Rinteln / Weser
Des Nachts herrschte starker Regen, der am Morgen endlich aufhörte. Teilweise brach sogar die Sonne durch die Wolken. Ich stand um fünf Uhr auf, briet mir sieben Rostbratwürstchen, trödelte ein wenig herum und verließ um acht Uhr den Platz. Das morgendliche Vogelkonzert unterhielt mich bestens beim Frühstück. Wieder war es sehr kühl, ich nutzte die gleiche Ausrüstung wie gestern. Ein starker und kalter Gegenwind erschwerte die Fahrt. Ich hielt mich zunächst nach Westen, Richtung Rehburg. Die schöne, leicht wellige Landschaft wurde durch erstaunlich viel Wald geprägt. Die Rehburger Berge, immerhin bis zu 161 Meter hoch, lagen noch halb im Dunst verborgen. In Rehburg selbst konnte ich endlich meinen Tabak und die geliebte Vanillemilch bekommen. Ich bog nach Südosten ab, auf Bergkirchen zu. Dieser Ort machte seinem Namen alle Ehre. Eine enge Straße mit einigen Serpentinen führte steil hinauf. Zum Fahren war der absolut kleinste Gang erforderlich. Durch die niedrige Geschwindigkeit entfiel der kühlende Fahrtwind, und ich schwitzte in meinen vielen Klamotten unmäßig. An der höchsten Stelle des Dorfes stand die Kirche in exponierter Lage. Vom Kirchplatz aus konnte ich über das Steinhuder Meer, die sehr diesige Norddeutsche Tiefebene und bis hin zu den Bückebergen und den Deister blicken. Auch den Durchlass zwischen den beiden Höhenzügen bei Bad Nenndorf erkannte ich. Dort wollte ich jedoch nicht hindurch fahren, um an die Weser zu gelangen, sondern ich hatte vor, quer über die Bückeberge zu kreuzen, weil es dort mit Sicherheit schöner war, außerdem kürzer.
Es schloss sich eine erstaunliche lange Abfahrt hinunter nach Sachsenhagen an. Überhaupt war ich überrascht, wie abwechslungsreich, hügelig und schön die Landschaft südlich des Steinhuder Meeres war. Diesen ansprechenden Anblick hatte ich am Nordufer des Sees nun wirklich nicht erwartet. Unten im Ort fand ich ein Stehcafé und freute mich auf einen leckeren Imbiss. Leider war der Kaffee lauwarm und wässerig, das bestellte Mandelhörnchen alt, steinhart und trocken. Im nächsten Dorf, in Lindhorst, sah ich einen Aldi-Markt, rollte zügig auf den Parkplatz, wollte vor den Augen der vielen Einkaufenden elegant absteigen, rutschte mit den Fingern am Bremshebel ab und bretterte voller Wucht in die leeren abgestellten Einkaufswagen. Ich tat so, als ob ich das immer so machte und betrat den Laden, um eine neue sich selbst aufblasende Iso-Matte kaufen. Aldi hatte sie für sage und schreibe 10,99 Euro im Angebot. Meine Matte war defekt, sie verlor ständig Luft, und wenn ich sie aufblies, bildete sich in der Mitte eine Beule, die eine etwas unnatürliche Schlafhaltung zur Folge hatte. Leider waren die Matten ausverkauft.
Bevor ich die Bückeberge erreichte, überquerte ich den Mittellandkanal und beobachte fasziniert die gemächlich tuckernden Binnenschiffe und vielen Sportboote, die mit gedrosselter Fahrt die Wasserstraße benutzten. Die zahlreichen niedrigen Brücken Richtung Hannover ließen den Kanal fast wie einen gedeckten Tunnel erscheinen. Ich hielt mich zunächst am nordwestlichen Rand der Bückeberge, erklomm so manche Steigung, ließ mich wieder hinunter rollen und kämpfte wieder einmal mit dem heftigen Gegenwind. Die Landschaft faszinierte mich immer mehr. Auch die reizenden kleinen Dörfer, die ich passierte, nahm ich freudig wahr. Die niedrigen geduckten Häuser, die zusammengedrängten Höfe, die putzigen Dorfkirchen. In Reinsen endlich machte ich mich auf, den Höhenzug zu überqueren. Selbst in dieser relativ flachen Erhebung führte die Straße in einigen Serpentinen hinauf, und ich musste auf das kleinste Kettenblatt hinunter schalten. Von oben hatte ich einen weiten Ausblick auf den Schaumburger Wald, das Wiehengebirge und die Porta Westfalica. Nach Nordwesten wurde der Anblick beherrscht vom Kernkraftwerk Windhain. Ein sehr hoher Kühlturm stieß gewaltige Massen weißen Wasserdampfes aus, der sich nur langsam über der Ebene zerfaserte und anschließend auflöste.
