Martin Schott

Epilepsie

~~
Ich wurde geweckt. Mein Vater und meine Oma saßen an meinem Bett und in der ganzen Wohnung brannte Licht. Da mein Papa da war, musste es mitten in der Nacht sein, denn er war ja Schichtarbeiter und arbeitete bis elf.
Sie hatten mich  aus dem Tiefschlaf gerissen. Allmählich setzte mein Gehirn ein.
Wo war meine Mama?
Es war eine der Wochen in der ich nicht bei der Oma schlief sondern bei meinen Eltern. Die Mama musste zwar zeitig in der Früh in die Arbeit gehen, doch dafür war der Papa ja daheim. Der schlief wohl immer wenn ich in die Schule ging, aber zur Not hätte ich ihn wecken können.
Es verhieß nichts Gutes, dass die beiden  mit todernsten Gesichtern  an meinem Bett saßen. Was machte die Oma mitten in der Nacht hier?
„Weißt du wo die Mama ist?“, fragte sie mich.
Ich antwortete nicht. Mein Papa und seine Schwiegermutter warfen sich besorgte Blicke zu und seufzten tief.
„Hat sie irgendwas gesagt?“ wollte mein Papa wissen. Ich schüttelte den Kopf.
Langsam verstand ich. Mein Papa hatte mich alleine in der Wohnung gefunden und meine Oma alarmiert. Nur wir konnten nicht viel tun.
„Schlaf weiter, sie kommt schon wieder“, sagten sie zu mir, drehten das Licht im Zimmer ab und zogen sich in die Küche zurück. Ich legte mich immer noch benommen wieder hin, doch ich wurde mit jeder Sekunde munterer.
Ich hörte sie mit gedämpften Stimmen in der Küche reden und lauschte. Ich hörte einzelne Wörter heraus: Polizei, Unfall, Anfall, sich was antun.
Auch ein kleines Kind versteht das. Meine Mama hatte seit sie selbst ein Kind war Epilepsie und deswegen immer wieder Anfälle. Der Beginn solch eines Anfalls war häufig durch Verwirrung gekennzeichnet. Sie redete manchmal völlig wirr daher und später schüttelte es sie am ganzen Körper und die Zähne schlugen  heftig aufeinander. Sie biss sich dabei häufig die Zunge und die Lippen blutig und war nicht ansprechbar. Wenn der Anfall vorbei war, hatte sie stundenlang starke Kopfschmerzen und musste liegen.
War sie in der wirren Phase aus der Wohnung gegangen? Jedenfalls war sie nicht da. Wo sollte man mitten in der Nacht in einer Großstadt wie Wien eine einzelne Person rasch finden?
Ich glitt wieder in einen Dämmerschlaf und später in dieser Nacht erwachte ich erneut durch  Stimmengewirr aus der Küche.
Die Stimme meiner Mutter war darunter.
„Um Himmels Willen! Wo kommst du her? Wo rennst du herum mitten in der Nacht?“ hörte ich meine Oma fragen.
Mein Papa war wie immer sehr ruhig und wartete erst einmal was meine Mutter zu sagen hatte. Doch die wusste gar nichts.
Meine Oma überhäufte sie mit Vorwürfen.
„Das Kind alleine lassen und weg gehen!“ rief sie aufgebracht.
Ich schlich mich aus dem Bett Richtung Küche und versteckte mich hinter der Tür. Mein Papa saß auf die Unterarme gelehnt am Tisch, daneben wie ein Häufchen Elend meine Mama. Die Oma stand davor und fuchtelte mit den Händen.
„Ich weiß gar nicht mehr wie ich da hin gekommen bin“, sagte meine Mama plötzlich nachdenklich.
„Wohin?“
„Zur Reichsbrücke. Ich war spazieren. Dann habe ich ein Taxi genommen und bin wieder heimgefahren“, erklärte sie.
„Du warst bei der Donau!!“ Meine Oma schrie jetzt richtig. „Warum um alles in der Welt? Wie bist du überhaupt hingekommen?“
Aber Mama schüttelte nur den Kopf. Sie wusste es nicht mehr.  Mein Papa schaute nach wie vor sehr ernst die Tischplatte an und bestimmte schließlich: „Jetzt legen wir uns alle am besten nieder und morgen schauen wir weiter.“
Darauf waren alle still. Die Oma packte ihre Tasche und ging in ihre zwei Gassen weiter liegende Wohnung und meine Eltern legten sich zu mir ins Bett. Lange lagen wir still in der finsteren Wohnung und ich hörte auf den Atem meiner Eltern.
Als ich wieder aufwachte hatte mein Papa in der Küche ein Frühstück gemacht. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise schlief er sich von seinem Nachtdienst aus und ich schlürfte den lauwarmen Kakao, den mir meine Mutter auf dem Küchentisch bereitgestellt hatte.
Ich setzte mich in die Küche und begann zu frühstücken. Ich schaute mich um.
„Die Mama ist schon in der Arbeit“, sagte er und strich mir mit seiner dicken, massigen Hand über den Kopf. Ich nickte. Ich war immer ein ganz braves Kind. Die Schultasche stand bereit. Ich zog mich an und verließ die Wohnung. Langsam und übermüdet schlenderte ich durch die Kleine Pfarrgasse und von der nahen Kirche schlugen die Glocken.














 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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