Michael Dauk

Schweiz 2000 - Auszug 4 Pässe, Eiger, Mönch und Jungfrau

Disentis / Mustér

Ich wiederhole den Anfang des gestrigen Tages: ich saß im Zelt, schrieb im Tagebuch, und es regnete, regnete, regnete. Jedoch begann auch dieser Tag wieder schön. Pünktlich zum Zusammenpacken hörte der Regen auf, blaue Flecken zeigten sich am Himmel, und mein Fahrrad fuhr endlich wieder geräuschlos! Kein Knacken mehr in der Felge, kein Rubbeln im kleinsten Gang. Den halben Tag noch hörte ich nach verdächtigen Geräuschen, aber die traten nicht mehr auf. Allerdings war dieser Zustand teuer erkauft: zu den 80 Franken noch das zusätzliche Gewicht von Nabe, Ritzelsatz und Speichen. Da ich ja ohnehin viel zu viel mit mir herum schleppte, kam es mir darauf auch nicht mehr an. Bisher hatte ich ja jeden Pass ohne Schieben geschafft, wenn es auch Dagmar oftmals zu langsam ging. Die schadhafte Felge hatte ich aber wohlweislich zusammen gefaltet und in den Müllcontainer gestopft.

Bereits in Aquarossa ging es tüchtig aufwärts. Es mussten ja allmählich ein paar Höhenmeter geschafft werden, wir waren noch verdammt tief unten. War gestern die Landschaft noch ohne besonderen Reiz, bot sich uns heute ein erfreulich anderes Bild. Die Besiedelung wurde spärlicher, es gab keine Industrie mehr, abgesehen von einem Sägewerk, aber das gehörte hier einfach hinzu. Die wenigen Dörfer, die wir passierten, waren äußerst malerisch, mit wunderschönen, alten, kleinen Kirchen, winzigen Feldsteinhäuschen, engen, verwinkelten Gassen und kleinen Plätzen mit Trattorias unter schattigen alten Bäumen. Es gab immer noch vereinzelt Palmen zu sehen.

Es wurde zunehmend wärmer, und wir schwitzten uns beim Anstieg die Seele aus dem Leib. Bald würde ich mir einen Gürtel kaufen müssen. Ich hatte bereits so viele Pfunde abgenommen, dass mir die Hosen über die Hüften rutschten. Und ich hatte die Reise durchaus nicht mit Übergewicht begonnen.

In einem Talkessel mit dem pittoresken Ort Olivone schraubten wir am Hang klebend in die Höhe, bis wir fast senkrecht mehrere hundert Meter unter uns die Straße erkennen konnten, auf der wir vor ungefähr neunzig Minuten in dieses Tal gekommen waren. Auf der sich anschließenden Hochebene wieder ein schöner Ort, Camperio. Der Charakter der Häuser hatte sich gewandelt: Sie sahen nicht mehr italienisch, sondern schon wieder Schweizerisch aus. Eine Schulklasse samt Kindern und Lehrerinnen, eine davon im rosa Bikini (!) winkte uns fröhlich zu und wünschte uns gute Fahrt. Der Weg führte uns durch die Ortsmitte auf eine steile und hohe Felswand zu. Wir unterquerten eine Straßenbrücke, fuhren einen engen Kreis – und befanden uns jetzt auf der Brücke mit Blick zurück auf den Ort. Eine dunkle Schlucht und ein langes, tief eingeschnittenes Hochtal schlossen sich an. Das Tal erstreckte sich mehrere Kilometer Richtung Norden, wurde immer enger und war am oberen Ende durch einen imposanten Wasserfall abgeschlossen. Wir kletterten auf der westlichen Hangseite hinauf, auf der gegenüber liegenden Seite immer die alte Römerstraße vor Augen. Am Ende des Tales führte uns eine Brücke direkt über den Wasserfall.

Ein weiteres Hochtal, am Grund tischeben, versprenkelt einzelne Almhütten, viele, viele Wiesen und Weiden, einige Baumgruppen. Wir durchquerten Aquacalda (gab es hier heiße Thermalquellen?), passierten am Ortsrand den schönen gelegenen Campingplatz, der jedoch einen verlassenen Eindruck machte. Wir waren jetzt über 1.700 Meter hoch, und der Baumbestand wurde spärlicher. Umso überraschter war ich, im nächsten Hochtal viele, viele Koniferen anzutreffen, die auf geradezu unglaublich schönen Wiesen standen. Löwenzahn in gelb und weiß, Lupinen, Margeriten groß und klein, einige gelbe und blaue Blumen, deren Namen ich nicht kannte und immer wieder dazwischen dieses kaum fassbare. dunkle und leuchtende Blau des Enzians. Noch nie hatte ich so viel Enzian gesehen.

Die letzten paar Kilometer führte der Weg über eine Hochebene mit Weiden, ohne Baumbestand, mit vielen Felsbuckeln in den Wiesenflächen. Die Steigung war jetzt recht mäßig, wie überhaupt der Lukmanierpass von der Südseite her verhältnismäßig einfach zu fahren war. Selten benötigte ich den kleinsten Gang, Dagmar sowieso überhaupt nicht. Und der Aufstieg war traumhaft schön! Auf der Passhöhe radelten wir am Ufer eines abweisend wirkenden Sees entlang, die Aussicht immer wieder unterbrochen durch Stützpfeiler einer sich schier endlos lang hinziehenden Galerie. Zwei kahle hohe Betonpfähle ragten aus dem Wasser heraus, dessen Zweck ich nicht ergründen konnte.

