Michael Dauk

Deutschland 1995 - Auszug Bleilochtalsperre bis Müritz

Wir blieben drei Tage an der Bleilochtalsperre. Ich konnte Dagmar sogar überreden, mit mir zur Burg nach Burgk zu wandern und sogar wieder den Felssteig zu benutzen. Hauptsächlich nutzten wir den Aufenthalt zur Erholung. Wir hatten es auch nötig. Die Fahrt über den Harz, durch das Eichsfeld und den Thüringer Wald und entlang der Saale-Kaskade war doch sehr anstrengend gewesen.

Wir verließen Gräfenwarth Richtung Plauen. Diesmal wollte ich jedoch unbedingt über Greiz und Reichenbach fahren, um endlich einmal die Göltzschtalbrücke zu sehen. Im vorigen Jahr war ich leider gescheitert – die Fahrt dort hin war mir zu anstrengend gewesen. Selbstverständlich durften wir auf dem Weg dort hin die Elstertalbrücke nicht auslassen. Dagmar war schier hin und weg von diesem Bauwerk. Und natürlich noch mehr von der Göltzschtalbrücke. Sie ist auch wirklich eine Wucht! Diese größte Ziegelsteinbrücke der Welt mit über 570 Metern Länge und einer Höhe von 78 Metern machte mir kugelrunde Augen. 98 Gewölbe tragen die Brücke. Die Brücke war jetzt 144 Jahre alt und wird von ICE-Garnituren befahren. Wir standen am Fuß des Monuments und hörten kaum etwas vom Zug, der oben entlang fuhr. So eine tolle Konstruktion war es. Natürlich wurden im Laufe der vielen Jahre etliche Reparaturen und Restaurierungen durchgeführt. 1945 plante die Deutsche Wehrmacht, die Brücke zu sprengen, um den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten. Zum Glück wurden die Vorbereitungen dafür nicht abgeschlossen, weil das Sowjetheer schnell genug eintraf. Warum wurden für den Bau zu jener Zeit so ungewöhnliches Baumaterial wie Ziegelsteine verwendet? Ganz einfach: in der Gegend gab es große Lehmvorkommen. Der benötigte Grundstoff konnte also in der Nähe gewonnen werden. Die Brücke wurde wegen der neuen Bahnlinie nötig. Entlang der Gleise zur Baustellen waren allein 20 Ziegeleien damit beschäftigt, täglich 50.000 Ziegel für den Bau zu brennen. Nur für das Baugerüst wurden ganze Wälder vernichtet. 230.000 Stämme wurden für das Errichten benötigt. Ich glaube nicht, dass die Stämme anschließend wieder eingepflanzt wurden.

Dagmar fluchte auf der Fahrt zur Talsperre Pöhl bei Plauen wie ein Rohrspatz. Warum musste denn jedes Dorf mitten auf einem Hügel liegen, auf den dann natürlich auch die Straße führte? Es war ein elendiges Auf und Ab! Genau wie im letzten Jahr. Aber diesmal hatte ich die Göltzschtalbrücke gesehen. Nach dem obligatorischen Eisbecher auf der Terrasse des Eiscafés an der Staumauer machten wir uns nicht die Mühe, auf dem Campingplatz zu kochen, sondern genossen ein köstliches Essen im asiatischen Platzrestaurant. Der Inhaber erkannte mich sogar wieder.

