Sven Eisenberger

Fernsehgeschichtliches

Seltsam, dass die erste Generation der „Fernsehkinder“ heute zwar für den Löwenanteil des öffentlich-rechtlichen Gebühreneinkommens aufkommt, aber meiner Einschätzung nach einen weitgehenden Fernsehkonsumverzicht übt, mithin nur sehr selektiv fernsieht. Es sind vielmehr deren Eltern und Großeltern, die den Zustand der selbstinduzierten Demenz durch exzessives „Glotzen“ unaufhaltsam beschleunigen. Neil Postman hat vor drei Jahrzehnten gleich mehrfach an der falschen Tür geklingelt und wartet seitdem nicht unverdient auf Einlass.
Schließlich haben wir trotz der ungezählten Lebensstunden, während derer wir diesem damals schon als augen- und jugendgefährdend apostrophierten Medium ausgesetzt waren, nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, sondern großenteils auch Bildungspatente erworben, deren korrekte Aussprache einem Großteil der Elternschaft bis auf den heutigen Tag Probleme bereitet. Gar nicht auszudenken, welche intellektuellen Gipfel viele von uns heute erklommen hätten, wenn wir der vermeintlichen ´Verdummungsmaschine´ frühzeitig entronnen wären.

Meine Eltern hatten zwar stets vier Augen darauf, dass wir nur zu bestimmten Zeiten vor der „Flimmerkiste“ saßen, aber der erhobene Zeigefinger des besorgten Erziehungsberechtigten blieb weithin unsichtbar, zumal sie die Allgegenwart eines Vaters erfordert hätte. Der trat jedoch stets erst in den Abendstunden als temporäres Familienmitglied in Erscheinung, bevor er dann irgendwann gänzlich verschwand. Vielleicht haben wir in unserer Familie damals sogar viel zu wenig Fernsehen geschaut, denn ich möchte behaupten, dass die gemeinschaftsstiftende Kraft dieses Medium andernorts so manchen Familienkrieg, Ehekrach oder gar manche Scheidung verhindert hat. Rückblickend betrachtet, würde ich sagen, dass das elektronische Lagerfeuer als rituelle Fernsehsitzung in unserem Haushalt zu selten stattfand, obwohl es gelegentlich hell loderte. Die „Hitparade“ am frühen Samstagabend war so ein fester Lokaltermin, an dem wir uns alle im Wohnzimmer einfanden, um uns gemeinsam über die größtenteils armseligen, aber in ihrer Erbärmlichkeit höchst unterhaltsamen Darbietungen zu amüsieren. Meine Eltern waren weder Hippies noch ´echte 68er´ oder Leute, denen man sicheres ästhetisches Urteilsvermögen, vielleicht gar ein musikalisches „Gehör“ attestieren mochte, aber sie besaßen immerhin eine deutliche Distanz zu allen Spielarten mattscheibentauglicher Volksmusik. Gegen den einen oder anderen „Hit“ von Les Humphries, so hießen sie glaube ich, waren zwar auch sie nicht gefeit, doch dem auswärtigen Betrachter hätte sich des frühen Samstagabends vermutlich eher der Eindruck eines Heck-gesteuerten Comedy-Programms aufgedrängt, das es in meiner medialen Erinnerung in den frühen 1970er Jahren noch nicht gab. Die Darbietungen der Sangeskünstler im Halbplayback sorgten für ein Crescendo familiär geteilter Lachsalven.
Auch der so seltenen Zweisamkeit von Vater und Sohn vermochte die „Flimmerkiste“ gelegentlich Impulse zu verleihen: meine kleinen „Sternstunden der Mannheit“, wenn man so will. Von höllischem Wachstumsschmerz in den Kniegelenken geplagt, erwachte ich häufiger nachts und schlich mich jammernd an die Schiebetür des von gedämpften Fernsehstimmen angenehm belebten und wechselnden Lichtreflektionen sanft beleuchteten Wohnzimmers. Nicht selten in Begleitung eines gut gefüllten Whiskyglases saß mein Vater oft bis spät in die Nacht an geheimnisvollen Auftragskalkulationen oder neuen Konzepten, um seinen Plan, sich mit dem 50.Lebensjahr aus dem Erwerbsleben zu verabschieden, verwirklichen zu können (was ihm selbstverständlich nicht gelang). Jedes Mal, wenn er mich erblickte, nahm er mich nach dem vergeblichen Versuch einer unmittelbar zu befolgenden Kinderbettverschickung auf seinen Schoß und rieb mir mit bratpfannengroßen, warmen Händen solange die Knie, bis der Schmerz nachließ. Auf diese Weise wurde ich frühzeitig in die Männerwelt des amerikanischen Westerns eingeführt, der im deutschen Zweikanalfernsehen jedoch überwiegend nur durch Viehtreiberepen und Gunman-Balladen repräsentiert wurde, die mich alsbald gelangweilt zurückließen. Immerhin erlaubte es mir diese Kontrastfolie das Genre des ungleich interessanteren Indianerfilms zu definieren, lange bevor ich darüber Essays zu lesen begann. Ein Schlüssel(loch)film war der Schwarze Falke, den ich – passend zum Ausgangsplot – aus meinem nächtlichen Versteck durch den Spalt der wohnzimmerlichen Schiebetür miterlebte. Kindliches Cineastentum konnte sich nur entfalten, wenn man bereit war, Risiken auf sich zu nehmen.