Wie hatte ich auf eine lange Abfahrt ins Auetal gefreut! Nix da! Es gab keine lange Abfahrt, nur kurze und heftige Gefälle, verbunden mit Steilstücken, die ich anschließend wieder hinauf musste. Es herrschte ein starker bis stürmischer Gegenwind, der mir die Fahrt mörderisch anstrengend machte. Mein Schleudertrauma machte sich immer stärker bemerkbar, ich begann ständig stärker hin und her zu schwanken und war zu vielen Pausen gezwungen. Meine Beine fühlten sich richtig schwammig an. Es war ja auch kein Wunder, hatte ich das letzte richtige Essen bereits um fünf Uhr dreißig zu mir genommen. Das lasche Mandelhörnchen zählte für mich nicht. Ich musste unbedingt mehr auf mich achten und regelmäßiger Nahrung zu mir nehmen. Ich suchte vergeblich nach einem geeigneten Picknickplatz, aber alle in Frage kommenden Stellen waren viel zu schlammig. Und auf einer Bushaltestelle wollte ich es mir nicht gemütlich machen, wenn so etwas überhaupt möglich war. Doch, doch, es war möglich, ich hatte es ja im vorigen Jahr auf den Lofoten praktiziert, und einmal hatte ich in Norwegen sogar in einer übernachtet. In Rehren dann sah ich in einem Gewerbegebiet ein MacDonald´s. Ich musste unbedingt etwas essen. Also fuhr ich hin, bestellte mir wieder ein Big Tasty-Menü mit Kaffee und Pommes. Ich war der Meinung, dass es egal war, was ich bestellte, es würde ohnehin alles gleich schmecken. Aber dieser Big Tasty schien von der Menge her das beste Angebot zu sein. Ich setzte mich auf die windgeschützte Terrasse, auf der ich der einzige Gast war. Der innere Gastraum war merkwürdiger Weise brechend voll. Der Big Tasty war wie erwartet, der Kaffee dafür ausgezeichnet. Ich nahm noch einen, trank diesen aber drinnen, weil auf der Terrasse nicht geraucht werden durfte, während im Innenraum ein abgeteilter Bereich für Raucher eingerichtet war. Welch eine bescheuerte Regelung! Warum nicht umgekehrt? Ich saß an einem Fenster direkt vor meinem draußen stehenden Fahrrad. Plötzlich kam Starkwind auf, und mein Rad wurde umgeblasen. Von der Familie am Nebentisch hörte ich ein erschrockenes „Oh, Gott!“ und ähnliche Ausrufe. Ich tat so, als ob das Fahrrad nicht mir gehörte und mir die Sache sowieso nichts anginge. Ich trank zunächst meinen Kaffee aus und ging erst dann nach draußen. Ich richtete das Rad wieder auf und machte mir keine Sorgen um irgendwelche Beschädigungen. Durch die vielen Taschen war das Rad bei solchen Stürzen gut geschützt. Es fielen die ersten dicken Tropfen bei einem Wind von Sturmstärke. Ich ging auf die windgeschützte Seite des Hauses und stellte mich unter einem Vordach in einen einigermaßen trockenen Bereich. Ich wartete auf das Vorüberziehen der Regenfront und beobachtete den Verkehr auf der nahen A2. Einige Lastwagenlenker legten eine geradezu wahnsinnige Fahrweise an den Tag. Bei dichtem Regen, überschwemmter Fahrbahn und undurchsichtigen Gischtwolken fuhren sie mit einem Abstand von nur fünf Metern bei einer Geschwindigkeit von geschätzten 80 – 90 Kilometer in der Stunde hintereinander her, um den Windschatten des voraus fahrenden Wagens auszunutzen. Ich mochte gar nicht mehr hin schauen. Nach etwa dreißig Minuten hatte ich genug von der Warterei, zog meine Regenklamotten an und fuhr los. Der Regen peitschte mir waagerecht schmerzhaft ins Gesicht. Nach lediglich 500 Metern stellte ich mich bei einem Aldi-Markt erneut unter. Ich fragte nach einer Iso-Matte und bekam die Auskunft, dass sie erst wieder ab morgen erhältlich sei. Nach einer weiteren halben Stunde fuhr ich wieder los, schaffte trotz nicht mehr ganz so schlimmen Bedingungen nur 3 Kilometer, dann musste ich wieder Schutz an einer Bushaltestelle suchen, weil ich mich so schwach fühlte. Von dem Glaskasten auf einer Anhöhe konnte ich im Süden einen heraufziehenden hellen Streifen erkennen, den ich abwarten wollte. Und richtig: Nach einer Dreiviertelstunde hörten der Regen und der starke Wind auf. Ich wackelte weiter. Ich fuhr ständig parallel zur oben am Hang verlaufenden A 2, die sich mit ungeheurem Lärm bemerkbar machte.
Endlich erreichte ich die Abzweigung Richtung Rinteln. Zuvor musste ich noch einmal in einer Baustelle mit Einbahnstraßenregelung die Autofahrer ärgern, weil ich auf der starken Steigung so stark schwankte, dass ich nicht überholt werden konnte und für einiges Chaos sorgte, weil die von mir angeführte Kolonne nicht innerhalb der Grünphase das andere Ende der Baustelle erreichte und die bereits entgegen kommenden Wagen wieder zurücksetzen mussten. Auf meiner ADFC-Karte war eine folgende starke Steigung eingezeichnet, von der ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, wo die hin führen sollte. Es war dann auch gar keine Steigung, sondern ein beachtliches Gefälle, das an einer wirklich schönen Autobahnbrücke begann, die in Ziegelbauweise mit Rundbögen errichtet war. Leider war die Aussicht auf das Extertal durch eine dichte Regenfront verhindert. In Rinteln hielt ich mich nicht auf, sondern fuhr ohne Halt weiter zum Doktorsee, an dem der Campingplatz lag. Auf dem riesigen Gelände gab es große, parzellierte Stellplätze, die meistenteils unbelegt waren und auf denen ich mir einen geeigneten Platz suchen sollte. Ich fand eine wenig ansprechende Stelle mit Blick auf dichte Hecken und einige Wohnmobile, die allerdings einen einigermaßen trockenen Bereich aufwies. Dort schlug ich mein Lager auf und genoss aus meinen Vorräten das erste wirkliche Abendbrot im Zelt. Hunderte von Mauerseglern und Schwalben schossen im Tiefflug vor meinem Zeltausgang vorbei. Als ich mich schlafen legte, ließ der Regen nach.
Polle / Weser
Ich konnte wunderbar schlafen. Ich wachte gegen fünf Uhr dreißig auf, weil ich unbedingt zur Toilette musste. Ich legte mich nicht wieder hin, sondern ging anschließend zum Duschen und machte mir ein reichhaltiges Frühstück mit sieben Rostbratwürstchen mit Butterbrot, mehreren Bechern Kaffee und 2 butterweich gekochten Eiern. Es war ein äußerst befriedigendes Morgenmahl. Ich trödelte nicht, ich dröhnte nicht, ich packte meine Sachen zügig zusammen und fuhr los. Ich fühlte mich erheblich besser, ganz anderes als am gestrigen Tag. Als ich an der Rezeption vorbei fuhr, donnerte ich dem darin verdutzt blickenden jungen Mann ein lautstarkes „Guten Morgen und Tschüß!“ zu.