Die nächste Station sollte der Forstteich bei Stützengrün sein, dieser Campingplatz, auf dem ich im letzten Jahr diesen großartigen Gewitterguss erlebt hatte. Wir kamen jedoch auf Abwege, weil eine Straße wegen Brückenarbeiten gesperrt war und wir einen Umweg nehmen mussten. Es war nicht zu unserem Nachteil, allerdings hatte es auch eine unangenehme Konsequenz. In Treuen setzten wir uns auf den Marktplatz und schauten zunächst in der Gegend herum. Ein Hähnchengrillwagen stand am Rand. Wir hatten Hunger. Wir kauften uns jeder einen halben Vogel, setzten uns zurück auf die Bank und begannen mit dem Verzehr. Hatten ich denn das letztjährige Erlebnis bei Augustusburg vergessen, als ich das halb rohe Hühnervieh in den nächsten Mülleimer warf? Hier in Treuen war es genau so. Wieso verkaufen diese Menschen hinter dem Tresen denn solch halbgare Ware? Wir gaben die nur einmal angebissenen Hähnchen zurück. Der Verkäufer wollte uns das Geld nicht zurück geben. Erst als ich ihm mit der Polizei drohte, erstattete er den Verkaufspreis. Er hatte auch keine andere Chance, schließlich hielten wir die Corpi delicti in der Hand. Hunger hatten wir natürlich immer noch. An der Ecke des Marktplatzes war eine Fleischerei. Wir gingen hinein und waren überwältigt vom massigen Angebot der Bratwürste, die an der Wand hinter dem Tresen hingen. Was gab es dort nicht für Variationen! Bratwürste mit Thymian, mit Rosmarin, mit Kümmel, Knoblauch, Oregano, Salbei und was weiß ich für Gewürzen und Kräutern. Aber nicht in einer einzelnen Wurst, nein, es gab so viele verschiedene Wurstsorten. Wir entschieden uns nach langem Überlegen für einige Knoblauch- und Kümmelwürste. Außerhalb Treuens auf einem idyllischen Rastplatz packte ich meinen Trangia-Kocher aus und briet die Würste. Nachdem wir sie restlos aufgegessen hatten, sammelten wir schnell unsere Sachen zusammen und eilten zurück nach Treuen zum Schlachterladen. Die füllige Verkäuferin, wie es sich für eine tüchtige Fleischerin gehört, erkannte uns wieder und fragte, ob wir etwas vergessen hätten. „Ja, mehr Würste!“ Wir kauften jeder noch fünf Stück. Ich habe in meinem Leben noch nie solche Bratwürste genossen. Der Geschmack war einfach überwältigend.

Die Eibenstock-Talsperre, den Forstteich, Schneeberg und Aue, das Grab auf dem Hügel und die Geyerschen Teiche habe ich im letzten Jahr beschrieben. Es gab eine Abweichung: in der Nähe von Wernesgrün nahmen wir eine etwas andere Route und mussten einen Ort durchqueren, der einfach gespenstisch war. Es schien sich um eine geschlossene Heilanstalt für geistig geschädigte Menschen zu handeln. Sämtliche Türen und Fenster waren vergittert, kein Mensch war auf der Straße. Es gab keine Geschäfte, keine Lokale. Hinter einer Fensterscheibe sah ich den Kopf einer alten Frau, der der Sabber aus dem Mund lief. Ein alter Mann hatte das Fenster weit geöffnet und schlug mit dem Schädel rhythmisch gegen das Fenstergitter. Es lief ihm bereits das Blut von der Stirn. An einem weiteren Fenster umarmte eine junge Frau innig die Gitterstäbe und weinte bitterlich. Es war furchtbar und unheimlich. Wir machten, dass wir aus diesem Dorf heraus kamen.