Eine kaum für möglich gehaltene Steigerungsform waren mitternächtliche Boxkämpfe von Cassius Clay, wie er damals noch hieß, und ich hatte das Glück, in Gestalt eines ehemaligen Amateurboxers, der zufälligerweise mit meinem Vater denselben massigen Körper teilte, einen fachkundigen Co-Kommentator zur Seite zu haben. Die Faszination ging aber nie so weit, dass ich den Drang verspürte, mich selbst einmal in den Ring zu begeben. Ich wusste fortan jedoch, dass Männer Whisky trinken, gelegentlich auch viel rauchen, Westernfilme lieben und sachkundige Boxfans sind. Nimmt man letzteres aus und ersetzt die Kategorie ´Western´ durch die differentia specifica – ein Wort das ich damals natürlich noch nicht kannte – John Ford, dann habe ich etwa drei Jahrzehnte dafür benötigt, ein Mann zu werden. Oder anders formuliert: ich fühle mich heute ähnlich antiquiert wie ein Rollenschema aus den frühen 1970er Jahren.
Eine gänzlich andere Umgangsweise mit dem sittengefährdenden Medium „Fernsehen“ lernte ich kennen, als wir eine durch die mütterlicherseits vorgegebene Verwandtschaftslinie verbundene Familie besuchten. Das Familienoberhaupt, seines Zeichens Oberstudienrat, achtete stets penibel darauf, dass seine drei Söhne dem einzigen, im Besitz seiner im Dachgeschoss untergebrachten Schwiegermutter befindlichen Fernsehgerät im Hause weitestmöglich fernblieben. Allenfalls des Sonntags fand man sich frohlockend, fast triumphierend bei Oma ein, um der nächsten Folge einer Serie beizuwohnen, die mir bis dahin gänzlich unbekannt geblieben war, mir von meinen Cousins aber unter dem verheißungsvollen Namen Raumpatroille dargeboten wurde. Ungleich größer als die kurz zuvor eingestandene Peinlichkeit, jenes ´Highlight´ deutscher Fernsehgeschichte nicht zu kennen, war nun mein Entsetzen darüber, dass hochintelligente Jungs, die nur wenig älter und in einem Fall kaum jünger waren als ich, diesem urzeitlichen TV-Event tatsächlich entgegenfiebern konnten. Ostwestfalen. Unendliche Weiten. Wir schrieben das Jahr 1975…, und ich konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich wie hypnotisiert auf diesen Schwarz-Weiß-Bildschirm starrten. Nichts gegen Raumschiff Orion, aber Wolfgang Völz war eben einfach kein Captain Kirk, sondern zeitlebens für mich nur der Diener in Graf Yoster. Mir als bekennendem Enterprise-Groupie und Time Tunnel-Follower erschien dieses 60er Jahre-Produkt des deutschen Fernsehens wie die ´Augsburger Puppenkiste´. Die war grandios, keine Frage, weil wir Kinder wussten, dass es ein Puppenspiel sein sollte. Aber diese billige Pappmaché-Kulisse eines Raumschiffs, bevölkert von gutgenährten deutschen Mimen, konnte man doch nicht ernsthaft als ´Hip´ bezeichnen. Gut, dachte ich, wer nichts anderes kennt, für den ist auch Flipper ein ´Blockbuster´. Auf dem Heimweg in den ´Wilden Westen´ der Republik sann ich darüber nach, ob man im beschaulichen Osten Westfalens entweder bereits auf einem höheren Reflexionsniveau Fernsehen ´guckte´, welches einer Durchschnittsexistenz wie mir noch unerreichbar war, oder ob das Erlebte nicht doch traurige Folge einer kulturellen ´containment´-Strategie war, mit der man den ideologischen Gegner „Fernsehen“ über kurz oder lang zur Strecke zu bringen hoffte. Zumindest in einem Fall war des Philologen streng observiertes Verbot bewegter Bilder durchaus erfolgreich, denn der mittlere Sohn wurde später ein vielgelobter Literaturpreisträger.
Ob er wohl noch gelegentlich von der drallen Tamara Jagellovsk träumt?

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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