Erika parkte ihren Monstertruck auf dem Parkplatz vor Edeka, oder besser gesagt, sie versuchte es seit geraumer Zeit. Es war früher Samstag Abend und der Parkplatz natürlich wieder brechend voll, da alle noch tonnenweise Einkäufe für den bevorstehenden Sonntag zu erledigen hatten. Früher steckte sie selber regelmäßig tief drinnen in diesem Getümmel aus gierigen, gehetzten Meuten, die sich für die letzten Dose 'Schweinekotelett mit Kartoffeln' gegenseitig an die Gurgel gingen. Heute allerdings hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um dieser wöchentlichen Schlacht vorzubeugen. Dies erreichte sie, indem sie sämtliche wichtigen Einkäufe – zweihundert Liter leicht erhitztes Leitungswasser, zwei vierundzwanzig-Stunden Stromaggregate, vierzig Stangen Lucky Strike für Max und selbstverständlich ausreichend 'Schweinekotelett mit Kartoffeln' für zwei Tage – bereits am Nachmittag tätigte, wo der Ansturm an Kunden noch gemäßigt verlief. Diesen Einkaufs-Rhythmus hielt sie seit etwas über einem Jahr ununterbrochen bei. Auch am heutigen Samstag war vorerst alles planmäßig verlaufen. Erika hatte ihre Einkäufe getätigt, war rechtzeitig Zuhause gewesen, um das Mittagessen in der Mikrowelle zu erhitzen und das alles ohne sich im Supermarkt ein Veilchen oder eine blutige Nase holen zu müssen. Grandios. Der einzige Makel an diesem zwar nicht perfekten, aber zumindest nah an perfekt dranliegendem Tag war, dass Max an Lungenkrebs erkrankt war.
Während sie noch nichtsahnend in der Küche stand und eine Dose 'Schweinekotelett mit Kartoffeln' für die Mikrowelle vorbereitete, hatte sich ihr Gatte ein tödliches Bronchialkarzinom eingefangen. Na, super. Dabei hatte sie ihm schon unzählige male gesagt, er solle seine Sucht doch bitte in den Griff bekommen. Mittlerweile war er bei zehn, fünfzehn Stangen pro Tag angelangt, was selbst für eine Gelegenheitsraucherin wie Erika deutlich zu viel war. Bei jeder Warnung hatte er sie bedenkenlos abgewimmelt, doch nun forderte die Nikotin-sucht erneut ihren Tribut. Und das ausgerechnet an einem Samstag. Es fiel einem Raucher allerdings auch nicht leicht seinen Konsum einzuschränken, seitdem die Regierung Tabakwaren für steuerfrei erklärt hatte. Sie ließen lauten, dass sie die Finanzen durch eine höhere Bildungssteuer wieder angleichen würden, allerdings hegte Erika den Verdacht, dass sie diesen Verlust bereits durch den wachsenden Bedarf an Pharmazeutika wieder drinnen haben könnten.
Nachdem Max ihr reumütig die Krebserkrankung gebeichtet hatte, lag es nun wiederum an ihr, ein Anti-Krebs-Mittel zu besorgen. So kam es, dass sich Erika, nachdem sie ihrem Mann noch schnell die aufgewärmte Dose serviert hatte, trotz ihres gewohnten Schemas an diesem Samstag Abend erneut zum Edeka begab. Das Schicksal holt wohl jeden irgendwann ein.
Während sie so über die aktuellen Ereignisse nachdachte, steuerte sie ihr pompöses Gefährt noch immer behutsam durch die Doppelreihen an parkenden Monstertrucks. Nicht ein einziger freier Platz war zu finden. Nicht eine einzige Parklücke war... Doch! Da vorne! Zwei Reihen weiter stieg eine ältere Dame gerade die Stufe zum Fahrerhaus ihres Trucks hoch. Wenn dieser Platz jetzt nicht frei werden würde, dann müsste sie es notgedrungen bei Aldi versuchen, obwohl sie der Qualität von Aldi-Waren immer skeptisch gegenüber stand. Doch soweit kam es nicht. Die alte Dame startete ihren Truck und manövrierte ihn in einem bescheidenem Tempo vom Parkplatz herunter. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich Erika in die frisch entstandene Lücke gequetscht. Ersteinmal durchatmen! Durch die Frontscheibe konnte sie mehrere andere erfolglose Bewerber für diese Parklücke ausmachen. Da sie ihnen zuvorgekommen war, drehten die meisten erneut ihre Runden auf dem Parkplatz. Einige wenige fuhren zurück auf die Hauptstraße, vermutlich Richtung Aldi. Pech gehabt! Sabine sah noch einmal auf die Tankanzeige, bevor sie ausstieg. Halb voll. Noch genug Inhalt um den Motor beim Parken laufen zu lassen. Das tat sie selbstverständlich auch.
