Marion Metz

Der letzte Gruß



Christa war ein faszinierender Mensch und schon früh erkannte sie ihre Berufung. Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Sie wollte etwas von dem Glück, das ihr im Leben widerfuhr zurückgeben und wurde ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Christa begleitete immer nur einen Menschen, dem sie all ihre Achtsamkeit und Liebe auf seinem Weg angedeihen ließ. Nun war es wieder soweit. Die Tochter der alten „Mutterl“ rief sie abends um zehn Uhr an und bat um ihr Kommen.
Sofort machte sich Christa auf den Weg und war eine viertel Stunde später an dem Ort ihrer Bestimmung. Es war ein altes Bauernhaus, in das sie eintrat und schon sehnlich erwartet wurde.
‚Mutterl‘, lag in ihrem Bett, dessen Kopfteil mit geschnitzten, Trompeten spielenden Putten verziert war. Ein Lächeln huschte über Christas Gesicht und ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihr aus.
 ‚Ihr seid auch schon da!‘, dachte sie still bei sich und wie Gott zum Gruße erfasste augenblicklich ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit ihren gesamten Körper.
„Alles ist gut! Die Helfer sind schon da!“, sagte sie zur Tochter und strich ihr sanft über den Rücken.
„Welche Helfer?“, fragte diese verwirrt.
„Die Engel“, erklärte Christa voller Gewissheit.
„Oh“, meinte die Tochter schwach und klammerte sich an den tröstenden Gedanken, dass für ‚Mutterl‘ offenbar gut gesorgt ist.
Es waren fünf Menschen im Raum. Die neunzigjährige Mutterl, ihre Tochter, deren Mann, die dreißigjährige Enkelin und Christa.
Christa begrüßte alle Anwesenden mit einer sanften Umarmung, ging zum Bett von Mutterl, die nicht mehr ansprechbar war, nahm ihre Hand und ermunterte die Tochter, die andere Hand zu nehmen. Sie nahm bequem Platz, kam vollständig in diesem Raum an und begann, ihren Blick ganz weich und empfänglich zu machen. Christa nahm verschiedenfarbene, lichte Gestalten um die Anwesenden wahr. Der ganze Raum war erfüllt mit heilsamer Energie.
‚Alles ist gut!‘, beruhigte sie sich selbst mit dem Gedanken. Denn obwohl Mutterl schon ihre zwölfte Begleitung war, so war es doch jedes Mal eine erneute Herausforderung für ihr Gemüt. Insgeheim verglich sich Christa mit einer Hebamme. Beide bangten darum, dass das ihnen anvertraute Kind heil und ganz in die Welt geboren wird und keinen Schaden dabei nimmt. Für sie war der Tod eine erneute Geburt in das Licht. Zumeist war es die Angst vor dem Tod, die den Akt des Todes oft erschwerte und ihn hinauszögerte. Er war der größte Akt des Loslassens und der Veränderung, die jede Seele zu meistern hatte, denn es gab kein Zurück in dieses Leben.
„Wann hast du es bemerkt?“, fragte Christa die Tochter und studierte das eingefallene, blass-gelbe Gesicht von Mutterl. Ihrer Erfahrung nach ging die Seele in drei Schichten. Als Erstes lösten sich die feinsten und hoch schwingendsten Teile der Seele. Es waren diejenigen Teile, die der Mensch erst mit einem gewissen Alter entwickelt und integriert. Es waren die Lebensweisheit und die entsprechende Portion Gelassenheit, die einen gereiften Menschen ausmachten. Die ‚Vorhut‘ ging als erstes in lichtere Gefilde. Sie brachte den Schatz an Lebenserfahrungen, und all das, was dieser Mensch über sich selbst herausgefunden hatte in Sicherheit. Ging die Vorhut der Seele, begann der Körper merklich zu zerfallen. Innerhalb von wenigen Stunden fiel er in sich zusammen und bekam eine käsig-gelbe Gesichtsfarbe. Die Atmung wurde flacher und er fiel in die Bewusstlosigkeit.