Freiberg, Dresden – ich erzähle es nicht neu. Weil Dagmar dabei war, schafften wir die Strecke von der alten Sachsenmetropole bis in den Spreewald an einem Tag. Es war eine Mördertour. Jedenfalls für mich, Dagmar wird es nicht so viel ausgemacht zu haben. In Lübbenau stellten wir uns auf dem Campingplatz am Schloss hin und machten die nächsten drei Tage Paddeltouren. Na, nicht ganz. Dagmar wollte am dritten Tag nicht wieder paddeln, sondern mit dem Rad nach Cottbus fahren. Während sie sich die Stadt ansah, vollführte ich eine höchst ausgedehnte Tour durch den Spreewald, natürlich mit einem Kajak. Anschließend beichtete mir Dagmar, dass sie doch lieber mit mir hätte Paddeln fahren sollen. Der Ausflug hatte ihr gar nicht gefallen. Die Straße nach Cottbus war nicht schön und reichlich mit Lastwagen gesegnet, und die Stadt hatte ihr keinen Spaß gemacht. Sie hätte bestimmt Freude an der Bootstour gehabt. In den zwei Tagen, in denen wir gemeinsam auf dem Wasser fuhren, harmonisierten wir nämlich erstaunlich gut im Umgang mit den Paddeln. Ich sah etliche andere Paare, deren Technik eher einem Geholze glich als einem aufeinander abgestimmten Bewegungsablauf. Es machte richtig Freude, mit ihr Boot zu fahren. Nebenbei erzählte sie mir, dass sie noch nie einen solch schönen Urlaub verbracht hatte. Sie war zwar eine begeisterte Radfahrerin, hatte aber noch nie eine solche Unternehmung gewagt. Sie machte bereits Pläne für das nächste Jahr, so gut gefiel es ihr.

Scharmützelsee, Frankfurt an der Oder mit Helenensee (es wurde diesmal nichts gestohlen) Schiffshebewerk in Niederfinow – ich erzähle es nicht neu. Dann aber eine Abweichung: wir fuhren zum Parsteiner See. Der Campingplatz lag in exponierter Lage auf einer kleinen Halbinsel am Südufer des Sees. Er hatte nur einen Nachteil. Der Verwalter war ein Scheusal. Obwohl ausreichend andere Plätze frei waren, platzierte er uns auf einer Parzelle ohne Aussicht, die mannshoch mit dichtem Gebüsch umgeben war. Wir verlangten nach einem anderen Platz, jedoch lehnte er unser Ansinnen mit der Begründung ab, dass diese Flächen Wohnmobilen und Caravans vorbehalten wären. Ja, meine Güte! Es waren doch überhaupt keine Fahrzeuge dieses Typs da! Und es war bereits gegen 19 Uhr – es konnten also kaum noch welche kommen. Wir hatten einfach einen Sturkopf mit Machtgehabe vor uns. Dagmar schimpfte zwar furchtbar über das Benehmen der Ossis, aber solche Leute gibt es doch genau so in den alten Bundesländern! Ich fragte ihn noch nach einer Möglichkeit des Essens im nahe gelegenen Dorf Parsteinsee. „Nee, da gibt’s nix!“ war die mürrische Antwort. Dann machten wir uns eben Stullen. Er sträubte sich sogar, unser Geld anzunehmen. „Könnt ihr morgen bezahlen!“ knurrte er. Morgen? Die Rezeption öffnete doch erst um neun Uhr. Zu der Zeit wollten wir längst über alle Berge sein. Der recht große See liegt mitten in einem Biosphären-Reservat. Das Gewässer wird im Süden durch ein umfangreiches Waldgebiet begrenzt. Nach Norden öffnen sich weite Felder. Der See war nicht spektakulär, er war einfach nur schön.