Nachdem der Truck abgeschlossen, aber nicht abgeschaltet, war, durchschritt Erika auch schon schnurstracks die gigantischen Eingangspforten ihrer lokalen Edeka-Filiale. Eine angenehme Kühle und tausend verschiedene Gerüche begrüßten sie beim eintreten. Darauffolgend kam ein kleiner schwarzer Junge, der bei einem Lächeln unnatürlich weiße Zähne offenbarte und ihr einen Einkaufswagen anbot, den sie dankend annahm. Erika musste bei seinem Anblick kurz stutzen. War nicht vor wenigen Stunden noch ein Junge mit Downsyndrom anstelle dieser Grinsebacke engagiert gewesen? Ach, egal. Solange er seinen Zweck erfüllt.
Nur mit Mühe konnte sie die Abteilung für synthetisches Obst durchqueren. Zwischen den ganzen Menschen und Maschinen hatte sie es schwer den Überblick zu behalten. Unter den Einkaufswägen konnte sie ihren nur ausmachen, weil er der einzige noch leere war. Tonnen an Dosennahrung, Haushaltsgeräten, Klamotten, Genussmitteln, Medizin, Haustieren, alles wovon die Vorstellungskraft einem einreden konnte, man könne es an einem verkaufsgeschlossenem Sonntag brauchen, lagerten verteilt in hunderten von Einkaufswägen, die alle durch einen kleinen eingebauten Motor angetrieben auf der eigens für sie angelegten Straße durch den Supermarkt tuckerten. Millionen von Euros, die an einem einzigen Abend durch dieses Geschäft kutschiert wurden. Tausende Produkte, die bis zum Ladenschluss verkauft werden wollten. Massenhaft Möglichkeiten sein Geld an jemand anderes, jemand wichtigeres abzutreten.
Wie Erika so in ihren leeren Einkaufswagen starrte, wuchs in ihr der Wunsch diesen ebenfalls mit irgendwelchem Krempel zu füllen. Mit abkömmlichen Dingen zu beladen, die Max und sie noch nicht besaßen. Als wohlgefällige Konsumentin würde sie diesem Drang nicht standhalten können. Und tatsächlich hatte sich, als sie die Abteilung für Drogerie-bedarf erreichte, bereits einiger Firlefanz in ihrem Wagen angesammelt. Eine Pokalsammlung verschiedener Sportarten, auf welche man seinen Namen eingravieren konnte, eine Packung Haarschneideshampoo (45-50 cm), eine Schachtel Zahnstocher, gefertigt aus dem Elfenbein des Sumatra-Elefanten, ein Strauch synthetische Bananen und eine Tafel Schokolade der Marke Lindt. Die ganzen Waren waren einfach viel zu verlockend, als das Erika sie einfach so rigoros hätte ignorieren können. Doch nun galt es erst einmal zu besorgen, weshalb sie hier war.
Während ihr Finger über die Preisschilder der redundanten Anti-Krebs-Mittel wanderte und ihr Gehirn versuchte einen angemessenen Preis zwischen Wirkungsvoll und Günstig abzuschätzen, näherte sich ihr von hinten eine dunkelhaarige Frau, die zuvor noch in einem Regal der Genussmittelabteilung nach Pillen mit künstlichem Serotonin gesucht hatte. Obwohl sie die Gestalt aus den Augenwinkeln wahrnahm, realisierte sie nicht, dass diese versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Zwischen den Unmengen an gehetzten Gesichtern war es aber auch nahezu unmöglich eines davon herauszukristallisieren. Als die Unbeachtete dann zu guter Letzt Erikas Nachnamen - Mustermann - mit einem betont fragenden Unterton aussprach, drehte sich diese schließlich doch noch verdutzt um. Die dunkelhaarige Frau lächelte als sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber standen. Es war Frau Pendler, eine vertraute Nachbarin, deren Mann Marcus regelmäßig mit ihrem Max auf Obdachlosen Jagt ging, wenn die jährliche Saison erfolgte.