Der Rückenwind trieb mich nach Rinteln hinein, das mich wieder nur kurz sah. Es war noch zu früh, um in ein Café zu gehen, und außerdem war die halbe Innenstadt aufgerissen. Das Zentrum sollte zu einer Flaniermeile umgestaltet werden. Ich verließ die Stadt weseraufwärts. Ich erhaschte einen Blick auf das Wesergebirge, den Süntel weiter voraus und einen nicht auf der Karte bezeichneten Höhenzug östlich des Extertals. Es war ein entspanntes erfrischendes Radeln auf glatten ebenen Radwegen mit einem unterstützenden Schiebewind. Und es begegneten mir Radler, Radler und Radler, die fast ausnahmslos gen Wesermündung oder Porta Westfalica fuhren. Überwiegend waren ältere Semester vertreten, eine Tatsache, die mich auf der einen Seite erfreute, nämlich um der Sache selbst Willen, mussten aber auf der anderen Seite dann immer diese hässlichen Regenüberzüge über den Packtaschen sein? Warum legten die Leute sich nicht gleich wasserdichte Taschen zu? Nach dem Passieren des ersten Dutzend dieser meist fröhlichen Leute erwiderte ich nicht mehr die munteren Grüße. Ich wollte nicht unfreundlich sein, aber vor lauter Grüßen sah ich ja nichts mehr von der Landschaft. Auf Grund des mitgeführten Gepäcks vermutete ich, dass die meisten dieser Radtouristen wohl in Gasthöfen oder Hotels übernachteten. Wenn auf einem Rad so viel Gepäck aufgeschichtet war, dass ich auf Camping schloss, handelte es sich meistens um jüngere Fahrer. Diese Vielzahl der Radtouristen entnervte offenbar auch die Bundesbahnbediensteten: an einer Stelle kreuzte der Radweg die Bahnlinie Rinteln – Hameln. Es war ein nicht besetzter Bahnübergang mit einer ständig geschlossenen Schranke, für deren Öffnen ein Anruf über eine Sprechfunkanlage beim nächstgelegenen Straßenübergang erforderlich war. Als ich zusammen mit einer Schar anderer Radler dort ankam und die Sprechtaste drückte, bellte der Schrankenwärter zurück: „Könnt Ihr nicht ein einziges Mal Ruhe geben? Ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als eure Scheiß-Schranke auf und zu zu machen!“ Ein älterer Radfahrer hinter mir brüllte mit Stentorstimme „Mach´ hoch, Aller!“ Der Schrankenmensch machte hoch.
An den Weserufern sah ich viele Kiesabbaubetriebe. Aus großen Wasserbecken wurde unermüdlich das Gut ausgebaggert und auf langen Förderbändern zu den Lagerplätzen transportiert. Dort sortierten große Rüttelmaschinen die Steine nach den verschiedenen Größen. Es gab etliche, schöne Rastplätze an diesem beliebten Radfernweg, aber ich wollte mir ein Mittagessen in Hameln gönnen. In diesem Jahr brauchte ich mir ausnahmsweise keine großen Sorgen um meine Reisekasse zu machen und konnte mir solche Ausgaben leisten. War der Radweg noch von Unmengen von Radfahrern bevölkert, traf ich in der Altstadt von Hameln auf wahre Touristenscharen, die sich häufig zu Gruppen versammelt hatten und von einem Fremdenführer geleitet wurden. Es gab ja auch genug in dieser mittelalterlich anmutenden Stadt zu sehen. Ich schloss mein Rad an einem der vielen Fahrradparkplätze an und hoffte, dass in meiner Abwesenheit niemand etwas von meinen aufgetürmten Habseligkeiten entwenden würde. So etwas ist mir ein einziges Mal in Frankfurt an der Oder im Jahr 1994 passiert, es handelte sich aber lediglich um einen alten Pullover, den ich leicht vermissen konnte, zumal es mein letzter Tag des Urlaubs war. Ich schlenderte von Touristengruppe zu Touristengruppe, um mir die Kommentare der Experten über die einzelnen Gebäude und die kurzen Abrisse über die jeweilige Geschichte anzuhören – es war erheblich interessanter als jeder Reiseführer. Inzwischen biss mich der Hunger. Ich suchte keines der vornehmen und altehrwürdigen Restaurants auf, die es in der Altstadt von Hameln gab und die mit teilweise sehr exotisch zusammen gestellten (Rotkohllasagne auf Linsenbett!) Gerichten lockten, sondern in ein Selbstbedienungsrestaurant der Nordsee-Kette. Mit diesen Läden hatte ich bisher gute Erfahrungen gemacht, einmal in Köln sogar so gut, dass ich während eines zweiwöchigen Arbeitsaufenthalts ausschließlich mein Essen in einem Nordsee-Restaurant zu mir nahm. Hier nun bestellte ich mir ein viel versprechendes Mahl: Schollenfilets mit Spargel, Sauce Hollandaise und Petersilienkartoffeln. Der Fisch schmeckte annehmbar, der Spargel war wässerig und faserig, die Kartoffeln kalt und bereits von einer Haut überzogen, und bei der Sauce Hollandaise trennte sich die Butter vom Rest der Sauce. Wegen meines Bärenhungers aß ich den Fraß auf, obwohl ich ihn eigentlich hätte zurück geben und mein Geld zurück verlangen sollen. Es war halt ein Selbstbedienungsrestaurant, bei dem ich bereits beim Empfang des Gerichtes bezahlen musste. Der Kaffee allerdings war ausgezeichnet.