Wie hatten wir uns auf die tosende Abfahrt hinunter nach Disentis / Mustér gefreut! Aber daraus wurde leider nichts. Kahle eintönige Weideflächen beherrschten das Bild, ein böiger, heftiger und eiskalter Wind stemmte sich uns entgegen und hemmte uns derart, dass wir trotz des starken Gefälles häufig in die Pedale treten mussten, um voran zu kommen. Ich hatte mir auf der Passhöhe Jacke und Handschuhe angezogen. Dagmar hatte es nicht für erforderlich gehalten und fror jetzt erbärmlich. Aber anzuhalten und etwas Warmes anzuziehen, das ließ ihr Stolz nicht zu. In Curaglia, dem letzten Ort vor Disentis, kauften wir noch feist ein. Wir hatten inzwischen einen derartigen Hunger, dass ich für mich sogar zwei kleine Schweinekoteletts für über 10 Franken kaufte. Der letzte Teil der Abfahrt war dann doch noch schön. Er führte durch die zerklüftete Medelser Schlucht. Langgestreckte Galerien schützten die Fahrbahn vor drohendem Steinschlag. Eindrucksvolle Felsbrocken im wild rauschenden Wasser des Flusses zeugten davon, dass hier so einiges an Geröll herunter kam. In der dunklen Schlucht ging es steil abwärts. Leider mussten wir wegen der vielen Kurven und der durch die Galerien erzeugten schwierigen Lichtverhältnisse sehr auf die Straße achten, so dass nur selten der Blick frei war für die neben und unter uns tobenden Naturgewalten.

Der Campingplatz am Ende der Schlucht war wieder Erwarten ziemlich belegt. Wir bekamen einen recht ungünstigen Platz zugewiesen: Im Falle eines Wolkenbruches standen wir mit unseren Zelten genau in einer Senke, die zum kleinen See führte, der am Rand des Geländes lag. Aber zum Glück gab es bisher keinen Wolkenbruch – es regnete nur ständig. Der Regen setzte punktgenau ein, als unsere Zelte fertig aufgebaut und unsere Sachen verstaut waren. Also fanden ein verspätetes Mittagessen, Erholungsschlaf, Abendessen und Tagebuchritual wieder einmal im Zeltinneren statt. Wir konnten nur hoffen, dass es morgen wieder besser wurde. Der Oberalppass ist per se schon nicht einer der schönsten Pässe. Bei schlechtem Wetter ist er dann richtig öde. Zum Glück ist auch er ein „leichter“ Pass mit einer Steigung von maximal 10 Prozent.

 

Disentis / Mustér

Es regnete mit kurzen Unterbrechungen die gesamte Nacht, und auch am Morgen trommelten die Tropfen ihr Lied auf das Zeltdach. Beide waren wir der Meinung, unter diesen Umständen heute nicht über den Oberalppass zu fahren, sondern noch einen weiteren Tag hier zu verbringen. Schlechter konnte das Wetter auch morgen nicht sein. Nach Auskunft der Platzverwalterin sollte es jetzt ohnehin schöner und wieder wärmer werden

Also nutzten wir die Zeit und zu einem Wochenendeinkauf, einem sich anschließenden, ausgedehnten Frühstück, einem Mützchen Vormittagsschlaf sowie Wartungsarbeiten am Fahrrad (Sattel nachstellen und nachspannen, Bremsen neu justieren, alles ölen, Lenkungsdämpfer nachziehen, Lager des Steuersatzes neu einstellen usw., usw.).

Am Nachmittag machten wir einen kleinen Ausflug zu einer in der Nähe gelegenen Holzbrücke aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, an der wir beide im vergangenen Jahr zu verschiedenen Zeitpunkten Rast gemacht hatten. Auch bei dieser Brücke war das Unterwerk sehr schwierig zu erkennen. Schräg von der Seite sah ich einige schräge Stützbalken mit Diagonal-Kreuzgurten. Das Oberwerk war nicht in Bogenform ausgeführt, sondern gerade Balken mit Kreuzstreben sorgten für die Tragfestigkeit. Nun waren diese Balken aber nicht durchgehend (bei 60 Meter Brückenlänge wohl zu damaliger Zeit kaum möglich – Leimbinder in jeder gewünschten Länge gab es zu dieser Zeit noch nicht), sondern alle 4 Meter aneinander gelascht. An diesen Stellen waren auch die Fußpunkte der Kreuzverbinder. Diese Konstruktionsmethode barg natürlich die Gefahr des Absackens. Dieses geschah auch im Laufe der Jahre, und wieder war es der Kanton Graubünden, der die Brücke vor dem Einsturz bewahrte: jeweils an den Enden der Brücke wurden Stahlstützen in Betonfundamente gesetzt und nach hinten verstrebt. Von diesen Stützen wurden Stahltrossen unter quer unter der Brücke angebrachten Doppel-T-Trägern gezogen und gespannt. So entstand quasi eine Hängebrücke, auf der die alte Brücke ruht. Diese Art der Renovierung war bei Weitem nicht so authentisch und kunstvoll ausgeführt wie an der Brücke bei Churwalden, zumal bei der Disentis-Brücke auch noch das Dach mit Kupferplatten statt Holzschindeln gedeckt wurde. Aber vielleicht war dieses Bauwerk nicht anders zu retten.

