Nicolai Rosemann

Icheb, der Reisende

Icheb, der Reisende

Ein alter Wanderer zog über die Dünen. Das Himmelszelt über ihm erhellte die Welt mit einem beruhigenden, silbernen Licht. Der Mond war voll.
Der Wanderer erreicht eine Stadt. Verlassen liegen die Häuser vor ihm. Die Menschen hatten nur mitgenommen, was sie tragen konnten. Den Rest hatten sie den Plünderern überlassen müssen.

Seit Jahren zogen diese Gruppen über die Lande und plünderten alles – Städte, Dörfer und Fahrzeuge. Manchmal hatten sie Glück und konnten eine der Festungen plündern, in die sich alle Flüchtlinge zurückziehen konnten.

Der Wanderer geht am Wrack eines Panzers vorbei. Er rostet bereits. Der Rost ist im silbernen Licht des Mondes und der Sterne gut zu erkennen. Welch Verschwendung von Material und Zeit.

Es ist Mitternacht als er die Festung erreicht. Er hatte sie bereits im Morgengrauen gesehen, aber es war ein langer Weg geworden. Die Sonne hatte den Boden erhitzt und die Luft zum Flimmern gebracht. Eigentlich hätte ein Mensch nicht lange überlebt – aber Icheb hatte schnell gelernt zu überleben. Die Zeiten waren schwer.

Icheb schlug mit seinem Wanderstab an die Metalltür der Festung. Ein kleines Sichtfenster öffnete sich und eine Taschenlampe blendete ihn.
„Was willst du hier?“, fragte der Wachmann.
„Ich bitte um ein Lager für die Nacht.“, antwortete Icheb.
„Hast du Geld?“, knurrte der Wachmann.
„Nein. Aber Wissen.“ ,antwortete Icheb.
„Wissen. Mit Wissen kannst du nicht bezahlen. Vielleicht bist du auch ein Plünderer. Verschwinde!“
Icheb nickte kurz: „Heute ist Weihnachten. Es war einmal das Fest der Liebe und der Freundschaft. Aber jetzt begegnet man allen Fremden mit Mißtrauen und Hass. Früher war das anders. Aber wie gesagt – heute ist Weihnachten. Ich habe vielleicht kein Geld um zu bezahlen, aber ein Geschenk. Es ist nicht materiell. Aber ich könnte euch mit einigen Geschichten erfreuen. Ist das ein Handel?“
Der Wachmann knurrte: „Von mir aus. Aber ich hole mir deinen Kopf, wenn du auch nur einen Fehler machst. Verstanden?“
Icheb nickte wieder.

In der Festung lebten insgesamt 1500 Leute, die meisten waren Flüchtlinge. Wie in all den anderen Festen, die Icheb besucht hatte, schliefen die meisten Leute auf der Straße.
Die Wache führte ihn aber in ein Haus, das sich als Herberge entpuppte. Er wies ihm ein Zimmer zu und ließ ihn allein. Vorerst zumindest.
Nach einer Stunde kam er mit einem Mann zurück, der sich als Délany vorstellte. Icheb hatte diesen Namen schon oft gehört. In der Sprache der neuen Stämme bedeutete Délany so viel wie Führer.
Icheb musste ihm einige Dinge vortragen, dann nickte Délany und führte ihn in die Halle im Zentrum der Festung.

Die Halle war sehr groß und bis zum letzten Platz gefüllt. Meterlange Tische und Bänke füllten den Raum aus. Aus Fässern floß genügend Alkohol, um eine ganze Kompanie betrunken zu machen.
Icheb wurde auf ein kleines Podium geführt. Délany schlug mit einem Hammer auf einen Tisch und alles im Raum schien für einen Moment still zu stehen. Dann verstummte jedes Geräusch.
„Das ist Icheb, ein Wanderer. Er entging den Plünderern, mehrfach wie er mir gesagt hat. Vor den schweren Zeiten habe er in einer Stadt auf einer fernen Insel studiert. Er hat vielleicht kein Geld, aber Wissen. Er hat mir gesagt, heute sei ein Tag namens Weihnachten. Unsere Vorväter feierten diesen Tag jedes Jahr, wir haben ihn aber vergessen. Das Vergessen ist unser größter Feind. Deshalb wird Icheb uns jetzt erzählen, wie Weihnachten war. Und ab jetzt werden wir heute nicht mehr nur feiern, weil man eben überall feiert – nein, wir werden wissen, warum man feiert!“, rief er und übergab das Wort an Icheb.

Icheb stand zuerst nur auf dem Podium und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte so viel sagen, hatte aber so wenig Zeit.
Doch dann löste sich seine Zunge und er begann zu sprechen. Er sprach und sprach und die Zeit verging wie im Flug. Erst als der Morgen graute, sank er erschöpft auf seinen Stuhl nieder.
Vieles, was er gesagt hatte war unvollständig, aber seit 42 Jahren hatte er kein Weihnachten gefeiert. 42 lange Jahre. Vor 42 Jahren waren die Sterne vom Himmel gefallen. 42 lange Jahre.



Weihnachten führt normalerweise die Menschen immer zusammen. Selbst im ersten Weltkrieg schwiegen die Waffen für einen Tag und die Feinde setzten sich zusammen um ein Fest zu feiern (und sich am nächsten Tag wieder zu bekämpfen).

Nur hier gingen dieses Fest und die anderen in einem nuklearen Höllenfeuer veloren. Nur noch wenige wissen um diese alten Zeiten und versuchen jetzt dieses Wissen wieder unter die Leute zu bringen.
Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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