Für die Ausfahrt aus Hameln heraus nahm ich wieder die Weserroute unter die Räder. Hätte ich es doch nur nicht getan! Die Route war geändert worden, sie führte nicht mehr über eine steile Holzbrücke am Jachthafen und nach kurzer Fahrt direkt an die Weser, sondern in weiten Schleifen durch ausgedehnte Industriegebiete und traf erst weit im Osten der Stadt wieder an den Fluss. Vielleicht wurde die Holzbrücke renoviert, oder der Jachthafen war erweitert worden, so dass die Brücke den Wassersportlern im Weg war? An der Weser dann schloss sich wieder eine tolle Fahrt am Fluss an, oft im Schatten wirklich alter Bäume – die Sonne ließ sich allerdings nicht sehen. Ich genoss das Dahinrollen, bis ich die zwei gigantischen Kühltürme des Kernkraftwerks Grohnde vor mir erblickte. Es war wahrhaft ein Sakrileg, was hier in die Natur gestellt worden war! Die lieblichen Höhenzüge zu beiden Seiten des Flusses waren ungefähr 200 Meter hoch, die Kühltürme überragten sie bei Weitem und stießen dicke, weiße Wolken aus. Ich konnte nur froh sein, mich auf der anderen Uferseite zu befinden, so blieb mir das Umfahren des ausgedehnten Betriebsgeländes erspart. Der unerfreuliche Anblick wurde durch einen angenehmen Aufenthalt in Grohnde wett gemacht, das einige Kilometer weiter flussaufwärts lag. Der eigentliche Ort, klein und malerisch, befand sich auf der anderen Seite, auf meiner Seite war eine kleine Fährstelle der Seilfähre mit einem angeschlossenen Café mit Selbstbedienung und schöner Terrasse an der Weser. Mit der äußerst stämmigen und hochgewachsenen Frau an der Selbstbedienungsausgabe entspann sich ein etwas skurriler Dialog:
„Haben Sie Himbeertorte?“
„Oh, ja! Mit einem Käsesahneteig!“
„Geht nicht, verfaulte Milch.“
„Was??“
„Ich kann keinen Quark und Joghurt essen, Milch und Käse schon.“
„Ich trinke auch viel Milch, mindestens vier Liter am Tag. Deshalb bin ich auch so stark!“
„Na dann: 2 Stück gedeckten Apfelkuchen mit Schlagsahne und einen Pott Kaffee.“
„Das macht auch stark!“
So stark wollte ich gar nicht werden. Ich setzte mich auf eine Bank unter Bäumen und genoss mit großem Appetit den wohlschmeckenden Kuchen. Ich nahm mir vor, so lange dort sitzen zu bleiben, bis die alte Seilfähre mindestens einmal übergesetzt hatte. Ich konnte mich des Platzes leider nicht lange erfreuen, weil bereits nach zwei Minuten zwei Motorroller drüben auf die Fähre rollten. Das Bugseil wurde angezogen, der Prahm drehte sich schräg in die Strömung, und durch die Gierstellung trieb die Strömung den Rumpf an das diesseitige Ufer. Kurz vor der Landung wurde das Bugseil gefiert, der Prahm legte sich rechtwinklig zu Strömung und lief sanft auf der Rampe auf. Ich blieb dennoch sitzen, schließlich musste ich meinen Kuchen aufessen und meinen Kaffee austrinken. Der angeschlossene Campingplatz lag sehr idyllisch und wies noch viele freie Plätze auf. Ich wollte aber weiter. Die nächste Seilfähre sah ich bereits in Hajen, sie war jedoch außer Betrieb, weil die Winde des Bugseils defekt war und gerade repariert wurde. Und schon in Hehlen gab es die nächste Fähre, diese wiederum in Betrieb und emsig hin und her eilend. In diesem Abschnitt der Weser überspannten keine Brücken den Fluss. In Hehlen konnte ich bereits den Aussichtsturm von Bodenwerder am rechten Flussufer erkennen. Beim Umfahren des weiten Weserbogens hatte ich einen schönen Blick auf den Höhenzug des Voglers. In Bodenwerder machte ich einen kurzen Halt, schlenderte durch die autofreie Altstadt, schlemmte ein Eis, setzte mich für eine Viertelstunde an die Weserpromenade und konnte auch meinen Tabakvorrat auffüllen. Etwas nervig waren in Bodenwerder die ständigen Hinweise auf den Baron von Münchhausen.
Bei der Weiterfahrt sah ich ein Hinweisschild „Gefälle 26 % - Radfahrer absteigen“. Die Länge betrug ungefähr zehn bis 15 Meter, die Geschichte war einfach nur lachhaft. Nach einigen Kilometern machte die Weser einen weiten Bogen nach Westen, auf der Außenseite des Bogens lag der langgestreckte Campingplatz „Rühler Schweiz“. Jede Gegend, die eine einigermaßen reizvolle Hügellandschaft aufwies, nannte sich wohl Schweiz – Stormarner Schweiz, Holsteinische Schweiz, Rühler Schweiz, Sächsische Schweiz, Fränkische Schweiz... Was wohl die Schweizer dazu sagen? Das sich anschließende Dorf Dölme lockte mit vielen Einkehr- und Übernachtungsmöglichkeiten für Radler. Ich ergriff sie nicht, ich wollte weiter nach Polle. Gegenüber dem Dorf lag die Teufels- oder Steinmühle. Es handelte sich um eine salzhaltige Quelle aus dem 12. Jahrhundert, für dessen Erschließung der Sage nach der Teufel den ersten Stich gemacht haben soll. Die Weserschleife vor Polle musste ich notgedrungen abkürzen, weil die „Domäne Heidbrink“ Privatbesitz war und nicht passiert werden durfte und das übrige Gelände ein Naturschutzgebiet war. Dafür musste ich eine kleine Anhöhe erklimmen, etwa 150 Meter lang. Die Steigung betrug 13 %, darüber informierte mich ein Schild am Ende der Steigung. Auch hier fehlte nicht die Aufforderung, dass die Radfahrer bitte absteigen möchten. Unten war das Schild wohl nicht nötig, weil die meisten Radler angesichts der Steigung wohl ohnehin abstiegen. Durch eine wunderbare Waldstraße erreichte ich Polle mit der großen Seilfähre, die auf beiden Seiten des Rumpfes ein Führungsseil hatte. Ich fragte den Fährmann welchen Zweck denn dieses Seil hätte. Es war das Windseil, es diente der Sicherheit. Wenn große Lastwagen, die durchaus auf der Fähre Platz hatten, übergesetzt wurden, bestand bei starkem Wind die Gefahr, dass die Fähre abgetrieben wurde. Dieses sollte das zweite Seil verhindern. Die Fähre Polle war die größte Seilfähre an der Weser und konnte immerhin 42 Tonnen tragen. Das Hauptseil hier in Polle war stromführend, von ihm führten Leitungen zu den Kettenwinden für die Zugseile.
Der auf der anderen Seite liegende Campingplatz war bis auf die Dauercamper völlig leer: Schön, die Dauergäste durften sich nicht direkt am Ufer aufstellen, sondern erst in der vierten Reihe ihre Reviere einrichten. Ich stellte mich direkt an das Ufer auf einer herrlich duftenden, frisch gemähten Wiese. Ich hatte Blick auf den Berghang, den Vogler und die Ottersteiner Hochfläche. Nach dem Abendessen schaute ich durch die Gegend. Am Ufer gegenüber stolzierte ein Storch im hohen Gras, ein Reiher reckte erwartungsvoll den Hals, unzählige Schwalben jagten im Tiefflug einher. Die Drosseln pickten zielsicher Würmer aus der Wiese. Wie nahmen die Vögel nur ihre Opfer wahr? Und warum waren sie so wählerisch?