Am Nachmittag schien endlich wieder die Sonne, unsere Sachen konnten zum Trocknen ausgebreitet werden, und es war ein herrliches Faulenzen in der schönen Wärme. Zum Abend gönnte ich mir Blumenkohl in Käsesauce (eigentlich war es eine Käsesuppe), ein paar Scheiben Brot rundeten das Mal ab. Nun saß ich wieder reichlich gesättigt vor dem Zelt und schrieb, während vom nahen Schießstand das unentwegte Geballere der Schützen herüber scholl.

 

Realp

Wettermäßig begann der Tag überhaupt nicht so, wie die Platzverwalterin voraus gesagt hatte: dunkle Wolken zogen über den Himmel, und es war bitter kalt. Dazu muss gesagt werden, dass wir in der Regel bereits gegen fünf Uhr aufstanden und zum Duschen gingen. Um diese Zeit war in den Bergen von Sonne noch keine Spur. Als Dagmar um sechs Uhr vom Morgenei zurück kehrte, erzählte sie schier Unglaubliches: am Platzeingang hielt sich ein Mann auf, der ein Kamel an der Leine führte, das in aller Seelenruhe die erreichbaren Zweige der Bäume abäste. Dagmar meinte, hätte sie nicht gewusst, dass sie bereits den ersten Kaffee hinter sich gehabt hätte, hätte sie es für einen Traum gehalten.

Es war schnell zu merken, dass die dunklen Wolken in Wahrheit Frühdunst waren, der aus den Tälern aufstieg und allmählich von der aufgehenden Sonne aufgelöst wurde. Es versprach also, ein schöner Tag zu werden. Die ersten 15 Kilometer führten bei mäßiger Steigung gemächlich den Hang des Hochtals hinauf, immer weiter unter uns der Vorderrhein, jetzt nur noch ein mittlerer Gebirgsbach. Wir passierten Sedrun. Der Ort beherbergte zurzeit und wohl noch etliche Jahre länger eine Baustelle des Gotthard-Basistunnels.

Ab Sedrun ging es dann schon zur Sache: Mit etwa 8 % Steigung stieg die Straße immer weiter den Hang hinauf, lange Abschnitte genau parallel zur Trasse der Furka-Oberalp-Bahn. Der Rhein lag jetzt sehr tief unter uns, ein Golfplatz mit kurzen Bahnen – anders war es dort auch nicht möglich – war am Rand des Flussbettes platziert. Kurz hinter Tschamut, 5,2 Kilometer vor der Passhöhe, noch eine letzte Zigarettenpause, und dann ging es ohne Zwischenhalt hinauf. Die Sonne brannte vom jetzt wolkenlosen Himmel, der Schweiß floss in Strömen, und ich war sehr froh über meinen blauen Schlapphut. Linker Hand sprang hoch droben ein Wasserfall über eine Felskante. Dahinter lag ein kleiner See, der von einem Gebirgsbach gespeist wurde. Der Beginn dieses Baches war die Quelle des Vorderrheins.

Durch viele Kurven fuhren wir den Berg hinauf, zum Schluss noch ein längeres, leicht gebogenes Stück, und die Passhöhe war erreicht. Auf den letzten hundert Metern wurden wir von einem gut gefüllten Zug überholt. Mit Sicherheit wurden wir auf etlichen Videofilmen verewigt, wie wir uns die letzten Meter hinauf kämpften. Am Oberalppass glänzte der See dunkelblau vor den schneebedeckten Gipfeln. Welch anderes Bild zum vorigen Jahr, als der See eisbedeckt war, die umliegenden grünen Hänge unter einer dichten Schneedecke lagen und der Himmel ein einziges trübes Grau war.

Bei diesem herrlichen Wetter konnten wir uns aber wirklich auf die Abfahrt freuen. Und sie war auch tatsächlich wunderschön. Schon bald konnten wir den weiten Talkessel von Andermatt überblicken, die Dreitausender rings herum, im Hintergrund Hospental, noch weiter Realp, und dahinter, noch deutlich zu erkennen, die Serpentinen hinauf zum Furka-Pass. Nicht lange, und die Dächer von Andermatt tauchten fast senkrecht unter uns auf. In einigen Kehren ging es in rasender Fahrt hinab in den Ort, leider zum Schluss gebremst durch einen offensichtlich unerfahrenen und übervorsichtigen Busfahrer. Wegen der unübersichtlichen Kurven war ein Überholen leider nicht möglich.

Andermatt war, wie nicht anders zu erwarten, voller japanischer Touristen. Aber da wir bereits gegen 11 Uhr 30 dort ankamen, ergatterten wir noch ein schönes Plätzchen vor dem Hotel „Zum Sternen“ und ließen uns ein köstliches Mahl aus Salat, Urner Rösti und Kaffee schmecken. Bei Dagmar allerdings mit Abstrichen: Die Rösti waren nicht so sehr ihr Fall.