Das erwähnte Waldgebiet zog sich weit oberhalb Berlins bis hin zur Mecklenburgischen Seenplatte mit der Müritz. Und von wie vielen Seen war es durchsetzt! Wir wollten uns allmählich auf den Heimweg machen. Der Urlaub ging in einer Woche zu Ende. Da bot es sich doch an, durch diese fantastische Landschaft zu fahren! Zunächst schleppte ich Dagmar jedoch zum Amt Chorin, zum Klostersee hinter der Kirche, wo ich vor zwei Jahren bei einem Sinfoniekonzert auf einer Halbinsel im Regen unter einer Kastanie ein wunderbares Picknick veranstaltet hatte. Dagmar fand den Platz genau so schön wie ich. Leider fehlte dieses Mal die Begleitmusik. Nun folgte eine rauschende Fahrt durch Wälder und entlang idyllischer Seen. Bereits seit einigen Tagen meinte es das Wetter außerordentlich gut mit uns. Auch heute strahlte die Sonne mit aller Macht vom Himmel. Ich befürchtete einen Sonnenbrand. Das Licht war so hell, dass der Klatschmohn auf den Kornfeldern geradezu schrie in grellroter Leuchtkraft. Als ich meine Empfindung Dagmar mitteilte, bekam ich die missmutige Antwort „Blumen können nicht schreien.“ Doch, können sie! Unsere Laune minderte sich dadurch nicht. Dafür war die Landschaft einfach zu schön. Den Campingplatz in Templin, den wir uns als nächstes Ziel auserkoren hatten, ließen wir aus. Das Radfahren machte so viel Spaß, dass wir einfach nur weiter wollten. Wir steuerten das Seengewirr um Lychen und Fürstenberg an der Havel an. In Lychen wurde übrigens um das Jahr 1900 von einem Herrn Uhrmacher Johann Kirsten die Heftzwecke erfunden. Eine Gedenktafel an seinem Haus erinnert daran. Zunächst entlang der Bahnstrecke, deren maroder Zustand der Gleise auf eine baldige Stilllegung schließen ließen, ging es weiter Richtung Westen. Es war tatsächlich so: bereits im nächsten Jahr wurde die Bahnlinie geschlossen. Die Gleise werden jetzt als Draisinenstrecke genutzt.

Bald verließen wir die Trasse und radelten durch undurchdringlichen Wald nach Fürstenberg an der Havel. Eine schöne Stadt, die ich jedoch mit höchst gemischten Gefühlen besuchte. Ständig war mir das Frauen-KZ Ravensbrück im Sinn. Ich wollte die Gedenkstätte nicht besuchen. Ich habe in meinem Leben noch keine KZ-Gedenkstätte aufgesucht. Nicht, dass ich die Erinnerung daran verdrängen will. Nein, ich habe mich bereits in frühen Jahren als Teenager sehr intensiv mit diesem Thema befasst. Auch später habe ich darüber gelesen, was ich nur in die Finger bekommen konnte. Ich glaubte nicht wirklich, dort etwas Neues zu erfahren. Der Aufenthalt in Fürstenberg war dennoch ein Genuss. Es war einfach nur schön, auf dem Marktplatz zu sitzen, einen Kaffee mit einem Stück Sahnetorte zu genießen und das Ensemble der Bürgerhäuser zu bewundern. Auch die Terrasse vor dem Schloss verlangte nach einer Pause. Eine Bio-Bäckerei hatte ein sehr verlockendes Landbrot in der Auslage. Das war meines!

Und wieder schloss sich eine wunderschöne Seenfahrt an. Wir fuhren fast ausschließlich am Wasser entlang, immer von dichten Wäldern begleitet. Nach Umrunden des wasweißich wievielten Sees entdeckte ich ein handgemaltes Schild „Naturcamp Mössensee“. Über einen holprigen Sandweg gelangten wir auf ein welliges und waldreiches Gelände, auf dem wir einen schönen Platz mit Aussicht auf den See fanden. Mich erstaunte die Vielzahl der Sportboote, die auf dem schmalen und langgestreckten See entlang fuhren. Zum Glück bezog sich der Begriff „Naturcamp“ nur auf die Stellplätze, viel mehr auf die nicht vorhandenen Stellplätze. Die Sanitäreinrichtungen waren modern und sauber. Ich freute mich schon auf das Abendbrot. Das gekaufte Brot sah einfach zu lecker aus. Es war eine einzige Enttäuschung. Dagmar und ich nahmen jeder einen Bissen, schauten uns an und ließen die frisch belegte Scheibe sinken. Wir versteckten das gesamte Brot hinter einem abseits gelegenen Baum. Ich schwang mich erneut auf das Fahrrad und fuhr zu einer kleinen Ortschaft zurück, die nicht einmal ein Namensschild aufwies. Dort hatte ich bei der Herfahrt einen Dorfbäcker gesehen. Ich hatte Glück. Der Laden war noch geöffnet und hatte sogar ein Brot für mich. Schön, es war sogar ein dunkles Bauernbrot. Schnell zurück und mit Genuss in das herrlich frische, duftende und würzige Brot gebissen. Kleine Freuden können so schön sein. Das Wetter war so herrlich, der Abend noch so warm, dass Wasser so verlockend, dass Dagmar und ich sogar schwimmen gingen. Ich und schwimmen! Nicht, dass ich es nicht kann, im Gegenteil, ich kann es sogar sehr gut und ausdauernd, aber ich finde einfach keinen Spaß daran. Heute war es jedoch sehr erfrischend und kurzweilig. Anschließend noch drei, vier Stullen Brot – und der Tag war gut.