Polle / Weser
Ich leistete mir heute einen ausgesprochen faulen Tag. Den Morgen und Vormittag herrschte kräftiger Dauerregen, ich stand auf, machte mir Frühstück und legte mich wieder schlafen. Gegen halb elf stand ich endgültig auf, bezahlte an der Rezeption für einen weiteren Tag und ging bei trübem Nieselregen ins Dorf hinauf, um einzukaufen. Im kleinen Edeka-Markt bekam ich meine Lebensmittel, in der Bäckerei gegenüber frisches Vollkornbrot. Die Kunden beim Bäcker zeigten nach dem Kauf Blocks mit aufgedruckten, kleinen Kreisen vor, in die einer oder mehrere runde Stempel gedruckt wurden. Herr Baumann beschwerte sich lebhaft und wortreich, dass er bei den letzten beiden Einkäufen keinen Stempel bekommen hätte. Er wurde schließlich richtig weinerlich. Ohne Anstand bekam er seine beiden Stempel aufgedrückt.
Ich döste den Tag über, dröhnte, schaute. Ich machte mir ein Mittagessen mit vier großen Käsebratwürsten, vertrieb mir die Zeit mit Fahrradwartung und brachte die Sachen im Zelt endlich einmal in eine vernünftige Ordnung. Wieso aß ich jetzt so viel? Zum Abend vertilgte ich sieben Scheiben des frischen Brotes mit diversem Aufschnitt. Ich schrieb das Tagebuch nach und legte mich um 21 Uhr 30 schlafen. Ich sah mir nicht einmal die imposante, das Dorf beherrschende Burgruine an. Es regnete den gesamten Tag über.
Gieselwerder / Weser
Gegen halb sechs trieb ein wunderbarer Morgennebel über dem Fluss. Es war bereits abzusehen, dass es heute ein sonniger Tag werden würde. Ich genoss das Frühstück und betrachtete fasziniert die sich langsam frei schälenden Hofgebäude der gegenüber liegenden Domäne Heidbrink. Ein Reiher stieß zu, packte einen Fisch, ließ ihn auf den Boden fallen, pickte mehrfach auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte und verschlang ihn dann mit einem einzigen Haps, den Kopf weit nach hinten geworfen. Ich packte gemütlich meine Sachen zusammen und musste leider ein völlig durchnässtes Zelt im Sack verstauen. Und endlich konnte ich wieder mit kurzer Hose fahren. Ich nahm nach Holzminden nicht den Weserradweg, um die hässlichen Vorstädte zu umgehen, sondern die Radroute R 99 links der Weser. Ich empfand diese Strecke als erheblich schöner. Eigentlich wollte ich in Holzminden Kaffee trinken und noch zwei, drei Frühstücksbrötchen genießen, deshalb überquerte ich den Fluss und fand zu meiner großen Überraschung die wenigen Cafés brechend voll. Und die Leute waren laut, aggressiv und unsympathisch. Also nicht. Ich suchte einen Aldi-Markt wegen der allmählich notwendig gewordenen neuen Iso-Matte, fand jedoch keinen. Also fuhr ich weiter, das äußerst schöne Wetter lud auch dazu ein. Auch der mäßig bis zeitweise starke Gegenwind störte mich heute überhaupt nicht. Die klare Luft erlaubte mir tolle Ausblicke auf die umliegenden Höhenzüge. Links voraus konnte ich den Rücken des Solling erkennen. Vor einigen Jahren fuhr ich mit Dagmar dort hindurch. Anstrengend, faszinierend und fremdartig war diese Welt gewesen.
Wieder kam ich an ausgedehnten Kiesabbauanlagen vorbei. Teilweise wurde die Arbeit von uralten Baggern verrichtet, die in ihren rostigen Gestellen quietschten und auch sonst einen ungeheuren Lärm machten. Aber immerhin verrichteten sie noch die ihnen zugedachte Arbeit. Die gesamte Gegend war erfüllt vom Gehämmer der Sortiermaschinen. In Lüchtringen verpasste ich den Übergang über die Weser und kam leider nicht am Kloster Corvey vorbei. Schade, handelte es sich doch um eine wunderbare Anlage. In Höxter dann endlich bekam ich meinen Kaffee und meine belegten Brötchen. Ich kaufte mir die entsprechenden Sachen beim Bäcker und setzte mich in der Altstadt auf den Marktplatz im Schatten uralter Kastanien. Am Nebentisch unterhielten sich drei Frauen, die ich wirklich nur als übermäßig fett bezeichnen konnte, etwa zwanzig Minuten über den Ausschlag der Tochter der einen Frau, die sich diesen wahrscheinlich beim Schwimmen in einem nahen Badesee geholt hatte. Die drei Frauen sprachen völlig aneinander vorbei und erzählten wie in einer Endlosschleife immer wieder die gleichen Dinge. Es war einfach furchtbar! Was hatten diese Leute von so einem Gespräch? Die Frauen hätten auch drei Kassettenrecorder dort hin stellen und abspielen lassen können und wären dann ihrer Wege gegangen. Das Ergebnis wäre nicht anders gewesen.
Was war denn nur mit den Aldi-Märkten los? Versteckten die sich vor mir? Auch in Höxter fand ich keine Möglichkeit, eine Iso-Matte zu kaufen. Also verließ ich dieses wirklich schöne Städtchen und fand mich nach kurzer Zeit inmitten einer riesigen Freizeitanlage wieder, die ehemals ein Gelände für die Kiesgewinnung war. Jetzt konnten die Vergnügunssüchtigen dort surfen, segeln, sich am feinen Sandstrand aalen, in eines der zahlreichen Restaurants und Cafés einkehren, an den Kiosken Eis schlemmen, sich auf den Liegewiesen sonnen oder in den Pavillons Schach oder Karten spielen. Die Anlage war extrem abwechslungsreich und schön gestaltet und wurde erfreulicher Weise von der Bevölkerung sehr zahlreich angenommen. Kurz darauf sah ich auf der anderen Seite das Schloss Fürstenberg mit der Porzellanmanufaktur auf der Spitze eines Hügels empor ragen. Eine Personenfähre bot den interessierten Radfahrern die Möglichkeit, ans andere Ufer überzusetzen und die Werkstätten zu besichtigen. Der Fährpreis war dann in der Gebühr für die angebotene Führung enthalten. Ich hatte aber auf einer solchen Fahrt kein Interesse an kulturellen Sehenswürdigkeiten dieser Art. Äußerstes Interesse hatte ich dann kurz darauf an einer Rast in einem traumhaften Gartenlokal direkt an der Weser mit baumbestandener Terrasse und Blick auf das Schloss und die Weser abwärts. Die Gaststätte barst geradezu von Radfahrern. Dennoch fand auch ich einen Traumplatz und kühlte mich mit einem eiskalten großen Spezi ab. Über dem Strauchwerk am Ufer flitzten Hunderte von Möwen hin und her. Kein Wunder, waren die Mückenschwärme darüber derartig dicht, dass ein Durchblicken nicht möglich war. Einen Euro für jede Mücke, wer gab sie mir?