Dieses Jahr war der Wind günstig: Er unterstützte uns kräftig, als wir durch das lang gestreckte Tal Richtung Realp radelten, die Abzweigung zum Gotthard-Pass in Hospental passierten und nach überraschend kurzer Zeit den Campingplatz kurz vor Realp erreichten. Er war nur mäßig gefüllt, wohl, weil wir bereits gegen 14 Uhr dort waren, so dass wir uns einen schönen Platz aussuchen konnten, den Nachmittag mit Faulenzen, Kaffeetrinken und genussvollem Abendessen verbrachten. Als die Sonne hinter dem Bergkamm verschwand, wich die angenehme Wärme blitzschnell einer empfindlichen Kälte, so dass wir unsere Sachen zusammen packten, ich abends im Zelt eingepackt in den Schlafsack eingekuschelt schrieb und den heißen Tee genoss.

Ein jüngerer Mann gab Anlass zum Schmunzeln: Er kam mit einem Kleinbus auf den Platz gerollt, legte eine Rampe an die geöffnete Heckklappe, schob ein Motorrad (irgend so ein heißes Reisteil) heraus, stellte es neben dem Bus ab, kletterte den kurzen Hang zur Furka-Reuss hinauf, positionierte dort eine Kamera, betätigte den Selbstauslöser, rannte den Hang wieder hinunter, stellte sich blöde grinsend, lässig einen Arm auf den Sitz gelehnt, an sein Motorrad und wartete aus das Klicken. Dagmar meinte nur: „Das ist ein ganz armes Schwein“.

Als ich abends noch einmal zur Toilette ging, blickte ich nach Südosten und sah die Spitzen des Gotthard-Massivs im Schein der letzten Abendsonne golden erglühen. Allein für diesen Anblick hatte es sich gelohnt, in die Alpen zu fahren.

Und der Platz war jetzt voll!

 

Innertkirchen

Das war ein unglaublich schöner Tag! Er begann allerdings bitter kalt: Als ich gegen vier Uhr fünfundvierzig aufstand, entdeckte ich Eis auf dem Zeltdach. Es war bereits nahezu taghell, weil ein fast voller Mond das Morgengrauen verstärkte. Wegen des ungeheizten Duschraums und der im Freien gelegenen Waschplätze nur mit kaltem Wasser verzichtete ich auf die Morgenwäsche und begnügte mich mit heißem Kaffee. Dagmar kam zum gemeinsamen morgendlichen Kaffeetrinken sogar mit ihrem Schlafsack zu mir ins Zelt gekrochen. So schlürften wir dick eingemummelt unsere starken Wachmacher. Beim Frühstück musste ich die Butter buchstäblich auf das Brot brechen oder Späne mit dem Messer abschaben, so hart war sie.

Bereits während des Frühstücks beschien die Sonne unsere Zelte, und als wir fertig gepackt hatten, war kein Gedanke mehr an lange Hosen, Jacke oder gar Handschuhe, so schnell wurde es warm! Warm wurde es uns sowieso, denn unmittelbar hinter Realp begann der Aufstieg zum Furka-Pass. Trotz der Anstrengung war die Fahrt das reine Vergnügen, denn die Sonne lachte vom wolkenlosen Himmel, und mit jeder weiteren Kehre hatten wir einen schöneren Blick zurück auf Realp, den Campingplatz, Hospental, Andermatt und den dahinter liegenden Oberalppass. Schon bald war mein T-Shirt völlig durchnässt, und es ging immer weiter steil bergauf. Als wir bei dem auf über 2.000 Meter hoch gelegenen Hotel ankamen, konnten wir in der Ferne die Gebäude der Passhöhe sehen. Bis dort hin war es aber noch eine weiter Weg eine lange, gewundene Straße ohne Kehren entlang, die zum Ende immer steiler wurde. Misstrauisch geworden durch die vielen Wohnmobile am Straßenrand und die aufgestellten Schilder „Hopp, Schwyz!“ fragte ich einige Leute, ob die Tour de Suisse heute hier vorbei führen würde. Sie führte. Allerdings erst am Nachmittag gegen 17 Uhr, denn das Feld startete um 14 Uhr in Ulrichen im Rhonetal, erklomm den Nufenen-Pass, rollte hinunter nach Ariolo, überquerte den Gotthard, erholte sich ein wenig bei der Abfahrt nach Andermatt und der ebenen Fahrt nach Realp, um dann den Anstieg zum Furka-Pass zu beginnen und zum Abschluss die rasende Abfahrt hinunter wieder zurück nach Ulrichen zu riskieren. Eine wahre Königsetappe. Wir machten uns keine Sorgen, vom Feld und dem dazu gehörenden Tross überrollt zu werden, denn es war noch früh am Tag und außerdem hatten wir vor, in Gletsch von der Etappenroute abzubiegen und zum Grimsel-Pass hinauf zu steigen.

Das frühe Aufstehen hatte sich gelohnt, denn wir waren bereits gegen 11 Uhr auf der Passhöhe. Dort bot sich uns ein Traumblick hinunter auf Gletsch, auf die sechs Kehren des Grimsel-Passes, auf den Grimsel-See (also die Aare-Quelle) und die dahinter liegenden Bergriesen der Viertausender, alle überragt vom Finsteraarhorn. Keine Wolke trübte den Himmel, die Berge lagen so klar vor uns wie von einem Teleobjektiv heran geholt.