„Vor zwei Stunden wurde sie bewusstlos und sieh nur, wie sie aussieht! Ganz zusammengefallen!“, schneuzte die Tochter.
„Ja, das ist normal, die ersten Teile der Seele sind schon gegangen. Streichle sie einfach weiter und sage dir immer wieder leise: ‚Danke Mutterl, danke für alles. Ich lasse dich jetzt gehen.‘ Dadurch erleichterst du ihr das gehen“, erklärte Christa sanft.
Die Tochter weinte auf, doch nahm sie tapfer die Hand ihrer Mutter und begann sie langsam zu streicheln. Tränen flossen reichlich und das war gut so. Der Schmerz brauchte eine Möglichkeit, um sich seinen Weg zu bahnen.
Nach einiger Zeit begann Mutterl beängstigend zu atmen.
Genau in diesem Augenblick wurde Christa gewahr, dass der Hauptteil der Seele gerade den Körper verließ. Mit nichts war dieses Gefühl vergleichbar. Es war das Eintauchen in die absolute Freiheit und den allumfassenden Frieden. Christa nannte dieses Stadium des Sterbens den „himmlischen Orgasmus“. Es war eine einzigartige, wundervolle Befreiung von Energien und der gesamte Raum war durchdrungen von Freude, Liebe und Geborgenheit. Tränen liefen ihr die Wangen herab, allerdings nicht die Tränen der Trauer, sondern Tränen der Freude, Liebe und des Glücks. Christa fühlte mit jeder Faser ihres Herzens die bedingungslose Liebe, mit der die Seele empfangen und getröstet wurde.    
Als sich der Hauptteil der Seele löste, wurde der Körper lediglich von der „Nachhut“ am letzten, seidenen Faden des Lebens erhalten. In diesen Momenten fiel die Lunge zusammen, der Sterbende begann erbärmlich zu röcheln. Es war vergleichbar mit der Atmung von „Darth Vader“ und hörte sich grauenvoll an. Dieses Geräusch versetzte einen in Angst und Schrecken, denn durch dieses „ziehen“ gewann man den Eindruck, dass der Mensch langsam erstickt. Bis zum Schluss fand immer eine Steigerung des Schreckens statt, denn die Atmung verlangsamt sich zusehends bis auf zwei bis drei Mal in der Minute. Jedes Mal, wenn wieder zwanzig Sekunden verstrichen waren und man den Eindruck gewann, es war der letzte Atemzug, kam noch einer und noch einer. Ein schier nicht enden wollender Alptraum.
„Hat sie Schmerzen?“, fragte die Tochter entsetzt aufgrund des grauenvollen Geräusches.
„Nein. Weder ihr Körper, noch ihre Seele haben Schmerzen. Alles ist gut. Bis zum letzten Atemzug.“
Während man neben dem Bett eines Sterbenden saß und seinen Todeskampf verfolgte, beschlich einen häufig der anklagende Gedanke, weshalb der Kampf so lang und grausam sein musste.
Doch Christa erkannte eine höhere Wahrheit in diesem Kampf.
Der letzte Teil der Seele, die sogenannte „Nachhut“, war auch derjenige Teil der Seele, der am längsten auf Erden weilte. Es war derjenige Teil, der in die Gebärmutter einzog, damit die Befruchtung eines Eies erst stattfinden konnte, die Zellteilung anregte und sich ein neuer Körper für ein einzigartiges Menschenleben bildete. Es war das pure Körperbewusstsein, dass von dem Zeitpunkt der Konzeption an jedes auch noch so kleine Detail des Lebens speicherte. Es war derjenige Teil, der am tiefschwingendsten war und der es erst ermöglichte, dass ein hoher Geist in einen Körper einzog. Dieser Teil ging die ersten Bindungen ein, verspürte die tiefsten Ängste  und hielt den größten Schmerz aus. Aus diesem Grund liebte dieser Teil der Seele den Körper über alle Maßen und veranlasste zum Schluss, aufgrund der durch den Sauerstoffmangel ausgelösten Schnappatmung, dass körpereigene Botenstoffe wie Opiate wirkten und keinerlei Schmerz oder Angst mehr empfunden wurde. So war es nur statthaft, dass sich der mutigste Teil der Seele Zeit nahm um Bindungen zu lösen und sich von dem Körper zu verabschieden.