Die Fahrt am nächsten Tag war merkwürdig. Auf schnurgerader Route querten wir einen undurchdringlichen Wald. Plötzlich verließen wir die Bäume und standen vor einem Feld in Form eines gleichseitigen Dreiecks. Ein Bauer pflügte gerade den Acker. Er hatte eine merkwürdige Methode: er zog vier Furchen an den Seiten des Dreiecks, fuhr dann mit hochgezogener Pflugschar zur Mitte einer Seite und pflügte parallel zur Grundseite erneut vier Reihen. Dann begann das Spiel von vorn. Ihr könnt euch vorstellen, dass die letzten Furchen äußerst kurz waren. Ich musste mir das Schauspiel unbedingt bis zum Schluss ansehen. Dagmar wurde bereits ungeduldig. Ich ließ mich jedoch nicht zum Weiterfahren erweichen.

Auf gewundenen Wirtschaftswegen gelangten wir kurz vor Mirow wieder an die Müritz-Havel-Wasserstraße. Dieser Wasserwegweg, der heute nicht mehr von der Berufsschifffahrt genutzt wird, besteht hauptsächlich aus vielen Seen. Kurze Kanäle verbinden die Gewässer miteinander. Weil ein Höhenunterschied von 7,20 Metern zu überwinden ist, sind in diesen Kanälen drei Schleusen eingearbeitet. Und die haben reichlich zu tun. Allein die Schleuse bei Diemitz verzeichnete in diesem Jahr etwa 40.000 Durchfahrten. Das Verkehrsaufkommen der Sportboote ist enorm. Für mich ist es kein Wunder. Schließlich ist es über diese Wasserstraße möglich, auf dem Wasserweg von Hamburg nach Berlin zu gelangen, ohne die wesentlich langweiligeren Alternativen Elbe-Seiten-Kanal und Havelkanal zu benutzen. Bei Dönitz an der Elbe beginnt die Müritz-Elde-Wasserstraße. In der Nähe von Mirow besteht dann die Möglichkeit auf den vorgenannten Wasserweg zu wechseln. Es werden größtenteils kleine Flussläufe oder Seen genutzt, die nur auf Teilstrecken ausgebaut oder miteinander verbunden sind. Dadurch gibt es eine sehr romantische Flussfahrt. Unser Campingplatz am Mössensee war ein Teil dieses Wasserweges. Deshalb auch die vielen Sportboote, die wir sahen. Wir kamen am Flusslauf genau an einer solchen Schleuse an und waren bass erstaunt über die Vielzahl der Sportboote, die sich in dem engen Schleusenbecken aneinander drängten. Es ging auch nicht ohne erhebliches und lautstarkes Schimpfen vor sich. Es waren offensichtlich nicht nur die distinguierten und gut situierten Freizeitkapitäne unterwegs, sondern auch wirkliche Proleten. Aber diese waren vielleicht besonders gut situiert.