Als wir uns schließlich doch an die Abfahrt machten, mussten wir uns sehr zusammen reißen, um genügend auf die Straße zu achten. Denn linker Hand war unendlich weit in das Rhone-Tal hinein zu blicken, und südlich davon erhob sich ein gewaltiges Gebirgsmassiv, dessen oberes Drittel eine einzige, weiße, blendende Fläche war. Beim Hotel „Belvedere“ direkt am Ende des Rhone-Gletschers machten wir eine Rast, aßen Wienerli mit Kartoffelsalat, tranken Kaffee und genossen die herrliche Aussicht. Das große, weiße Felsmassiv war der Dom, und links davon lugte sogar vorwitzig das obere Drittel des sonnenbeschienenen Matterhorns hervor. Ich fragte mich, wie oft, oder besser: wie selten im Jahr es wohl her eine solche Fernsicht gab.

Es fiel mir schwer, mich von diesem Anblick zu lösen, aber wir wollten weiter, wollten fort von der Rennstrecke. Also rollten wir, die wir auf 2.436 Meter Höhe geklettert waren, 700 Höhenmeter hinab nach Gletsch, um noch einmal um 400 Höhenmeter zu steigen, hinauf auf den Grimsel-Pass. Der Anstieg war nicht sehr schwer und bot immer wieder Gelegenheit, die das Rhonetal begleitenden Bergspitzen zu bewundern. Auf der Passhöhe herrschte der übliche Rummel mit Restaurants, Souvenirläden, Imbissbuden sowie Bären-, Eulen- und Murmeltierpark. Obwohl ich in diesem Jahr erst drei Murmeltiere gesehen hatte (zwei ausgestopfte und ein überfahrenes), verspürte ich keine Lust, diese Tiere in Käfigen zu betrachten. Wir hielten uns also nicht auf, sondern zogen nur schnell unsere Jacken an und stürzten uns in die Tiefe. Den Anfang machte das uns bekannte Bild der der grünlich gefärbten, abweisend wirkenden Felsen vor dem schlammig-braunen Stausee, danach wurde die Landschaft schöner, Bäume bestanden die tiefgrünen Weideflächen, immer wieder überquerten wir die blitzende, funkelnde, über die Steine springende Aare.

Dieses Jahr waren wir gewarnt. Wir wollten nicht wieder wie vor zwei Jahren blindlings in einen Langen, unbeleuchteten und kurvigen Tunnel hinein schießen. Als der Tunnel mit einem Schild angekündigt wurde, bremsten wir und fuhren vorsichtig in den Tunnel hinein. Diesmal aber war er beleuchtet! Also ließen wir laufen! Die Röhre wies allerdings ein Gefälle von 11 Prozent auf, so dass wir schließlich mit etwa 70 Kilometer in der Stunde hinaus rasten. Das Licht am Ende des Tunnels blendete so stark, dass wir kaum die Fahrbahn erkennen konnten. Trotzdem dachten wir nicht einen Moment ans Bremsen. Es war eigentlich der helle Wahnsinn!

Nach dem Tunnel wurde die Straße friedlicher, und wir rollten gemächlich nach Innertkirchen hinein, fanden den Campingplatz zu unserer Überraschung brechend voll vor, erwischten aber doch noch ein gemütliches Plätzchen. Nach Führen des Tagebuchs wollte ich erst einmal meinen Sonnenbrand am linken Fuß pflegen – wir waren die beiden letzten Tage ständig westwärts gefahren – und überlegen, wie ich übermorgen weiter fahren würde. Morgen wollten Dagmar und ich noch eine letzte gemeinsame Tour ohne Gepäck zur großen Scheidegg, nach Grindelwald, Interlaken, Brienz Meiringen und zurück nach Innertkirchen machen. Dann musste sie sehen, dass sie nach Norden abbog. In knapp zwei Wochen wollte sie wieder in Hamburg sein. Und sie hatte nicht vor, einen Zug zu benutzen!

 

Innertkirchen

Es war schon ein riesiger Unterschied beim Aufwachen heute Morgen zu der frühen Kälte in Realp. Angenehm mild war es, das Aufstehen fiel nicht schwer.

Glücklicher Weise hatte der Kaufmannsladen im Dorf bereits um 7 Uhr 15 geöffnet, so dass wir uns noch Proviant für unsere Tour auf die Große Scheidegg besorgen konnten. Den hatten wir auch bitter nötig, denn der Aufstieg war mörderisch steil. Auf nur 17,5 Kilometer mussten wir über 1.300 Höhenmeter bezwingen. Dafür war die Strecke von nicht geahnter Schönheit. Es war die absolut schönste Passstrecke, die ich je gefahren war. Interessanter Weise hatte ich dieses bereits im letzten Jahr auch über die Fahrt zur Großen Scheidegg gesagt, damals allerdings von Grindelwald aus. Unser Weg führte uns an der Aare-Schlucht vorbei, die wir jedoch rechts liegen ließen, um uns am Nordhang des Berner Oberlandes, also auf der Südseite des Meiringer Tals empor zu schrauben. Teilweise betrug die Steigung wohl an die 18 Prozent. Diese Tatsache hatte natürlich den Vorteil, sehr schnell empor zu kommen und dadurch einen bestrickenden Ausblick auf Meiringen, Hasliberg und das Brienzer Rothorn zu haben. Der wolkenlose Himmel ließ die Sonne bereits sehr früh heiß herunter brennen, so waren wir nur froh, dass der Weg auf weiten Strecken durch dichten Wald führte. An den Reichenbach-Fällen (liegt Sherlock Holmes eigentlich auch dort begraben?) verließen wir das Meiringer Tal und wandten uns gen Große Scheidegg. Schon bald war das mächtige Wetterhorn mit seinen Gletscherfeldern zu sehen, die grellweiß in der Sonne strahlten. Und immer noch führte die Route durch den Wald, ständig begleitet vom Fluss, dessen Wasser tosend über die Felsbrocken sprang.