Christa ließ ihren Blick wieder ganz weich werden und erkannte, dass verschiedenfarbene Fäden, die vom Oberkörper von Mutterl ausgingen nach und nach ganz in sie eingerollt wurden. Es war vergleichbar mit einem Schiff, das verschiedene Anker ausgeworfen hatte um den Stürmen des Lebens besser standhalten zu können. Bindung nach Bindung löste sich die Seele von ihren verschiedenen Beziehungen zu Menschen, Tieren, Orten, Gegenständen und als sich der letzte Faden  wieder in sich selbst zurückgebildet hatte, war es soweit.
Mutterl zog ein letztes Mal auf quälend langsame Weise Luft in ihren Körper und verstarb. Sie atmete die Luft nicht mehr aus, der Atem des Lebens ging nicht mehr in diese Welt sondern in eine andere. Der letzte Teil der Seele schwebte einige Augenblicke über dem Körper, bevor sie von tröstenden und fürsorglichen Energien begleitet, entschwand.  
„Es ist vollbracht. Möge ihre Seele heimgeführt werden in die ewige Liebe und Geborgenheit“, sagte Christa mit brüchiger Stimme. Es war noch so viel Liebe, Frieden und Geborgenheit in dem Raum spürbar, dass es für Christa kaum auszuhalten war.
Eine tiefe Sehnsucht ergriff sie. Die Sehnsucht eines jeden Menschen, bedingungslos geliebt zu werden. Wieder warf Christa ihren stärksten Anker aus und saugte dieses Gefühl, das den Raum beherrschte in sich auf. Sie ankerte in der Gewissheit, dass es Wesen gab, die Christa bedingungslos liebten und die sie in Empfang nahmen, wenn sie ihren Körper abstreifte. Wie als Bestätigung dieses Gedankens ergriff sie augenblicklich ein Gefühl von unermesslich tiefer Liebe und Christa ruhte darin.
Für Christa war es in der Tat keine Sache des Glaubens, sondern aufgrund ihrer Wahrnehmungsfähigkeiten eine Sache des Wissens, dass für jede Seele gesorgt ist.   
Die Tochter begann leise zu weinen, ihr Mann stellte sich tröstend hinter sie und streichelte sanft ihren Rücken. Die Enkelin stellte sich ebenso neben ihre Mutter und küsste ein letztes Mal ihre Oma auf die Stirn. Christa blieb noch geraume Zeit, spendete Trost, liebevolle Worte und die Zuversicht, dass Mutterl den Übergang großartig gemeistert hatte.
Gegen drei Uhr früh fuhr Christa wieder nach Hause und freute sich auf ihren Nachtschlaf. Sie hatte eine Vereinbarung mit den Seelen getroffen, die sie nach Hause begleitete.
Rechtschaffen müde schlief sie sofort ein, als ihr Kopf das Kissen berührte und erwachte gut ausgeruht und erfrischt am nächsten Tag mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen.
Mutterl hatte ihr in dieser Nacht einen letzten Gruß zukommen lassen.
„Sag meiner Familie, dass es mir gut geht!“
 
  
              
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Lilly Nett ist ein überaus durchschnittlicher Mensch und Lichtjahre davon entfernt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Sie fühlt sich zu dick, ihr Mann ist nur die zweite Wahl und grundsätzlich entpuppt sich ihre Supermarktschlange als die längste. Ihr Alltag gleicht der Hölle auf Erden. Lillys Seele schickt ihr beständig Zeichen, doch ihr Ego verhindert vehement, dass Lilly Kontakt zu ihrem inneren Licht findet. Bis ein einschneidendes Erlebnis den Wandel herbeiführt und sie wie Phoenix aus der Asche neu aufersteht: Geliebt, gesehen, vom Leben umarmt.

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