Im Handumdrehen hatte sie Erika bereits in ein inniges Gespräch verwickelt, indem insbesondere die Gründe für deren erneuten Aufbruch zum Edeka debattiert wurden. Auf die Krebserkrankung reagierte Frau Pendler nur mit einem Kopfschütteln. Ihrer Meinung nach war dieser Narr selber Verantwortlich für seine Gesundheit. Wenn er Arznei benötigte, weil er trotz mehrfachen Warnungen so immens viel rauchte, dass er Lungenkrebs bekam, dann wäre es als rechtschaffener Ehemann seine Pflicht, sich diese auch eigenständig zu verschaffen. Obwohl Erika da prinzipiell mit ihr übereinstimmte, sah sie das nicht ganz so eng. Wenn der Lebenspartner nun einmal krank wird, dann muss man sich eben um ihn kümmern. In einer Ehe sollte so etwas doch selbstverständlich sein. Allerdings stimmte es wohl, dass Max seine Erkrankung selber zu verschulden hatte und mit der Schuld theoretisch auch die dazugehörige Verantwortung zu tragen hatte. Doch ihn mit seinem Krebs so vollends alleine zu lassen, ohne die geringste Unterstützung, dazu konnte sie sich nicht überwinden.
Nachdem Frau Pendler ihr zu guter Letzt noch eindringlich Pharmazeutika der Marke 'Krebskiller' empfohlen hatte, bevor sie wieder geifernd in den Gängen für Genussmittel verschwunden war, hatte Erikas Suche nach einem Anti-Krebs-Mittel ein abruptes Ende gefunden. Aus der Gewissheit heraus, dass sie den vielseitigen Angeboten nicht würde standhalten können, steuerte sie von der Drogerie Abteilung aus den direktesten Weg zu einer der automatisierten Kassen an. Dort angekommen, hatten sich bereits ein Tennisschläger Set und ein Tennis Trainingsroboter zu den Pokalen und dem anderen Kram in ihren Einkaufswagen gesellt. Als Rechtfertigung sagte sie sich, dass man immer offen für alles Neue sein sollte.
Nach einer geschlagenen halben Stunde in der Warteschlange, war es endlich ihr Zug. Sie schob ihren Wagen durch den ersten Detektor, der diesen in Sekundenschnelle Scannte, um den Wert ihres Einkaufs zu ermitteln. Danach folgte der Zweite, der als Tor fungierte und den Durchgang erst freigab, wenn die Summierung aus Detektor eins beglichen wurde. Erika tat dies und durfte mit ihren Gütern transitieren.
Wieder auf dem Parkplatz angekommen musste sie erst einmal tief Luft holen. Kam ihr das diesmal nur so vor oder war es tatsächlich noch voller gewesen als es um diese Uhrzeit üblich sein müsste? Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, da sie durch ein Jahr frühzeitiges einkaufen diesbezüglich etwas verhätschelt war. Dennoch hatte sie sich jetzt eindeutig eine kleine Verschnaufpause verdient. Ironischerweise empfand sie nun, nach dem überaus stressigen Erwerb einer Packung 'Krebskiller – Bronchie Fit', das Verlangen sich eine von Max Schachteln anzustecken, von denen immer noch ein paar Stangen auf dem Rücksitz ihres Monstertrucks lagerten.