Bei der Rosenlaui-Schlucht machten wir nicht Halt, denn der Gletscher hatte sich bereits so weit zurück gezogen, dass in der Schlucht wohl kaum etwas davon zu sehen gewesen wäre. Auf der sich anschließenden Hochalm, die erstaunlich eben war, freute ich mich darüber, das normale Gepäck nicht bei mir zu haben. Beim Überfahren der zahlreichen Weideroste wären Milch und Kaffeesahne durch das ratternde Schütteln in Verbindung mit der herrschenden Hitze mit Sicherheit zu Butter oder Quark geworden. War diese Alm bereits idyllisch und lieblich, war die am Ende liegende Schwarzwaldalp von geradezu berückender Schönheit. Etwas erhöht am Hang gelegen, bot sie Aussicht auf die von Baumgruppen durchsetzten Weiden, einen schönen Wasserfall, das Wetterhorn mit seinen Gletschern sowie Hasliberg und die den Sustenpass flankierenden Berggruppen. Selbstverständlich lud dort auch ein Café zum Verweilen ein, und bei Kaffee und Mineralwasser hätte ich Stunden dort sitzen können. Wir wollten jedoch nach oben, nach oben. Also machten wir uns auf den Weg zum steilsten Stück der Tour. Es war schwer zu schätzen, aber ich vermutete, dass um die 20 % Steigung zu bewältigen waren. Dermaßen schweißgebadet hatte ich Dagmar noch nie gesehen. Aber die atemberaubende Landschaft lenkte von der Anstrengung ab. Häufig ging der Blick hinauf zum Wetterhorn, das sich immer gewaltiger vor uns auftürmte. In immer weiteren Kehren zog sich der Weg hinauf, die Bäume wurden seltener – und der Schatten auch. Aus Angst vor einem erneuten Sonnenstich behielt ich den Schlapphut auf, obwohl er wie bereits beim Aufstieg zum Albula-Pass vor lauter Fliegen nicht mehr zu sehen war. Irgendetwas in der Imprägnierung lockte wohl die Insekten an. Oder war es die blaue Farbe?

Nach etlichen Windungen erheblicher Schufterei erreichten wir unser Ziel, die große Scheidegg. Und wir wurden für unsere Mühen auf das Fürstlichste belohnt: dicht am Fuß der 1.800 Meter über uns aufragenden Felswand des Wetterhorns blickten wir hinab auf das tief unter uns liegende Grindelwald, auf den Männlichen, den größten Teil des Mönchs (die Spitze war leider hinter dem Wetterhorn verborgen), die imposante Eigernordwand, die alles beherrschende, schneebedeckte Jungfrau und den davor liegenden Aletschfirn. Dagmar hatte wenig Lust, hinunter nach Grindelwald zu fahren, zu besiedelt erschien ihr das Tal. Mir war es auch nur recht, denselben Weg wieder zurück zu fahren, denn ich wollte morgen ohnehin am Brienzer See entlang fahren, und so sparten wir einen Weg von ungefähr 60 Kilometern, was unseren Beinen vielleicht ganz gut tat. Denn Dagmar wollte sich morgen an den Sustenpass machen, da war mit Sicherheit ein wenig Schonung angebracht. Also brausten wir wieder zurück Richtung Meiringer Tal. Einmal, an einem besonders abfallenden Stück, war ich zu leichtsinnig, zu unvorsichtig, zu naiv: ich sah vor mir ein älteres Wandererpaar, ließ das Rad aber noch laufen und klingelte. Ich war aber viel zu schnell bei den beiden, hatte ungefähr 60 Kilometer in der Stunde auf dem Tacho und die Zeit völlig überschätzt, die ich zu ihnen brauchen würde. Also machte ich eine Vollbremsung, kam aber natürlich auf Grund meiner hohen Geschwindigkeit und des starken Gefälles nicht rechtzeitig zum Stehen. Auf dem engen Weg konnte ich mich gerade eben noch an dem Mann vorbei quetschen. Dagmar erzählte mir danach (sie fuhr hinter mir), dass die beiden sich fast zu Tode erschrocken hätten. Sie war richtig sauer auf mich, wohl auch zu Recht. Die weitere Abfahrt gestaltete ich dann vorsichtiger.

