen Kurs. In Sellin bot sich mir das schon bekannte Bild: überall wurde gebaut. Die Ortschaft erfuhr eine radikale Verschönerungskur. Zu den Maßnahmen gehörte auch der Bau der Seebrücke, die nach der Fertigstellung mit 394 Metern die längste von Rügen sein wird. Es war schon erstaunlich, welche Anstrengungen unternommen wurden, um den Verfall aus der sozialistischen Zeit rückgängig zu machen. In Sellin tat es mir besonders die Wilhelmstraße an. Villen aus der Gründerzeit reihten sich aneinander, in der Architektur an Südstaatengebäude erinnernd. Die Straße ging hinauf zur dreißig Meter hohen Steilküste. Von dort war der Strand entweder über eine Treppe oder einen Fahrstuhl zu erreichen. Ich widerstand den Verlockungen der Imbissbuden und fuhr das kurze Stück weiter nach Göhren. Ich erlebte dort die schon reichlich gesehene Bäderarchitektur und den üblichen touristischen Rummel. Diesmal konnte ich dem Hunger nicht widerstehen und nahm einen Backfisch mit Pommes und Remoulade. Wieso schmeckten mir diese einfachen Sachen nur so gut?
Bevor ich Göhren wieder verließ, schaute ich mir im Endbahnhof noch einmal einen Zug der Rügenschen Kleinbahn an. Die Lokomotive war genau die, die ich bei der Ausfahrt aus Binz beobachtet hatte. Ich fragte die beiden Männer mit rußgeschwärzten Gesichtern auf der Lok, ob der Kessel mit Öl oder Kohlen befeuert wurde. Sie lachten mich aus. „Siehst du hier irgendwo einen Kohlentender?“ fragte mich der eine. Ich sah keinen. Dumme Frage also. Ich wartete ab, bis der Zug aus dem kleinen Bahnhof gedampft war.
Jetzt machte ich mich aber wirklich auf den Weg Richtung Westen. In Baabe überquerte ich den kleinen Kanal zwischen dem Selliner See und dem Rügenschen Bodden, den sogenannten Mönchsgraben. Auf einer Landspitze machte ich eine Zigarettenpause und schaute zur Insel Vilm hinüber. Die reetgedeckten Häuser auf dem Eiland waren die Feriendomizile der Mitglieder des Ministerrates der DDR. Vilm lag tatsächlich höchst malerisch im Rügenschen Bodden. Im nächsten Dorf, in Vilmitz, musste ich regelrecht vor einer wild gewordenen Gänseherde die Flucht ergreifen. Ich wusste nicht, dass diese Tiere derartig aggressiv werden konnten. Dabei hatte ich doch überhaupt nichts getan. Ich war lediglich an einem offenen Tor eines an der Straße liegenden Gehöftes vorbei gegangen. Ich musste das Rad schieben, weil der Untergrund so sandig war, dass ein Fahren unmöglich war. Das gefiel den Gänsen wohl nicht. Mit großem Geschrei und heftigem Flügelschlagen kamen sie auf mich zugestürzt. Ich war sehr froh, dass nach einem kurzen Stück Sandweg die Piste wieder fester wurde und ich tüchtig in die Pedale treten konnte. Zu Fuß und mit dem schweren Rad hätte ich gegen die Meute keine Chance gehabt. In Putbus konnte ich von dem Schrecken erholen. Ich hätte nie erwartet, in dieser kleinen Stadt eine derartige Ansammlung klassizistischer Gebäude zu sehen. Auf dem zentralen Platz, dem Circus, liefen alle Hauptstraßen sternförmig zusammen. Eine Parkanlage bildete den Mittelpunkt des Ensembles. Ich war geradezu begeistert! Auch der Bahnhof erregte meine Aufmerksamkeit. Es existierte dort nämlich ein Dreischienengleis. Der Bahnhof war gleichzeitig Station für die normalspurige Strecke Bergen – Lauterbach Mole und die Schmalspurbahn von Putbus nach Binz. Am Ende des Bahnhofs zweigte das nur 750 Millimeter breite Gleis der Rügenschen Kleinbahn von der breiten Spur ab.
Mir wurde die Zeit knapp. Ich folgte deshalb nicht mehr der Küstenlinie, sondern nahm die Landstraße über Garz unter die Räder. Die ersten Kilometer hinter Putbus führten mich durch welliges, leicht bewaldetes Gelände. Von der Ostsee oder gar dem Festland konnte ich nun nichts mehr entdecken. Die umliegenden Hügel erreichten nun kaum noch vierzig Meter Höhe. In Garz, der ältesten Stadt Rügens, hielt ich mich nicht auf, ich radelte hindurch. Von den allgegenwärtigen Sanierungsmaßnahmen hatte ich inzwischen genug gesehen. Der Wald wurde nun sehr spärlich. Allmählich konnte ich auch die Umrisse des Festlandes und die Türme von Stralsund ausmachen. Das winzige Dorf Poseritz überraschte mich mit einer wuchtigen, gotischen Pfarrkirche. Sie legte Zeugnis davon ab, wie stark die Besiedlung auf dieser Insel bereits in den späten Jahrhunderten des vorigen Jahrtausends angewachsen war. Ab Gustow fuhr ich immer in Sichtweite des Wassers, erreichte Altefähr, kaufte im trostlosen Dorfladen noch für das Abendessen und das morgige Frühstück ein und machte es mir auf dem öden Campingplatz bequem. Ich wollte mir keine großen Vorräte mehr zulegen, würde doch der nächste Morgen die letzte Gelegenheit sein, eine Zeltmahlzeit zu mir zu nehmen.