Weiter ging die Fahrt; an Beverungen vorbei, nach Würgassen. Das dortige Kernkraftwerk sah völlig anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Klar, es war ja längst stillgelegt. Ich befand mich also bereits kurz vor Bad Karlshafen. Ich wusste, dass es am Stadtrand eine Personen-Seilfähre gab, die ich vor einigen Jahren einmal benutzt hatte. Das Boot hatte keine Landungsklappe und lief auch nicht auf eine Rampe auf, sondern die Passagiere mussten von einem Ponton aus in das Boot steigen. Ich erinnerte mich, damals etliche Schwierigkeiten gehabt zu haben, mein Rad mit dem Gepäck in das Boot zu hieven und hinterher wieder hinaus zu wuchten, daher benutzte ich die hohe Brücke der Bundesstraße. Die Steigung der Auffahrt betrug etwa 18 %. Ich machte den Fehler, auf der halben Strecke einen Verholer einzulegen. Beim Wiederanfahren schlug das Schleudertrauma erbarmungslos zu und ließ mich unsanft auf die Schnauze fallen. Vorsichtshalber schob ich mein Rad den Rest der Rampe hinauf. Kurz vor Bad Karlshafen lag etwas von Ufer entfernt eine ausgebaute Scheune, aus der schon von Weitem schreckliche D-“OI“-tschland-Musik drang. Und als ich daran vorbei fuhr, strömte eine erschreckend große Anzahl von Glatzen daraus hervor und begann martialische Kampfübungen zu praktizieren – in aller Öffentlichkeit! Au, Weia!
Das erste Mal auf einer Weserfahrt fuhr ich nach Bad Karlshafen hinein. Ich war völlig überrascht, welch schönes Städtchen das war! Der Kern bestand aus einer wunderbar erhaltenen Barock-Stadtanlage, die dann natürlich eine bestimmte Eigenschaft aufwies: sie war völlig baumlos. Deshalb war es in der Innenstadt extrem heiß. Ich versuchte an einem Imbiss in einem Park am Weserufer Wurst und Pommes zu bekommen, aber die junge Frau am Tresen beschied mir: „Tut mir leid, aber die Leute haben mir heute die Bude eingerannt, ich habe nichts mehr!“ Ich begnügte mich dann mit einem leckeren Wassereis (Capri) und fuhr noch einmal in den Stadtkern, um mir ein Gartenrestaurant zu suchen. Es gab so einige, die waren jedoch völlig schattenlos, und darauf hatte ich wirklich keine Lust. Also fuhr ich wieder aus der Stadt heraus, kam an einem Einkaufszentrum vorbei, sah einen Aldi- und Rewe-Markt und steuerte sofort den Parkplatz an. Ich hatte Glück: Bei Aldi konnte ich endlich die ersehnte Iso-Matte erstehen. Ich fügte sie sofort meinem Gepäck zu und stopfte die alte in einen bereit stehenden Papierkorb. Als ich vom Rewe-Markt zurück kam, war sie bereits weg. Ich wollte eigentlich Butter kaufen, aber es war so heiß, dass ich lieber darauf verzichtete und mit vier Schinkenknackern für das Abendbrot vorsorgte. Den inzwischen beißenden Hunger stillte ich mit einer großen Pizzatasche im angeschlossenen Café. Aber was war denn das für eine Pizzatasche? Ein labberiger, klebriger Blätterteigmantel mit einer undefinierbaren Fleischfüllung, fern jeglichen Pizzageschmacks. Aber es füllte den Magen und sollte wohl bis zum Abend reichen.
Andere Radler rieten mir, nicht weiter den Weser-Radweg zu benutzen, sondern auf die Radroute R1 zu wechseln, sie sollte viel leichter zu befahren sein. Nun, mir kam der Weserradweg bisher keinesfalls schwer vor, aber ich kannte den R1 noch nicht und ergriff diese Alternative. Und ich fand einen sehr, sehr glatten und neuen Radweg vor, der herrlich zu fahren war und von vielen Aussichtpunkten tolle Blicke über das Wesertal bot. Auf einem Parkplatz mit Sitzgelegenheiten an einer solchen Aussicht tummelten sich Horden von Radfahrern. Autofahrer hatten überhaupt keine Chance, auf diesen Platz zu gelangen, so voll war er. Bei einem Ort mit dem schönen Namen Gewissenruh verrichte wieder eine Seilfähre ihren Dienst. Die wievielte war es eigentlich jetzt an der Weser? Auch hier schauten sich wieder zahlreiche Radfahrer den Fährbetrieb an. Beim entspannten Zuschauen fasste ich den Entschluss, heute nur bis Gieselwerder zu fahren. Ich fühlte mich nicht erschöpft, nicht kaputt, ich wollte mir einfach nur einen schönen Nachmittag und Abend machen. Es war nicht mehr weit bis zu meinem Ziel, das Wesertal weitete sich, und die Radroute führte auf autofreien Wirtschaftswegen in vielen Windungen auf Gieselwerder zu, wo die Hänge wieder enger zusammen rückten. An einer Biegung kurz vor dem Ort pinkelte ich breitbeinig an einen Busch, in dem eine Drossel saß, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Die Drossel schoss aus dem Busch heraus, knallte gegen mein Schienbein und ließ mich so erschrecken, dass ich orientierungslos meine Hose voll pinkelte. Ich wechselte schnell die Hose, ließ das uringetränkte Stück am Gepäckträger hinter mir her flattern und konnte bereits auf dem Campingplatz wieder eine trockene Hose vorweisen. Ich wusch sie dann doch aus und legte sie in die Sonne zum Trocknen; der Mikrofaserstoff war innerhalb einer Viertelstunde wieder trocken und sauber.