Wir fuhren zunächst nicht nach Innertkirchen zurück, sondern bogen vorher nach Meiringen ab. Auf dem Weg dort hin malträtierte uns eine extrem holprige und steile Naturpiste, die alle 100 Meter von schrägen Wasserablaufrinnen durchsetzt war. Es war also immer ein kurzes Laufen lassen und dann ein starkes Abbremsen, sollten unsere Räder nicht Schaden nehmen.

In Meiringen suchten wir uns ein schattiges Gartenrestaurant, aßen königlich zu Mittag (Vorsuppe: Consommé Doublé, Salat vom Büffet mit diversen köstlichen Dressings, Rindergeschnetzeltes (extrem zartes, ausgesuchtes, vorzügliches Fleisch) mit Butterhörnchen (Nudeln wohlgemerkt), Blumenkohl und jungen Brechbohnen im Speckmantel, Kaffee, Mineralwasser) und machten uns ächzend in der brütenden Mittagshitze auf den Weg nach Innertkirchen. Dort wurden noch die nötigen Einkäufe getätigt, der übliche Erholungsschlaf gehalten, und der Rest des Tages verging in vertrauter Art mit Faulenzen, Abendessen und Schreiben. Ein beeindruckendes Abendrot im Westen versprach einen schönen nächsten Tag.

 

Lauterbrunnen

Am Morgen war wieder einmal kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Es geschah das übliche frühe Aufstehen, nur diesmal beteiligte ich mich nicht an den Aufbruchsvorbereitungen. Allerdings kochte ich Kaffee, während Dagmar duschte. Ich schaute in aller Seelenruhe zu, wie sie ihre Sachen zusammen packte das Rad belud und sich noch einmal frisches Wasser holte. Der Abschied war kurz, aber herzlich. Sie fuhr noch vor sieben Uhr los, hatte sie doch etwa 1.600 Höhenmeter hinauf zum Susten-Pass zu bewältigen. In einigen Tagen würde ich ja selbst sehen, wie schwer oder wie leicht er zu fahren war.

Ich dröhnte noch ein wenig herum, frühstückte in aller Ruhe und machte mich gemütlich ans Zusammenpacken. So war es bereits neun Uhr fünfzehn, als ich endlich den Platz verließ. Die erste Etappe war freilich nicht sehr lang: beim Café am Eingang der Aare-Schlucht machte ich Halt, trank einen Kaffee, aß meine geliebten Wienerli, genoss den Blick zurück auf die südlichen Berge und schaute mir behaglich einen Auffahrunfall an, bei dem ein dösiger Wohnmobilfahrer, der wohl völlig in den Anblick der Berggipfel versunken war, einer voraus fahrenden älteren Frau in das Heck krachte. Es entstand zum Glück lediglich nur ein leichter Blechschaden, die Kontrahenten setzten sich fröhlich plaudernd und lachend ins Café, um bei einer Tasse Kaffee die Formalitäten zu erledigen. Da die Schuldfrage eindeutig war, gab es keinen Streit. Es wurde sich friedlich geeinigt. So sollte es immer sein.

Ein leichter Anstieg am Rande der Aare-Schlucht entlang, dann war es ein schönes, gemütliches Radeln nach Meiringen hinein, auf kaum befahrenen Wirtschaftwegen am Brünigpass vorbei nach Brienz, an dessen Dampferanlegestelle ich aus meinen Vorräten gleich vier Wienerli verdrückte, einen solchen Hunger hatte ich inzwischen wieder. Im Gegensatz zum vorigen Jahr wollte ich diesmal nicht die Straße am Nordufer des Brienzer Sees benutzen, sondern die Velo-Route am Südufer nehmen. Der Weg dort hin war noch sehr leicht, ich kam an zwei sehr schön am Seeufer gelegenen Campingplätzen vorbei, überquerte die Aare, deren schlammig braune Fluten einen äußerst starken Kontrast zum klaren, grünen Wasser des Sees bildeten und erreichte schließlich die Velo-Route. Wer hatte sich nur diese Wegführung ausgedacht? Es ging dermaßen steil bergauf, dass drei Viertel aller Radfahrer, die ich sah, ihr Rad schoben (insgesamt sah ich vier, und der eine, der nicht schob, brauste mir den Berg herunter entgegen). Zwei Kilometer lang währte diese Tortur, um am Ende wieder die Belohnung bereit zu halten. Diesmal sogar doppelt: eine Traumaussicht auf den See und die Griesbachfälle. Es waren mehrere große Wasserfälle dicht hintereinander, der letzte stürzte direkt in den See. Es war möglich, auf Brücken unter einem Fall hindurch zu gehen, direkt über einem Absturz stehen zu bleiben – und zu staunen. Das kristallweiß schäumende Wasser bildete Regenbögen in den leuchtendsten Farben, und, obwohl kein Wölkchen die Sonne in ihrer Kraft behinderte, war es im Bereich der hinab stürzenden Wassermassen angenehm kühl.