Die Müritz – Deutschlands größter See. Nicht der Bodensee? Nein, der muss nämlich mit Österreich und der Schweiz geteilt werden. Die Müritz liegt vollständig auf deutschem Hoheitsgebiet. Auch sie ist ein Produkt der letzten Eiszeit. Die große Wasserfläche ist nicht zu Verwechseln mit der kleinen Müritz, dem Müritzarm und dem Müritzsee. Letztgenannte sind lediglich Teile der Müritz, anders gesagt, der Wurmfortsatz nach Süden. Wir wollten den großen See in weitem Bogen umrunden. Die vorgegebene Hauptrichtung war Westen, daher lag ein Beginn auf der Ostseite nahe. Auf dieser Uferseite der Müritz liegt der Müritz-Nationalpark, der in seiner Weise einzigartig ist. Es kommen hier keine für den Durchschnittsmenschen spektakuläre Tier- und Pflanzenarten vor, eher unscheinbare, aber äußerst seltene Exemplare. Wir radelten durch ausgedehnte Schilfrohrzonen. Die Pflanzen waren so hoch, dass sie jedwede Aussicht versperrten. Da kamen die Aussichtstürme, die in unregelmäßigen Abständen am Ufer errichtet waren, gerade recht. Zunächst fielen die vielen, abgestorbenen Birkenstümpfe ins Auge, die aus dem flachen Wasser ragten. Was war denn hier passiert? Die Antwort ist verblüffend: zu DDR-Zeiten wurde über Kanäle der Müritz viel Wasser entnommen. Der Wasserspiegel sank. Auf den entstandenen Trockenzonen siedelten sich schnell Birken an und verdrängten die ursprüngliche Flora. Nach der Wände sperrte die Nationalparkverwaltung die Kanäle mit dem Ergebnis, dass der Wasserstand wieder stieg und die Birken zum Absterben brachte. Weiter im Osten dehnten sich großflächige Wacholderbestände aus. Diese Gebiete wurden früher als Viehweiden intensiv genutzt. Jetzt natürlich nicht mehr, schließlich ist es heute ein Naturschutzgebiet. See- und Fischadler steuerten nach der Jagd ihre Horste in Baumwipfeln an. Eine Unzahl von Enten bevölkerte die Uferzonen. Die Störche kannten war ja schon reichlich aus den neuen Bundesländern, die Vielzahl der Kraniche war allerdings überraschend.

Die Fahrt ging weiter durch dichtes Schilf, teilweise an kleinen Seen entlang, die sich entlang des Ostufers aneinander reihten. Kein Haus, keine Siedlung störten diese einzigartige Natur. Erst kurz vor Waren erblickten wir wieder die ersten Häuser. Von der großen Wasserfläche hatten wir nicht viel gesehen. Schade eigentlich. Schließlich stammte das Wort Müritz aus der Sprache der ersten slawischen Siedler, nämlich Meer. Auch Waren kann auf eine lange Geschichte zurück blicken. Nicht nur eine lange, sondern auch eine höchst bewegte. Im Dreißigjährigen Krieg und etlichen anderen militärischen Auseinandersetzungen wurde die Stadt jedes Mal weitestgehend verwüstet. Auch fünf große Stadtbrände im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert durften nicht fehlen. Die DDR-Führung setzte in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts noch einen drauf: sie ließ einer großzügigen Verkehrsplanung wegen große Teile der Altstadt abreißen, um Platz für Durchgangsstraßen zu schaffen. Diese Verbrecher hatten es damals sogar auf das jetzige Weltkulturerbe Quedlinburg abgesehen. Nicht, um Straßen zu bauen, sondern mit dem Ziel, an Stelle der alten und kleinen Häuser große Plattenbauten für Wohnraum zu errichten. Das Vorhaben dort scheiterte nicht an der Einsicht der Verantwortlichen, sondern schlicht am Geldmangel. In Waren blieb nur der historische Altstadtkern erhalten. Das, was dort noch steht, kann sich durchaus sehen lassen. Am alten Yachthafen konnten wir uns überhaupt nicht entscheiden, in welches der vielen Cafés wir uns setzen sollten. Wir entschieden uns für ein Lokal, von dessen Terrasse wir sowohl auf die Müritz als auch die Georgenkirche mit ihrem quadratischen, mächtigen Turm blicken konnten. Die Dichte des Bootsverkehrs war beeindruckend. Die Yachten im Hafen ließen auf beträchtlichen neu erworbenen Wohlstand schließen. Die Heimathäfen der vertäuten Boote waren nicht hauptsächlich Hamburg, Bremen, Duisburg, Kopenhagen oder Oslo, sondern Waren, Röbel, Schwerin und Neubrandenburg. Nach einem Rundgang durch die Altstadt mit ihren historisch bebauten Gassen – zum Glück autofrei – ging es weiter auf der Kietzstraße zum Campingplatz. Auf dem Kameruner Weg waren bereits die hässlichen, riesigen Plattenbauten zu sehen. Sie waren wirklich nur als Schandflecken zu bezeichnen. Der Platz im Ortsteil Kamerun (es hieß wirklich so – spielt da der Kolonialismus vielleicht eine Rolle?) war ein weitläufiges Gelände, von einer dichten Pappelreihe umstanden. Leider waren die Plätze am Wasser bereits von Wohnmobilen und Caravans belegt. Wir stellten uns an den anderen Rand des Platzes, um ein wenig freies Feld vor uns zu haben. Zwischen den zumeist weiß gehaltenen Fahrzeugen konnten wir sogar einen Blick auf die silbrig glitzernde Müritz erhaschen.