Aus dem Handschuhfach holte sich Erika eine Packung Streichhölzer und einen Gaskocher. Eines der Hölzer zischte rasch über die ihm zugehörige Reibfläche, verband den darin befindlichen roten Phosphor mit dem Kaliumchlorat aus dem Streichholzkopf, reagierte beinahe punktuell und gebar eine kleine Flamme. Mit ruhiger Hand führte Erika diese zum Auslassventil ihres Gaskochers. Das Feuer griff in Sekundenschnelle auf das heraus strömende Gas über und versengte ihr beinahe den Pony. Mit einem hektischen Ruck schwang sie ihre Haare hinter die Schultern und steckte sich eine Schachtel Lucky Strike in den Mund. Mit der lodernden Flamme des Gaskochers zündete sie die Schachtel an, schloss für einen kurzen Moment die Augen und inhalierte tief.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Frau Pendler, die gerade die Filiale verlassen hatte und über den Parkplatz zu ihrem rosafarbenen Truck schlenderte. Hinter ihr folgte ein muskulöser Edeka-Mitarbeiter, der ihr half zwei Stromaggregate vom Eingang bis in ihr Gefährt zu verfrachten. Da so ein Vorhaben meistens einige Minuten in Anspruch nahm, winkte Erika ihrer Nachbarin zu und gestikulierte, dass diese zu ihr herüber kommen solle. Die gesellige Frau Pendler war sofort zur Stelle und hatte auch gleich ein Gesprächsthema parat. Erika hatte eigentlich ihre Problematik mit Max vertiefen wollen, allerdings wurde sie nun bereits unaufhörlich mit den neuesten Errungenschaften der junior Pendlers bombardiert. Unter anderem weltbewegende Ereignisse, wie Patrick Pendlers erste Kackwurst ins Klo für Große oder Patricia Pendlers Halbjahresdurchschnitt in der zweiten Klasse, eine zwei plus.
Nach der Bekanntmachung weiterer ähnlich fundamentaler Geschehnisse, fragte Frau Pendler dann schließlich, wie es bei Erika und Max mit Nachwuchs aussehe, ob sie da denn schon irgendeine Vorstellung diesbezüglich hätten und tatsächlich, die hatten die beiden sogar. Bereits für die nächste Woche hatten sie sich einen Ausflug zu 'Kids & more' vorgenommen, um sich einen detaillierten Überblick über den aktuellen Bestand zu verschaffen. Im Idealfall wollten sie einen kräftigen rothaarigen Jungen und ein nur wenige Jahre jüngeres asiatisches Mädchen. Dummerweise waren die asiatischen Exemplare immer ziemlich schnell vergriffen, sodass sie sich als Sekundärplan auch mit einem skandinavischen Model zufrieden geben würden, sofern dessen natürliche Haarfarbe blond oder ebenfalls rot war.
Ihr Gespräch wurde von dem fleißigen Angestellten unterbrochen, der Frau Pendler zurief, dass alles sicher im Truck verstaut sei und ihnen noch eine angenehme Heimfahrt wünschte. Frau Pendler, die sich gerade ebenfalls eine Schachtel anstecken wollte, steckte diese rasch wieder weg, da sie es, wie sie sagte, sehr eilig habe nach Hause zu kommen, um das Abendessen für ihre Familie aufzuwärmen. Stattdessen begnügte sie sich nun mit einem tiefen Atemzug aus dem Auspuff von Erikas noch immer laufendem Truck. Im Anschluss umarmten sich die Frauen noch zum Abschied und stiegen dann beide in ihr jeweiliges Fahrerhäuschen.
Auf dem Nachhauseweg durchlief Erika in ihrem Schädel noch einmal die ganze Geschichte mit dem Krebs. Dabei stellte sie fest, dass sie ihrer bisherigen Meinung eigentlich gar nichts mehr zuzufügen hatte. Es war dumm von Max, sich durch eine tödliche Krankheit nicht eines besseres belehren zu lassen. Auf jeden Fall würden ihr solche Probleme künftig kein Kopfzerbrechen mehr bereiten. Sie würde ihm einfach weiterhin seine Stangen und bei bedarf auch sein Anti-Krebs-Mittel besorgen. Es lag nun einmal grundsätzlich in seiner Verantwortung, wie er seine Gesundheit zu handhaben pflegte. Außerdem war sie mittlerweile dermaßen ungeduldig darauf, die neuen Tennisutensilien auszuprobieren, dass sie vor lauter Vorfreude alle anderen Gefühle verdrängte. Da Max bereits zu Mittag gegessen hatte, während sie seinetwegen ein zweites gottverdammtes Mal an ein und demselben Tag zum Edeka aufbrechen musste, hatte sie für heute keine weiteren Verpflichtungen mehr übrig und konnte sich hoffentlich direkt nach der Ankunft ihrem neuen Hobby widmen. Das wird ein Spaß!
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Jakob Kappert).
Der Beitrag wurde von Jakob Kappert auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2015.
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