Auch mein nasses Zelt wurde in der warmen Sonne sofort trocken. Ich stand unmittelbar am Weserufer. Der Kaffee nach der erfrischenden Dusche war der reinste Wahnsinn. Die Vorsorge mit den Schinkenknackern erwies sich als richtig: Meine Restbutter war flüssig wie Wasser. Ich verschlang also die vier Würste und glaubte, dann am nächsten Morgen bei moderaten Temperaturen ein entsprechend reichhaltiges Frühstück zu mir nehmen zu können. Kurz nach meinem Abendessen, na, ja, Spätnachmittagessen kamen Kajakfahrer angepaddelt, legten an, zogen das Boot aus dem Wasser und begannen, umständlich genau neben mir das Zelt aufzubauen. Es war ausreichend Platz für einen größeren Abstand vorhanden. Aber vielleicht wollte dieses ältere Paar genau zeigen können, welch erhebend esoterische Lebensweise sie doch pflegten. Das versunkene Schweinegrinsen wollte und wollte nicht aus ihren Gesichtern weichen. BRRRRR...
Ich kam erst spät zum Schlafen. Das nahe gelegene Schwimmbad verbreitete bis 20 Uhr, also bis Betriebsschluss, ein Höllenspektakel. Der Platzverwalter erzählte mir, dass die Gemeinde die Auflage bekommen hätte, das Schwimmbad für mindestens 700.000 Euro zu sanieren, anderenfalls würde es geschlossen. Ohne das Schwimmbad können wir auch gleich den Campingplatz aufgeben, meinte der Verwalter bedauernd. Denn die Gemeinde hatte diesen Betrag nicht zur Verfügung. Nachdem in der Badeanstalt Ruhe eingekehrt war, machte sich in der Ferne Donnergrollen bemerkbar, und der Himmel bezog sich. Ein Wärmegewitter bildete sich. Für ungefähr neunzig Minuten herrschten Blitz, Donner und Starkregen. Das Gewitter war im Zeltinneren faszinierend anzusehen, weil ich den Eindruck hatte, dass bei den Blitzen die gesamte Umgebung hell erleuchtet war. Der Regen war auf dem Zeltdach so laut, dass ich nicht einschlafen konnte, bevor der Gewitterguss aufgehört hatte.
Wahlhausen / Werra
Ich erlebte einen wunderbaren Morgen, es war vollkommen still. Der Himmel war teilweise bewölkt, die Sonne war aber völlig frei. Als sie über der Hügelkette aufging, beleuchtete sie meinen Zelteingang, vor dem ich schon längst saß und meinen Morgenkaffee genoss. Ein Reiher genau gegenüber machte den typischen langen Hals, stieß aber, während ich ihn beobachtete, nicht zu. Ein angegrauter Schwan kam gemächlich flussaufwärts gepaddelt und wurde richtig hektisch, als ihn an einer Buhnenspitze die starke Strömung erfasste und rückwärts zu treiben drohte. Beim anschließenden Frühstück war die Butter wieder fest, aber die gestrige Hitzebehandlung war ihr offenbar nicht bekommen; sie schmeckte einfach furchtbar. Es war also nichts mit einem ausufernden Frühstück, ich musste mich notgedrungen mit drei Scheiben Brot begnügen. Das ging in den hohlen Zahn. Als ich einpackte, war das Zelt bereits wieder knochentrocken. Es war das erste Mal in diesem Urlaub, dass ich ein trockenes Zelt einpacken konnte – bis auf den ersten Tag selbstverständlich. Die neue Matte von Aldi war hervorragend; sie war breiter als die alte, hielt die Luft beieinander und ließ sich viel leichter zusammen rollen. Ich war gespannt, wie lange sie denn heil bleiben würde. Ich legte gewöhnlich beim Ausbreiten der Matte keine sonderliche Vorsicht an den Tag. Als ich begann, einzupacken, stand der esoterische Kajakfahrer vor seinem Zelt und starrte hinein. Als ich los fuhr, starrte er immer noch. Versuchte er, die Mitte seiner Partnerin zu finden oder sie durch Telepathie aufzuwecken?
Es schloss sich eine herrliche Fahrt durch eine herrliche Landschaft an. Die Temperatur war noch recht niedrig, und es herrschte ein kühler Wind. Aber es war ideal zum Fahren, ich radelte nur in kurzer Hose, T-Shirt und Hemd. Die Weser war hier bereits erheblich schmaler, Schiffsverkehr war nicht mehr zu verzeichnen. Viele Buhnen engten das Fahrwasser ein, und etliche Wasserwanderer eilten den Fluss abwärts. Ich wusste überhaupt nicht, dass es hier an der Weser so viele Burg- und Schlossruinen gab. Zum Teil lagen sie in einer solch verwegenen Lage, dass ich mich fragte, wie denn dort ein Hinaufkommen wäre. Einsam auf unwegsamen Bergspitzen thronten sie, weit das Wesertal beherrschend. Viele dieser alten Bauwerke waren zu besichtigen – ich tat es nicht. Die Fahrt war so schön, so leicht, gleitend unter Alleen alter Bäume, dass ich unversehens drei Viertel der Stecke nach Hannoversch-Münden zurück legte, ehe mir der Sinn nach einer Zigarettenpause stand. Ich genoss sie wieder einmal bei einer weiteren Seilfähre, in Gesellschaft von Heerscharen anderer Radtouristen. Der restliche Weg nach Hannoversch-Münden gestaltete sich dann ein wenig anstrengender, weil die Strecke teilweise weit vom Flusslauf weg führte und durch waldiges Hügelland führte, verbunden mit einigen bemerkenswerten Steigungen. Auch der böige Gegenwind tat ein Übriges. Aber dennoch war die Fahrt eine einzige Wucht.