Der sich anschließende Weg glich einer Wüstenpiste und war gespickt mit vielen kurzen Steigungen und Abfahrten, bis es endlich wieder zum See hinunter ging nach Iselwald, einem Postkartenort. Das ehemalige Fischerdorf war jetzt nur noch eine Touristenherberge auf einer Landzunge, die in den See hinein ragte. Die Uferpromenade mit ihren schattigen Bänken war eine Pause wert, und so konnte ich das erste Mal beobachten, dass jemand die Scheiße seines ausgeführten Hundes tatsächlich in ein Plastiktütchen sammelte und diese dann in einen eigens dafür aufgestellten Behälter warf. Von meinem Rastplatz hatte ich einen schönen Blick auf das jenseitige Ufer und die mit prallem Leben erfüllte Freibadeanstalt im Vordergrund, in der Hunderte von Kindern beim Spielen und Toben im Wasser einen Höllenlärm veranstalteten.

Inzwischen war es dermaßen heiß geworden, dass mir der anschließende Anstieg um 100 Höhenmeter auf zwei Kilometern verdammt schwer fiel. Ich war dann nur froh, dass der Rest des Weges nach Interlaken auf ebener Strecke dicht am See entlang führte. Ich hatte es versäumt, in Innertkirchen, Meiringen oder Brienz einzukaufen, fuhr deshalb in die Stadt hinein und fand am Bahnhof Interlaken-Ost einen riesigen Mega-Coop-Markt, der eine schier unglaubliche Auswahl bot. So konnte ich endlich wieder das von mir so geliebte Suppengrün kaufen, sogar mit einer Zwiebel und einer Petersilienwurzel darin!

Da ich nun schon einmal in Interlaken war, wollte ich mir das Städtchen ein wenig ansehen. Und es lohnte sich! Der Ort war voller Leben, eine Hauptstraße mit vielen schönen Straßencafés durchzog die Stadt von Ost nach West, herrliche alte Häuser waren zu sehen, prunkvolle Hotels im Zuckerbäckerstil, und der beherrschende Punkt der Stadt ist eine riesige freie Grünfläche mit schattigen Bäumen an den Rändern, von der der Blick ungehindert auf das gesamte Massiv der Jungfrau fiel. Dementsprechend belebt war dieser Platz. Auf Grund des Ausnahmewetters bot sich die Jungfrau unverhüllt dar. Dieser Park war auch das Zielgebiet des hier sehr beliebten Tandemspringens. Vom nahen Flugplatz aus wurden die kräftig zahlenden Gäste mit zweimotorigen Propellermaschinen auf eine Höhe von etwa 1.000 Metern gebracht, um sich von dort im Huckepackverfahren in die Tiefe zu stürzen. Meistens kamen diese Rucksackspringer kreischend und johlend auf der Rasenflächen an, handelte es sich in der Mehrzahl doch um junge amerikanische Touristinnen. Unangenehm waren nur etliche Männer in den Straßencafés, die offenbar nichts anderes zu tun hatten, als bei einer Tasse Kaffee stundenlang dazusitzen und jedem weiblichen Wesen hinter her zu pfeifen oder zu grölen. Auch ich wurde komischer Weise mit etlichen Zurufen bedacht, verstanden habe ich sie nicht.

Aber ich wollte ja weiter, nach Lauterbrunnen. Die Straße dort hin war sehr stark befahren und eng, so nahm ich wieder die Velo-Route. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen! Natürlich ging es sofort steil bergauf. Nur gut, dass es in einem hoch gelegenen Ort einen Brunnen mit eiskaltem Wasser gab. So konnte ich mich ein wenig abkühlen. Das war auch bitter nötig, denn ich hatte bereits wieder einen richtigen Feuerkopf. Mit der schönen Abfahrt war es dann nichts, denn die bis dahin immerhin geteerte Straße wich einem üblen Schotterweg, der sehr, sehr vorsichtig zu befahren war. Wenigstens hatte dieser Weg den Vorteil, durch dichten Wald zu führen, also einigen Schutz vor der erbarmungslosen Sonne zu bieten.

In Zweilütschinen wollte ich dann doch wieder die Straße nehmen, sah aber rechtzeitig, dass der Radweg asphaltiert, glatt und eben neben dem Fluss entlang führte, also benutzte ich ihn. Wiederum ein Fehler: nach etwa 500 Metern verwandelte er sich geradezu in einen Ziegenpfad, durchsetzt mit großen Steinen. Der extrem gehassten kurzen Anstiege gab es viele, so nutzte ich die nächstbeste Gelegenheit, wieder auf die Straße zu wechseln. Die gab es allerdings erst nach ungefähr drei Kilometern. Welch eine Wohltat war es dann, auf glatten, festen Untergrund dahin zu rollen, auch wenn die Straße stetig anstieg.

Es war dann nicht mehr weit bis Lauterbrunnen, und ich war inzwischen rechtschaffen fertig. Das TCS-Camp war schnell gefunden, mit einem Traumblick auf die südliche Bergkette und einer direkt am Platz aufragenden Felswand, an der zwei Wasserfälle locker 200 Meter tief herunter stürzten, ehe sie sich in feinen Wasserstaub auflösten. Vom Zeltausgang hatte ich jedoch nicht diese Aussicht, denn dieser Vorteil hätte mit einem schattenlosen Platz bezahlt werden müssen. Ich stellte mich lieber unter Bäume. Hitze und Sonne hatte ich an diesem Tag genug gehabt.

Nach dem Abendessen, unter anderem mit frischer Gemüsesuppe, schrieb ich noch, bis es dunkel wurde und legte mich todmüden unter meinen Schlafsack.

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