Als Liesa das Sprechzimmer betrat, kam ihr Dr. Martin mit ausgestreckter Hand entgegen. Sein Händedruck war fest. Er drehte sich zur Seite und legte seinen linken Arm um Liesas Schulter und führte sie zum braunen Ledersessel, der vor den Schreibtisch stand.
«Nimm Platz mein Kind!», sagte er mit väterlicher Stimme. Er kannte Liesa schon, als sie noch ein Kind war. Liesa ließ sich in den Ledersessel fallen und legte ihre feuchten Hände auf die kühlen Lehnen des Sessels. Dr. Martin war ans Fenster getreten und schaute eine Weile in den Garten. Er hatte beide Arme auf den Rücken gelegt, wippte auf den Zehenspitzen auf und ab. Dann drehte er sich ruckartig um, trat an den Schreibtisch und setzte sich. Eine Weile schaute er in Liesas Krankenakte. Er hob langsam den Kopf und schaute Liesa lange an. Sein sonst so freundliches Gesicht war Ernst, als er mit ruhiger Stimme sagte: «Der Test ist positiv ausgefallen!» Dieses Ergebnis hatte Liesa nicht erwartet.
Liesa schaute ihn ruhig an, «und es gibt keinen Zweifel?»
«Nein, der Befund ist eindeutig. Es gibt keinen Zweifel, du hast dich infiziert, du bist HIV-positiv»!
Liesa senkte den Blick und starrte auf ihre Tasche, die auf ihrem Schoß lag, wie abgewetzt die Tasche war. Das vergoldete Schloss hatte seinen Glanz verloren. Es war vom langen Gebrauch silbrig und zerkratzt.
Ich werde mir eine Neue kaufen, dachte Liesa und wunderte sich über sich selbst, dass sie in einer solchen Situation an solch banale Dinge denken konnte.
Liesa erhob sich, reichte Dr. Martin die Hand. Er ergriff ihre Hand und geleitete sie zu Tür.
«Lebe wohl und alles Gute!
«Wenn du Rat brauchst, komm vorbei»!
«Versprochen?»
Liesa nickte stumm und schloss hinter sich die Tür.
Als sie auf die Straße trat, schloss sie für einen Augenblick die Augen, das gleißende Sonnenlicht machte sie fast blind. Sie holte ihre Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Mit langsamen Schritten ging sie die Straße entlang. Vorbei an Geschäften und eiligen Menschen. Vor einem Eiskaffee plärrte ein Kind, es möchte wohl ein Eis, aber die Mutter war dagegen.
Ein kaltes Eis wäre nicht schlecht in dieser Hitze, dachte Liesa, doch sie ging achtlos am Eiskaffee vorüber. Sie spürte, wie ihr die Sonne in den Nacken brannte. Sie hatte Durst aber sie ging an allen Kaffees vorüber.
Nach Hause, nur nach Hause, dachte sie. Erst in Ruhe über alles nachdenken. (…)
*
Der Himmel hatte sich bezogen, es fing leise zu regnen an. Die unerträgliche Hitze der vergangenen Tage schien vorüber. Die hohen Temperaturen der letzten Tage hatten das Kopfsteinpflaster derart aufgeheizt, dass, die feinen Regentropfen verdampften. Zarte, weiße Nebelschleier hatten sich gebildet und schwebten über den großen Hofplatz. Reglos standen die alten Eichen da. Kein Windhauch rührte ihre breit ausladenden Zweige. Es war still auf dem Gehöft, nur von den nahen Wiesen war das Brüllen des Viehs zu hören. Auch sie, schienen den lang ersehnten Regen zu begrüßen, der Abkühlung und Feuchte für das ausgedörrte Land brachte.
Liesa saß am weit geöffneten Fenster des weißen Pavillons. Sie hatte die Arme auf die Fensterbank und den Kopf auf ihre Arme gelegt und schaute mit ausdrucklosen Augen auf die herrlich blühenden Wildrosen. Der Regen hatte die großen, weißen Dolden des Flieders schwer gemacht. Sie schienen sich vor Liesa zu verneigen. Doch sie sah nicht das perlende Nass auf den Blättern und Blumen. Sie sah nicht die tanzenden Nebelschleier, die silbrig über die Wiesen wogten. Roch nicht den betäubenden Duft der Blumen, der vom Garten bis in den Pavillons drang. Sie hörte nicht den melodischen Gesang der Amsel, das Gezänk der Spatzen in der Buxbaumhecke. Ihre Gedanken waren weit fort, dorthin, wo die Verzweiflung, das Mysterium des Unbegreiflichen wohnt. Wo Hoffnung und Lebensfreude sich im Dickicht des Schicksals verfangen und grenzenlose Düsternis des Lebens Sinn, in Hoffnungslosigkeit verkehrt.
