Annika Lorenz

Zarte Bande

Bleiern fühlten sich ihre Glieder an, schwer, und sie rang mit einer nicht gekannten Müdigkeit. Noch war es nicht Abend.
Warme Sonnenstrahlen suchten sich den Weg durch die Lamellen der leicht geöffneten Jaluosie und liesen unzählige, durch die Luft sausende, Staubpartikel erkennen.
Sie hatte in ihrem Zimmer unter dem Dach, eigentlich war es einmal ein Abstellraum, den Mutter und Vater zur Einschulung in ihr Reich verwandelten, etwas aufräumen und Staub wischen sollen, doch war sie viel zu müde an diesem Nachmittag.
So legte sie sich in die weichen Kissen und wünschte sich, er wäre hier.
Er !
Noch war er eher ein Unbekannter für sie, doch sie fühlte sich ihm so nah, wie sie es bei keinem anderen bislang erlebt hatte.
Lächelnd kuschelte sie ihren Schopf in die wohlduftenden Kissen und sog den Geruch ganz in sich auf. Es roch nach ihm und sie liebte dies.
Ein Seufzen überkam ihre Lippen.
`Auch wäre er nur hier !`, dachte sie noch, ehe sie in einen tiefen Schlaf fiel.

*

Sie öffnete die Augen, und fand sich in einem Zugabteil wieder. Um sie herum saßen alte Menschen.
Hier und da sah man junge Leute, doch waren es nur wenige.
Neben ihr hatte soeben ihre beste Freundin auf der ledernen Bank Platz genommen.
Es war düster, die meisten Neonröhren waren ausgefallen und die wenigen, die ihrem Dienst noch nachkamen, tauchten die Umgebung in ein surreales Licht.
Sie wagte einen Blick aus dem Fenster. Nichts war zu sehen.
Nur eine stumme Schwärze glotzte in das Abteil, so das sie den Blick schnell wieder wendete.
Seltsam war es hier, doch fragte sich weder nach dem Warum noch nach dem Wie.
Während der ganzen Zeit hatte ein leichtes Murmeln in der Luft gelegen, von Passagieren, die sich unterhielten, doch als der Zug seine Fahrt begann, legte sich eine geisterhafte Stille darüber.
Sie suchte ihre Fahrkarte, fand jedoch keine. So schaute sie sich um, suchte mit Blicken nach dem Kontrolleur, und stellte dabei fest, das alle Personen zu verwesen begannen.
Haare glitten zu Boden, Haut wurde ledrig und zerfiel schliesslich zu Staub.
Seltsamerweise war sie nicht erschrocken, nicht berührt. Selbst die Tatsache, das sie nicht diesem Prozess unterlag, verwirrte sie nicht.
Nur ein prüfender Blick in die Augen ihrer Freundin - keine Angst las sie darin, kein Entsetzen... und, keine Verwesung war an ihr zu erkennen.
Der Zug hielt.
Niemand stieg aus, nur neue Passagiere strömten zu den freien Plätzen.
Eine Sitzreihe vor ihr, auf der andren Seite das Ganges, nahm er Platz.
Er!
Der Zug fuhr an, und das gespenstische Schauspiel wiederholte sich.
Auch seine Haare begannen zu zerfallen. Wie gebannt schaute sie zu ihm, und er erwiederte den Blick.
Angst lag darin, panische Angst ... und eine Frage.
Sie bemerkte etwas Nasses in ihrem Gesicht, fühlte mit den Fingern danach und schaute auf eine Träne.
„Das ist so, wenn man stirbt“, hörte sie sich dabei sagen, ehe sie erwachte.

*

Heis war ihr.
Ihr wurde ihr lautes Schluchtzen bewusst, und der Tränen, die unaufhaltsam über ihr Gesicht rannen.
Ein Schütteln erfasste sie.
Da hörte sie Schritte auf dem Gang vor ihrem Zimmer.
Dumpf und langsam, zögernd ... dann klopfte es gegen die hölzrene Tür.
Sie raffte sich auf, stieg aus dem Bett, passierte die wenigen Meter bis zur Tür und öffnete.
Er stand davor.
Sie sass schon wieder auf ihrem Bett und zitterte um so mehr.
„Du darfst nicht gehen, du darfst mich nicht alleine lassen!“ brachte sie unter Tränen hervor, flehend, sich schämend ihrer, ohne das sie ein Wort gewechselt hatten.
Er setzte sich zu ihr, legte sacht den Arm um sie. Gern hätte er etwas gesagt, doch war es ihm nicht möglich. Ein dicker Kloss sass in seinem Halse.
Minuten verstichen.
Schliesslich ...
„Was ist passiert?“
Ängstlich schaute sie in seine fragenden Augen.
„Du darfst mich aber nicht auslachen!“, sagte sie leise und erzählte , was sie geträumt hatte.
Er drehte ihr den Rücken zu, senkte seinen Kopf.
„Eigentlich“ , er schwieg kurz, “wollte ich mich gerade von Dir verabschieden.“, meinte er schliesslich gedrückt.
Etwas in ihr schrie.
„Ich wollte eigentlich auch nicht erst herkommen, einfach so verschwinden, doch habe ich es nicht übers Herz gebracht.“
Wieder zögerte er, überlegte wohl seiner nächsten Worte, hob an um dann doch zu schweigen.
Sie war inzwischen ganz nah zu ihm herangekrochen, legte fest ihre Arme um ihn.
„Ich brauche Dich“, flüsterte sie leise.
`Und ich dich`, dachte er, wagte aber nicht es auszusprechen.

Später erzählte er ihr, das er mit einem Auto gegen einen Baum gefahren war, mit voller Absicht.
Er war in diesem Moment seines Lebens überdrüssig gewesen, hatte keinen Ausweg aus seiner Situation gesehen.
Doch irgendetwas hatte ihn davon abgehalten, das Gaspedal voll durch zutretten ...

Hat es sich so zugetragen, oder entsprang die Geschichte meiner Phantasie ... wer weis dies zu sagen?Annika Lorenz, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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