Ich war nicht das erste Mal in Hannoversch-Münden. Ich erinnerte mich, vor einigen Jahren einfach durchgeradelt zu sein, weil ich diese ewige Fachwerkarchitektur an der Weser nicht mehr sehen konnte. In diesem Jahr war es anders. Ich schlenderte durch die beeindruckende Altstadt mit den teilweise über 450 Jahre alten Fachwerkhäusern. Zum größten Teil waren sie restauriert worden und bestens in Schuss gehalten. Nach Lage der sichtbaren Deckenbalken mussten die Fußböden im Inneren furchtbar schief sein. Vor der zentralen Kirche fand ein unsinniges Brimborium um eine Stele statt, die vor zwei Wochen von einem sogenannten „Bremer Künstler“ anlässlich des Kirchentages aufgestellt worden war. Kurz darauf wurde die Stele von Randalierern beschädigt. Seitdem wurde sie „begleitet“ von irgendwelchen Kirchengrößen und Jugendgruppen. Den flanierenden Touristen wurde dann ein haarsträubender Unsinn über den Sinn der Stele und die Intention des Künstlers erzählt. Ich musste mir diesen Quark anhören, weil ich im Garten eines nahe gelegenen Restaurants saß, nämlich im „Küsterhaus“, in dem ich mein Mittagessen einnahm. Ich hatte Thüringer Riesenbratwurst als Currywurst mit Pommes Frites und Mayonnaise. Anfänglich schmeckte das Essen hervorragend, der eisige Wind ließ die Speisen jedoch so schnell erkalten, dass ich den Rest des Essens nur mit langen Zähnen herunter bekam. Aber natürlich aß ich alles auf. In diesem Garten saß ich unter alten Kastanien und schaute mir die Leute in der Fußgängerzone an. Warum waren so viele Menschen so entsetzlich dick? Lediglich die männlichen Jugendlichen waren in Schnitt einigermaßen normalgewichtig, die weibliche Jugend neigte eher zu wandelnden Hefekuchen. Es war einfach erschreckend anzusehen.
Ich saß dort geschlagene eineinhalb Stunden, dann trieb es mich doch weiter die Werra aufwärts. Ich nahm den Werra-Radweg unter die Räder. Beim Losfahren in Hamburg hatte ich noch die Vorstellung gehabt, einmal an den Niederrhein zu fahren, nach Aachen, Trier und Xanten, diesen uralten Städten Deutscher Geschichte. Und wo war ich jetzt? An einem Ort jüngster Deutscher Historie. Die innerdeutsche Grenze existierte nicht mehr, ich war nur noch wenige Kilometer von der ehemaligen Demarkationslinie entfernt. Wie sagte doch unser Sohn Tobias beim spannenden Verfolgen der Direktübertragungen des Fernsehens anlässlich des Berliner Mauerfalls: „Jetzt weiß ich, was es bedeutet, Geschichte zu erleben!“ Aber noch war ich in Hessen und unterquerte nach kurzer Zeit die berühmte Werratalbrücke mit der Autobahn A 7 und der ICE-Trasse. Ungeheurer Lärm scholl von dort droben herunter – es war eben keine Ziegelstein- oder Feldstein-, sondern eine Stahlbetonbrücke. Als ich dann die Werra aufwärts den Hang hinauf kletterte, sah ich noch lange die Autobahn, die sich lindwurmgleich Richtung Norden schlängelte. Die ICE-Trasse war verschwunden, sie versteckte sich im Tunnel. Die alte Nord-Süd-Bahnstrecke von Bebra schwang sich hoch auf der anderen Talseite am Berg entlang. Der Charakter der Landschaft war jetzt lieblicher, sanfter. Die Höhen waren flacher, die Täler weiter. Die Werra floss gemächlich dahin, trotz der vielen Staustufen von zahlreichen Wasserwanderern bevölkert. Und ich musste schon wieder einkaufen! Das Wochenende stand bevor. In Witzenhausen fragte ich mich nach einem Supermarkt durch, fand den „Herkules-Markt“ am Stadtrand und packte mir nach Herzenslust die Taschen voll. Sogar die Meggle-Butterportionen und original Thüringer Bratwürste bekam ich.
Den Werraradweg hatte ich überhaupt nicht so in Erinnerung. War er noch vor 11 Jahren schlecht ausgeschildert, holprig und uneben, war er jetzt größtenteils auf neuen Trassen verlegt, die offenbar mit viel Arbeit bestens angelegt waren. Damals musste ich bei Ludwigsburg auf die Straße ausweichen und sah mich mit einem furchterregenden Lastwagenverkehr auf enger Fahrbahn konfrontiert. Diesmal fuhr ich auf der anderen Flussseite über asphaltierte Wirtschaftswege und konnte die exponiert gelegene Jugendherberge oben in der Ludwigsburg viel besser erkennen. Nur im Werrabogen vor Lindewerra folgte der Weg noch der alten, bekannten Streckenführung mit entsprechend rauer und fahrradfeindlicher Oberflächenbeschaffenheit. Dafür gab es anheimelnde Rastplätze, gestaltet wie die im Thüringer Wald. Was Wunder, befand ich mich doch bereits in Thüringen. Von der ehemaligen Grenze hatte ich nichts bemerkt. In Wahlhausen, kurz vor Bad Sooden-Allendorf erreichte ich den Campingplatz „Oase“. Im Westen zogen dunkle Wolken auf, daher beschloss ich, hier zu übernachten. Auf einem baum- und schattenlosen Gelände hatte ich hier vor 11 Jahren eine ausgezeichnete Currywurst gegessen. Ich erkannte den Platz nicht wieder. Dichte Baumreihen begrenzten die einzelnen Stellplätze und sorgten so für ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit. Die terrassenartige Zeltwiese lag direkt am Werraufer, vom Wasser getrennt durch eine dichte Strauchreihe, die mit einer Unzahl von Vögeln und Insekten bevölkert war. Gerade, als ich mit dem Zeltaufbau fertig war, begann es heftig zu stürmen und zu regnen. Ich musste das Abendbrot im verschlossenen Zelt einnehmen, weil Wind und Regen aus allen Richtungen auf mich eindroschen. Zum Glück hatte ich diese praktische, geräumige Apsis, in der ich meine Lebensmittel verstauen, meine Taschen unterbringen, mir das Essen bereiten und geschützt genießen konnte. Als es später wieder trocken wurde, trank ich noch gemütlich meinen Tee, schrieb das Tagebuch und freute mich auf das Schlafen. Es musste einfach wunderbar werden.
Ein Kuckuck wünschte mir lange und lautstark eine gute Nacht.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2015.
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von Margit Marion Mädel
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