Nur zwei Worte, aus dem Munde von Dr. Martin hatte ihrem jungen Leben, eine jähe Wende gegeben: HIV- positiv! Auf jedem Blatt des Flieders glänzten unheilvoll diese zwei Worte. Lisa schloss für einen Augenblick die Augen. Doch wenn sie, die Augen wieder öffnete, war alles wie vorher. Im leisen Summen des Regens hörte sie die unheilvollen Worte: HIV-positiv! HIV-positiv! Sie presste die Hände gegen die Ohren, aber es half alles nichts. Unauslöschlich hatten sich die beiden Worte in ihre Seele gebrannt. Sie erhob sich und ging mit langsamen Schritten zum Tisch und setzte sich. Vor ihr lag das scharlachrote Tagebuch, ein Geschenk ihrer Großmutter zur Konfirmation. Sie schlug es auf und lass den letzten Eintrag.
Der Frühling kommt. Er ist ganz nah! Sie überschlug eine Seite und schrieb mit dem Füllfederhalter, in großen Lettern: Den Tod will ich besiegen! Ich habe ihn nicht gerufen!
«Starke Worte», dachte sie? Kampf gegen Krankheit und Tod?
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie lehnte sich zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Eine Weile verharrte sie still, dann ergriff sie erneut das Schreibgerät und schrieb mit leisem Schluchzen in ihr Tagebuch:
«Siehe! Sieh´ doch!»
Die Zeit neigt sich dem Ende;
Und zwischen Sein und Tod
Schleicht sich das jähe Dunkel, -
Dass wir das Sterben nennen.
Zu sterben, - am Ende der Zeit,
So wie es unser aller Schicksale ist,
Ich wollte es tapfer ertragen.
Meinen frühen Tod hat die Liebe gezeugt.
Die Liebe, dass neues Leben schaffen soll, -
Gebar mir meinen eignen Tod! (…)
*
Liesas Lebens Philosophie
«Liesa, du hast alle Vorsichtsmaßnahmen, die dich, vor der Infektionskrankheit «Aids», hätten, schützen, können, außer Acht gelassen. Nun bist du «HIV positiv!», hast du keine Angst,- die Krankheit könnte ausbrechen? Was ja deinen Tod bedeuten würde!», fragte ich mit ruhiger Stimme.
Liesa senkte den Blick und zog die Augenbrauen nach oben.
«Alles Leben auf dieser Erde muss sterben, der Eine früher der Andere Später!»
Sie hielt inne und schaute mich an. Ein kurzes, erfrorenes Lächeln spielte um ihren Mund. Ihre Augen blickten über alle Maßen ernst. Mit leiser, fast trotziger Stimme fuhr sie fort, « der Tod ist unvermeidbar!»
«Warum sollte ich zu Lebzeiten an das Unvermeidliche denken?»
«Tod, - was ist er schon!»
«Mit der Geburt eines Menschen Kindes, mit der Geburt eines Wesens, egal, ob Mensch, Tier oder Pflanze, Pilze, Mikrobe, mit der Geburt wird zugleich der Tod für jedes Wesen mitgeboren! Es gibt nicht «denn» Tod schlechthin, es gibt so viele Tode, wie es Lebewesen auf dieser Erde gibt! Wie gesagt, - alles Leben ist dem Tod anheimgegeben. Ja, selbst die Erde, die Planeten, der Mond und die Sonne und die Sterne werden eines Tages aufhören zu existieren, ihr Licht wird erlöschen. Nur die Dunkelheit wird bleiben, - die schwarze Finsternis, in der alles, «Sein» Hineinfallen und verschlungen wird. Die Materie wird sich auflösen in «Mega Quarks und wird sich in der Unendlichkeit des Alls verteilen auf – 1000-100 km3, wird vielleicht – 1 Mega – Mega Quarks sein,- ein «Nichts!»
Liesa hielt inne, alle Mattheit, alle Müdigkeit schien aus ihrem Körper, gewichen zu sein. Ihre dunklen Augen, sprühten förmlich vor Eifer, als sie mit fester Stimme fortfuhr, «nicht der Tod an sich, wohl aber die Märchen, - die bildhaften Darstellungen des Todes, sind es, die uns Angst machen. Der graue Sensenmann mit dem Schlapphut und den Totenschädel darunter. Der mit knöchernen Fingern, nächstens an die Haustüre klopft, um die Großmutter holen kommt. Die Kinder sich vor Angst, die Bettdecken über die Köpfe ziehen.»
«Nein, der Tod hat nichts Schreckliches. Er gehört zum Leben und sollte ein Teil unseres Lebens sein!»