Das Gebiet zwischen der Müritz und dem Plauer See ist durchsetzt von Dutzenden von weiteren Seen. Wir hielten uns zumeist am Ufer des Fleesensees. Bei Untergöhren wurde gerade ein riesiges Golfareal errichtet. Auf etlichen Hektar war das Land verwüstet und aufgerissen. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld nach Abzug der Truppen. Hatte ich das nicht auch schon am Scharmützelsee in ähnlicher Form gesehen? Malchow entschädigte für diesen schrecklichen Anblick. Die alte Klostersiedlung auf dem Südufer des Verbindungssees zwischen Fleesensee und Plauer See überzeugte schon mit ihrem historischen Gebäudeensemble, die Stadtinsel mitten im Wasserarm war jedoch der Hammer. Es erinnerte mich ein wenig an Ratzeburg, das allerdings erheblich größer ist. Zwei Straßen führten hindurch, die Kurze und Die Lange Straße. Sie waren beide sehr kurz. Ich wollte unbedingt an das Nordufer, um mir die Stadtmühle anzusehen, eine Holländer-Bockwindmühle im jungen Alter von 115 Jahren, die immer noch im Betrieb ist. Das Besondere an ihr ist, dass sie ausschließlich der Stromerzeugung dient. Die erzeugte Energie wird in das Netz der Stadtwerke eingespeist. Der Wille ist das Eine, die Möglichkeit das Andere. Die Drehbrücke in Malchow, die einzige Verbindung über den Wasserarm, war wieder einmal defekt. Die Führungsschiene klemmte. Ein altbekanntes Problem hier. Also keine Windmühle heute.

Der ursprüngliche Plan war, um das Nordende des Plauer Sees zu fahren, das war nun nicht mehr möglich. Also um den Südteil. Ich weiß nicht, was schöner ist. Die gewählte, vielmehr die erzwungene Variante war einfach wunderbar. Wir hielten uns von den Autostraßen fern. Gerade der Südzipfel des Sees wies einige Naturpfade auf, die kaum mit dem Rad zu bewältigen waren. Die Anstrengung lohnte sich, denn in Plau am See wartete der nächste Hammer auf uns. Obwohl die Stadt Mitte des 18. Jahrhunderts durch einen Großbrand nahezu vollständig zerstört wurde, gibt es im Ortskern doch noch eine historische Altstadt, deren Häuser zwar nicht älter als ungefähr 250 Jahre waren, dennoch meistens in Fachwerkbauweise errichtet und wunderschön anzusehen waren. Die exponierte Lage am Plauer See und am Kanal der Müritz-Elde-Wasserstraße verstärkte diesen Eindruck. Die Promenade am Kanal reicht bis an den See. Eine kleine Hubbrücke aus dem Jahr 1916 überquerte das Wasser. Die Hubhöhe war nicht groß. Sie betrug lediglich 1,60 Meter. Das reichte jedoch, um fast alle Motor- und Segelboote mit umgelegten Masten hindurch zu lassen. Die Brücke wurde übrigens seinerzeit von Kriegsgefangenen erbaut.