Nach dem letzten Frühstück im Zelt machte ich mich im Frühdunst auf den Weg nach Stralsund. Ich überstand den furchtbaren Rügendamm ohne bleibenden Schaden. Mein Zug fuhr erst gegen die Mittagszeit. Ich hatte also noch ausreichend Zeit, mir die Stadt ein wenig anzusehen. Genau wie in den Seebädern und Städten auf Rügen wurde die Innenstadt aufwändig saniert. Das DDR-Regime hatte die fast einzigartige Architektur Stralsunds weitestgehend dem Verfall überlassen. Erst seit ungefähr drei Jahren wurde mit allen Kräften versucht, das historische Stadtbild zu erhalten und wieder herzurichten. Ich konnte bereits gewaltige Fortschritte erkennen. Der zentrale Platz mit dem Rathaus und der Nikolaikirche war fast vollständig in alter Pracht fertig gestellt. In den kleinen Seitenstraßen dagegen klafften noch etliche Baulücken. Mich verwunderte das Fehlen von quirligem Leben in einer einstmals so bedeutenden Stadt. Wo waren die Marktstände, die Straßencafés, die Imbissbuden? Fehlanzeige. Ich hatte nur die Hoffnung, dass sich auch dieses noch positiv entwickeln würde. Aber auch in dieser etwas sterilen Atmosphäre gefiel mir Stralsund ausnehmend gut. Mein persönlicher Höhepunkt war der Besuch der Marienkirche, einem Schmuckstück Norddeutscher Backsteingotik. Ich kannte die ähnlichen Kirchen in Lübeck und Rostock sehr gut und war wieder einmal fasziniert von den himmelhoch aufragenden Pfeilern und weit über mir liegenden Kreuzgewölben. Und dann sah ich etwas abseits im Chor ein Gemälde, das mich über alle Maßen in seinen Bann schlug. Auf einem kleinen Fischerboot hatte sich eine Schar verschiedenaltriger Männer zusammen gefunden. Einer der Fischer hielt einen Jungen, fast noch ein Kind, in den Armen. Einen Schiffsjungen? Er war offensichtlich tot. Die Männer reagierten auf verschiedene Art auf das schreckliche Ereignis. Der, der den Jungen in den armen hielt, schaute ihm mit leerem, ausdruckslosen Blick ins Gesicht. Der junge Fischer neben ihm starrte in schierer Verzweiflung in die Ferne. Ein Besatzungsmitglied, dem Alter nach konnte er der Vater des Jungens sein, schämte sich seiner Tränen nicht und heulte hemmungslos drauf los. Der Großvater, ein bärtiger, wettergegerbter Veteran schüttelte drohend und aufgebracht die Faust gen Himmel. Dieser war wolkenverhangen und bedrohlich düster. An der Bordwand, etwas abseits der Gruppe, lehnte ein weiterer Schiffsjunge. Er grinste hämisch vor sich hin. Es war erschreckend. Unten in der Ecke der Leinwand entdeckte ich eine schwache, verwischte Signatur, die ich nicht entziffern konnte. Einen Hinweis auf den Maler und den Titel des Bildes gab es nicht. Der Standort des Bildes war ungünstig. Durch die hohen Chorfenster fiel das Licht voll auf die Leinwand, und die Sonne hatte im Laufe der Zeit offensichtlich schon einigen der Farben die Leuchtkraft genommen. Die Ölschicht, wenn es denn tatsächlich ein Ölgemälde war, war schutzlos den Strahlen ausgesetzt.
Im Bahnhofsrestaurant hatte ich noch einmal Gelegenheit, meinen Hunger zu stillen. Ich aß eine entsetzliche Rindsroulade mit wässerigem Rotkohl und Salzkartoffeln, die eine bittere Haut aufwiesen.
Ich hatte mir vorgenommen, während der Zugfahrt mein Tagebuch zu vervollständigen. Die Gleise waren jedoch in einem derart desolatem Zustand, dass die Waggons wackelten wie die Hengste bei einem Rodeo. An ein Schreiben war überhaupt nicht zu denken. Die betagte Lokomotive vom Typ Taiga-Trommel dröhnte entsetzlich. Nach stundenlanger Fahrt über Rostock und Schwerin erreichte ich endlich wieder Hamburg. Zuhause konnte ich die Notizen dann nachholen. Jedenfalls hatte mir diese Reise so gut gefallen, dass sie der Auftakt zu einer langen Reihe ähnlicher und durchaus weitreichender Fahrten war.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Dauk).
Der Beitrag wurde von Michael Dauk auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2015.
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von Franz Supersberger
Texte aus dem Internet – Tagebuch “schlagloch”
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