«Der Tod ist wie das Radiergummi, er löscht das Geschriebene auf das weiße Papier. Irgendwann wird es neu beschrieben werden,- besser und bedeutungsvoller, als ich es getan habe.»
«Auch mein, ´Kategorisches Imperativ´!», sie lächelte verschmitzt.
«Wie lautet dein «Kategorisches Imperativ?», dass ich eigentlich nur von Emanuel Kant kenne?», fragte ich!
«Solange man sich nicht als den erkennt, der man ist,
Bleibt man der, der man ist: Ein - sich - selbst - Unentdeckter,
Eben, weil man das Ist, des Ichs, nicht kennt. Die Erkenntnis,
des Ist, des Ichs, ist der Anfang, allen sich Besserns!
*
«Stirb der Tod, was wird uns bleiben?
Ein Leben in der «Unnatur»,
in der zu leben, sich nicht lohnt!»
*
«Es gibt Andere, die können es besser. Sie sind die glücklicheren im Leben, man könnte auch sagen, sie sind die vom Leben, von den Schicksalen begünstigten. Sie schreiben mit lockerer Hand und was sie in ihr Lebensbuch schreiben, ist gut, wenngleich auch das nicht von Dauer sein wird, - auch das wird der Tod wegradieren. Übrig bleiben, wird allein das weiße Papier!»
Liesa schwieg.
Sie blies mit einen lauten zischen, die Atemluft durch die geschlossenen Lippen. Liesa hatte ihre Arme nach hinten gestellt und den Kopf in den Nacken fallen lassen. Ihre Augen waren geschlossen. Die Blässe ihres Gesichts wurde durch die dunklen Schatten unter ihren Augen und dem Schwarzen Haar unnatürlich verstärkt und verlieh dem jungen Gesicht, etwas Greisenhaftes. Eine Weile des Schweigens war verstrichen. Es wurde zunehmend dunkler. Ein kühler Wind Strich wohltuend durch die Baumgruppe und vertrieb die Hitze des Tages.
«Was glaubst du Liesa, ist das weiße Papier?», fragte ich mit ruhiger Stimme.
Liesa öffnete die Augen und sah mich lächelnd an.
«Die Seele, Gott?», sagte sie mit leiser Stimme.
Sie hielt inne und schüttelte mit einer heftigen Kopfbewegung ihr langes Haar nach hinten.
Schweigen!
Liesa fingerte mit der Rechten eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Nahm einen tiefen Zug und blies der Rauch durch die Nase wieder aus. Sie seufzte tief. Ihre Augen hatten allen Glanz verloren und blickten, wie teilnahmslos vor sich hin. Ein verlorenes Menschenkind, in dem Schicksal düsteren Weiten saß mir gegenüber. Ihre sonst so vollen Lippen, zu einem schmalen Strich zusammengepresst, zitterten unentwegt, auf und ab. Mir schien, - als seien alle ihre Phrasen, über das Leben, dem Tod, dem Schicksal, die sie wie die Rinde eines Baumes, schützend um ihre eignen «Ich» aufgebaut hatte, - von ihr abgefallen. Entblößt lagen ihre Gefühle, ihr unendliches Leid, ihre schier unerträgliche Angst vor der Zukunft vor mir. Mitleid kroch in mein Herz und nahm mir alle Objektivität, mein Abstand zu Liesa wurde Zusehens geringer. Ich verabschiedete mich von Liesa und bat um einen neuen Treff! (…)
Liesas Monolog
«Ach mein Freund, - ich habe dich geliebt! In deinen Armen, die so stark, fand mir meine Sehnsucht wieder. Deine Zärtlichkeit lies mich vergessen, das Leid der Jahre! Dein warmer Kuss, auf meinen Mund brachte mir den Himmel nahe. Deine Liebesschwüre waren mir Gewissheit genug, - zu glauben, was ich mir ersehnte: Glück, ist doch des Menschen streben?
Unsere Zukunft war geplant, im Rausche der Glückseligkeit. Die Sehnsucht offenbarte das volle Leben, gepaart mit Kinderglück. Ich habe dich geliebt mein Freund! Obgleich ich lebe, trage ich den Tod in mir! Der Tod wird beenden,- was am Glück ich mir erhoffte!»
Diesen Treff - konnte ich nicht nachkommen, da ich für ein Jahr nach Frankreich zog!
*
Liesas Geschichte spielte in jener Zeit, (1977/1980) als eine Diagnose AIDS/HIV, noch einem Todesurteil gleichkam. Zwei Jahre nach der schlimmen Diagnose,- starb Liesa durch einen Reitunfall.
(01.10.2015)
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2015.
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