Wir radelten hinüber und setzten uns auf eine Bank am Ufer, um vielleicht Zeuge eines Hubvorgangs zu werden. Ungefähr dreihundert Meter weiter im Landesinneren öffneten sich die Tore der kleinen Schleuse, und eine Kavalkade von Sportbooten drängte sich heraus. Kurz nachdem das letzte Boot die Kammer verlassen hatte, schoss auf der Uferpromenade ein etwas fülliger Mann in blauem Arbeitsanzug auf dem Fahrrad auf uns zu. Schwer atmend kette er das Rad am Geländer an und eilte in das kleine Häuschen mitten auf Brücke. Ein Klingelsignal ertönte. Langsam schlossen sich die beiden Schranken vor der Brückenfahrbahn. Unter lautem Quietschgeräusch hob sich die Brücke schwerfällig aus der Verankerung. Es schien endlos lange zu dauern, bis sie ihre Hubhöhe erreicht hatte und die Wasserfahrzeuge endlich grünes Licht für die Durchfahrt erhielten. Auf der seewärts gewandten Seite wartete ein weiterer Pulk von Sportbooten ungeduldig auf die Weiterfahrt. Hätten sie Hufe gehabt, hätten sie mit ihnen gescharrt. Als das Signal grün zeigte, ging der Start nicht ohne einige leichte Karambolagen vonstatten. Die Skipper hatten jedoch alle ihre Fender draußen hängen, so dass kein Schaden entstand. Nachdem die Brücke wieder abgesenkt war, kam der Mann aus dem Häuschen heraus, setzte sich zu uns auf die Bank und fragte mich „Habt ihr mal eine Zigarette für mich?“ Ich hielt ihm meine Schachtel Karo hin, diese ungemein schwarzen und starken Zigaretten, die bereits zu DDR-Zeiten produziert wurden und sich immer noch großer Beliebtheit in den neuen Bundesländern erfreuten. „Ihr seid doch keine Ossis, oder?“ fragte er, „und warum raucht ihr dann solches Zeug?“ „Schmeckt einfach“ war meine kurze Antwort. „Sollen die doch erst einmal warten!“ meinte er und deutete auf das Rudel von Sportbooten, die sich inzwischen in der noch offenen Schleusenkammer versammelt hatten. Ich hatte eine Ahnung: „Bist du etwa auch der Schleusenwärter?“ fragte ich. „Jo, das bin ich! An Wochenenden ist das vielleicht ein Gehetze hier, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Und meint ihr, das gibt einmal Trinkgeld. Nee, das kannst du vergessen. Diese Schnösel sind doch so geizig, die haben nichts für einen kleinen Wasserstraßenschifffahrtsamtsangestellten übrig.“

Wasserstraßenschifffahrtsamtsangestellter. Das Wort kam ihm wie eine Silbe über die Lippen. „Na, will ich die Bande mal raus lassen.“ Damit erhob er sich, stieg auf sein Fahrrad und fuhr Richtung Schleuse davon. Auch wir machten uns auf den Weg. Als wir an der Schleuse vorbei radelten, reckte der Mann seinen Oberkörper aus dem Fenster und winkte uns zu. Fröhlich winkten wir zurück. Über den Schleusenkanal führte eine steile Fußgängertreppe, die hier nur Hühnerleiter genannt wurde. Einige Jahre später wurde die Hubbrücke mit einer Fernbedienung ausgerüstet, die vom Schleusenhaus bedient werden konnte. Ich weiß nicht, ob das Radfahren dem damaligen Schleusenwärter nicht doch besser angestanden hätte. Wer weiß, wie dick er später noch wurde.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.08.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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